IV - Einen Steinwurf entfernt

Leonas Herz raste, als sie die ausgetretene Zigarette unten am Eingang auf dem Fußabtreter vorfand. Jeder andere hätte einfach verständnislos die Augen verdreht und wäre weitergegangen, aber sie wusste instinktiv, was dieses Ding zu bedeuten hatte. In dem Haus wohnten sechs Parteien, die sich untereinander wirklich gut verstanden. Niemand warf hier Kippen vor die Eingangstür. Mit den letzten Schwaden bläulich–grauen Qualms hauchte die Kippe ihre letzten Züge aus und verbreitete ihren Geruch nach verbranntem Tabak in der Seitengasse zwischen zwei Altbauten mitten im Stadtkern, die selten einmal von ein paar gnädigen Sonnenstrahlen geküsst wurde.

Gehetzt schaute Leona sich um, doch es war niemand zu sehen. Auf einem Balkon im ersten Stock flatterte frisch gewaschene Wäsche im lauen Wind, ansonsten war bis auf die vorbeifahrenden Autos nicht viel zu hören. Jetzt, um die Mittagszeit und dann auch noch unter der Woche, waren die meisten in der Schule, in der Uni, auf der Arbeit.

Auch Leonas Vater. Er wusste über das Schwänzen seiner Tochter Bescheid, wollte sie aber auch nicht dazu zwingen, in die Schule zu gehen. Dass das schon einmal in die Hose gegangen war, hatte ihm gereicht. Vor einem guten Jahr hatte sein Versuch, autoritär aufzutreten, damit geendet, dass Leona übers Wochenende von zu Hause abgehauen war. Und so machte er fortan lieber beide Augen zu, schrieb ab und an eine Entschuldigung, wurde hin und wieder zu einem Elterngespräch geladen und musste sich das eine oder andere Mal erklären.

Sie war ein impulsives Kind, war das schon immer gewesen und sie ließ sich niemals einengen oder einsperren. In die Schule ging sie wohl auch deswegen überhaupt nicht gerne. Sie war nicht wie die anderen, hatte kein Interesse an guten Noten. Wenn sie etwas interessierte, dann steckte sie all ihre Energie hinein. Stochastik interessierte sie, weil sie sich damit die Wahrscheinlichkeit ausrechnen konnte, mit der sie beim Klauen erwischt wurde. Aber sobald der Logarithmus kam, war Leona wieder abwesend.

Gerade hatte sie nur kurz rausgehen wollen, zu der Tankstelle, wo ihre gute Freundin Kathi an der Kasse arbeitete. Die beiden hatten sich in der Schule kennengelernt. Obwohl vier Klassenstufen zwischen ihnen standen und obwohl Kathi schon länger keine Schülerin mehr war, sahen sich die beiden sehr oft. Seitdem Leona eine Bezeichnung im Lateinunterricht, als sie ausnahmsweise anwesend war, aufgeschnappt hatte, nannte sie Kathi gerne ihr Alter Ego.

Und das, obwohl die beiden verschiedener nicht sein konnten. Kathi war eine groß gewachsene und voluminöse Frau mit langen pink gefärbten Haaren und Smokey Eyes in täglich wechselnden Farbkombinationen. Sie lebte mit ihrem zweijährigen Sohn in einer Einzimmerwohnung und bekam trotz Alltagsstress ohne Ende alles irgendwie unter einen Hut. Auch ohne die Unterstützung ihres Lovers, der aus ihrer Tasche lebte. Anders als Leona wurde Kathi von anderen Menschen als Ruhepol empfunden. Sie war ein Fels in der Brandung, an dem man sich festhalten konnte. Allerdings hatte die liebe Riesin einen Hang zur Unzuverlässigkeit. So ruhig und besonnen sie auch war – ihr Gedächtnis stand dem eines Goldfisches in nicht viel nach.

Und nun stand Leona vor der ausgehenden Zigarette und suchte hektisch in ihrer Hosentasche nach dem Haustürschlüssel. Kathi würde warten müssen – drinnen wäre Leona sicherer als draußen. Zwar traute sie ihm wenig zu und erwartete nicht, dass er ihr gegenüber ernsthaft handgreiflich werden würde, aber sie hatte ihn zu oft unterschätzt. Das gestern hatte sie ihm auch nicht zugetraut. So schwer vorhersehbar wie ein Vulkanausbruch war es wohl auch nur eine Frage der Zeit, bis er wirklich mal richtig den Verstand verlieren würde.

„Allein hier?"

Die Stimme hinter ihr ließ sie zusammenzucken. Leona fuhr herum und blickte in ein finsteres Gesicht. Erleichtert ließ sie die Schultern sinken. Es war bloß Tom, der Junge eine Etage über ihr, der etwa ein Jahr jünger war und manchmal im Treppenhaus leise Selbstgespräche führte.

„Ja, wieso? Solltest du nicht in der Schule sein?", gab Leona schnippisch zurück.

„Haha. Dasselbe sollte ich dich fragen. Ich hab wenigstens eine Entschuldigung. Bauchweh. Und was ist deine?"

„Das hab ich auch. Und mir tut die Schulter weh und der Rücken und ..."

Ungeduldig winkte der Junge ab, doch Leona hatte es geschafft, ihm ein ein Grinsen abzuringen. Er hatte seinen Schlüssel an einem förstergrünen Band um den Hals baumeln. Leona fand, dass es irgendwie bescheuert aussah, aber gleichzeitig unglaublich praktisch war. Gerade eben hätte sie so ein Ding wirklich gut gebrauchen können. Tom öffnete die Tür und hielt sie für Leona auf.

„Was für ein Gentleman", kommentierte sie und zwinkerte ihm im Vorbeigehen zu.

„Stets zu Diensten", erwiderte Tom mit einem leichten Lächeln und deutete eine Verbeugung an. Sie gingen die Treppen hoch. Als Leona vor der Tür zu der Wohnung von ihr und ihrem Vater stand, wünschte sie Tom eine gute Besserung und schloss auf. Ein wohliger Duft nach Kräutern und Blumen empfing sie. In der ganzen Wohnung waberten Düfte, die von Lufterfrischern oder Duftstäbchen an die Umgebung ausgesandt wurden. Auf der Kommode im Flur stand ein eingerahmtes Foto, das einen rotgoldenen Sonnenuntergang am Meer zeigte. Ein Paar stand in inniger Zweisamkeit am meeresnassen Sand.

Das Foto war im Bilderrahmen gewesen, als Leonas Papa ihn gekauft hatte. Es war bloß ein visueller Platzhalter, damit man eine Vorstellung davon hatte, wie der eigene Familienschnappschuss oder das süße Katzenfoto oder sonst was darin aussehen würde. Und eigentlich hätte darin auch ein ganz anderes Foto stecken sollen, als das kitschige Abbild von zwei Turteltäubchen, wenn nicht wenige Tage nach der Anschaffung die ganze Welt über Leona und ihrem Vater zusammengekracht wäre.

Aus irgendeinem Grund hatte er, statt den Rahmen in die Verbannung der untersten Schublade zu schicken, einfach auf die Kommode gestellt. Leona hatte eine leise Ahnung, auch wenn ihr Papa es nie direkt ausgesprochen hatte. Er wollte weg von hier. Weg von den ganzen Erinnerungen. Weg aus Völzau, der Großstadt, die das ehemalige Dorfkind Oliver Kellermann verschluckt hatte. Weg von hier und zurück an die Ostsee. Hier fühlte er sich nicht wohl und der einzige Grund, der ihn hierher verschlagen hatte, war – wie so oft – die Liebe gewesen. Wenn Leona könnte, würde sie ihren geliebten Papa so gerne an diesen Ort bringen, den er sich so sehr wünschte. Leona nahm den Blick von dem Foto und ging in die Küche.

Sie wollte gerade den Kühlschrank nach einem Erdbeerjoghurt absuchen, da krachte es und ein harter Gegenstand traf sie am Fuß. Vor Schreck sprang sie zurück, ihr Blick sauste nach rechts. Das Fenster war zersplittert, zerschlagen durch einen faustgroßen Stein, der nun verloren auf dem Linoleum lag. Leonas Herz klopfte wie ein Presslufthammer. Langsam näherte sie sich dem Fenster und schaute hinaus. Niemand war zu sehen. Die Aussage war aber definitiv angekommen. Oh, verdammt ...

Apathisch ließ Leona sich auf die Eckbank sinken und stützte den Kopf auf den Händen ab. Wie sollte sie das kaputte Fenster ihrem Papa erklären? Er würde womöglich die Polizei einschalten und wenn die nachforschen würden, dann käme einiges ans Licht, das niemandem gefallen würde. Ihr Vater wusste, dass Leona die Schule schwänzte, aber es gab so vieles, das er nicht wusste. Der Kerl in der Lederjacke war eines dieser Dinge.

Doch wenn der Typ wohlauf war – wenn es ihm gut genug ging, um Steine durch Küchenfenster zu werfen, dann würde er bestimmt auch Erik aufsuchen. Leona musste ihn warnen! Dummerweise hatte sie seine Adresse nicht. Sie hatte ihm ihre Kontaktdaten gegeben, weil er Angst vor einer Anzeige hatte, aber andersherum hatte sie ihn nicht nach seiner Adresse gefragt. Sie war viel zu enttäuscht darüber gewesen, dass er sie nur deshalb zurückgerufen hatte.

Wie dumm! Hatte Leona sich ernsthaft für die Prinzessin im Märchen gehalten, die der gute Ritter beim Abschied doch nochmal zurückrief, um sie in seine Arme zu schließen und zu küssen? Hatte sie das ernsthaft geglaubt? Nun, da war sie herbe enttäuscht worden. Die Illusion hatte eine kürzere Halbwertszeit gehabt als eine Seifenblase.

Mit wackeligen Beinen stand Leona auf und ging um den Tisch herum zum Fenster, unter dem nun die Scherben lagen. Sie würde sie auffegen und darauf warten, dass ihr Vater von der Arbeit nach Hause käme. Dann würde sie genau das sagen, was sie beobachtet hatte: Ein Stein war durchs Fenster geflogen gekommen. Mehr nicht. Vielleicht würde er es auch einfach gut sein lassen, weil hier in der Großstadt sowieso genug Leute vorbeikamen und man so einen Übeltäter wirklich kaum greifen konnte.

Leona atmete tief ein und aus. Was tun? Sie traute sich im Moment ja nicht einmal vor die Tür. Die Gassen zwischen den ganzen aneinandergereihten Altbauten hier waren verwinkelt genug, dass der Drecksack sich bestens verstecken und ihr auflauern konnte. Außerdem traute sie ihm alles zu. Fast alles. Er war total crazy, wahnsinnig genug, um bei Tageslicht Scheiben einzuwerfen und dabei nicht einmal erwischt zu werden. Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt und gedreht. In einem Anflug absoluter Panik kam Leona der irrationale Gedanke, dass der Kerl sich ihren Wohnungsschlüssel hatte nachmachen lassen. Doch den verwarf sie gleich wieder, als sie den tiefen Bass rufen hörte: „Bist du schon hier, Prinzessin?"

Ihr Herz setzte einen Schlag aus.

„Ja, ich ... bin in der Küche ..."

In der Tür stand der grau melierte Mittvierziger, eine Mischung aus Knuddelbär und Holzfäller mit ganz viel Herz.

„Mäuschen, was ...?"

Über Leonas Schulter hinweg sah er das Fenster und trat eilig in die Küche. Er erinnerte Leona mit seinem behäbigen Gang an die sieben Zwerge. Es fehlte nur noch, dass er fragte, wer von seinem Teller gegessen habe.

„Was ist denn hier passiert?"

„Keine Ahnung, wer das war ... Ich bin gekommen und wollte mir etwas aus dem Kühlschrank nehmen, da ist ein Stein durchs Fenster geflogen. Ich konnte aber niemanden sehen ..."

Besorgt wandte er sich seiner Tochter zu.

„Dir ist aber nichts passiert?"

„Nein."

Das Ziehen in ihrem Knöchel ignorierte Leona. Das würde einen blauen Fleck geben, aber sie wollte ihrem Papa keine unnötigen Sorgen machen. Er würde darauf bestehen, sie zum Arzt zu fahren und das musste jetzt wirklich nicht sein. So schlimm war es nicht. Leonas Vater lief an den Besenschrank und nahm sich den Kehrwisch zur Hand. Wie in Trance beobachtete Leona, wie er die Scherben zusammenfegte. Den Stein nahm er in die Hand und betrachtete ihn mit einer Mischung aus distanziertem Abscheu und tausend Fragezeichen im Gesicht.

„Den Mistkerl werden wir wahrscheinlich nie wieder sehen, nicht? Versunken in der anonymen Masse sowieso nicht ...", brummte er missmutig und legte den Stein auf die Arbeitsplatte neben den Toaster.

„Ja ... Ich habe echt keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte ...", log sie und fühlte sich schlecht, kaum dass sie das letzte Wort ausgesprochen hatte. Natürlich hatte sie eine Ahnung. Es konnte doch nur einer gewesen sein.

„Na, das ist ja eine schöne Überraschung. Ich wollte nur kurz vorbeikommen, weil ich die Rundbürste hier vergessen habe. Ich muss auch direkt wieder los, zurück in den Salon. Um das Fenster kümmere ich mich, wenn ich wieder zuhause bin. Am besten wäre es, wenn du hier bleibst, nicht dass noch jemand die Gelegenheit ergreift, hier einzusteigen ...", überlegte er laut.

„Okay", sagte Leona.

„Oder hast du Angst? Ich bin doch bescheuert! Es ist ein Stein durchs Fenster geflogen und ich will dich hier allein lassen. Soll ich oben klingeln, vielleicht ist Tom schon daheim ...?"

Doch auch die Aussicht darauf, dass ausgerechnet ein schmächtiger Fünfzehnjähriger Leonas Wachhund sein sollte, war nicht sehr berauschend. Außerdem hatte sie keine Angst und konnte auf einen Aufpasser gut und gerne verzichten. Aber sie war ja Papas Prinzessin, der nichts passieren sollte. Ihr Herz tat weh, wenn sie daran dachte, was er alles für sie tat.

„Mach dir keine Sorgen. Wenn jemand kommt, zieh ich ihm eins mit der Pfanne über", klopfte Leona einen aufmunternden Spruch. Ein zaghaftes Lächeln breitete sich auf dem rundlichen Gesicht ihres Vaters aus. Er kannte seine Tochter zu gut, um zu wissen, dass sie ihre Aussage im Ernstfall tatsächlich umsetzen könnte. Sie konnte sich wehren, wenn sie wollte.

„Na gut. Wenn du dich unwohl fühlst, dann ruf mich an. Aber ich sollte in spätestens drei Stunden wieder hier sein."

„Alles klar."

Nachdem ihr Vater sich verabschiedet hatte, ging Leona nochmal ans Fenster und sah, wie er aus der Haustür nach draußen trat. Sie hatte Angst, dass der Kerl ihren Vater vielleicht angreifen könnte, aber der stieg unbehelligt in seinen alten dunkelblauen SUV, fädelte sich in den mäßigen Vormittagsverkehr auf der Hauptstraße ein und fuhr davon.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top