III - Geburtstagskuchenzäsur

Die Zusicherung, die Leona ihm gemacht hatte, war tatsächlich notwenig gewesen, um ihn ein bisschen von seinem hohen Paranoia-Ross herunter zu holen. Und ihre Kontaktdaten hatte sie ihm gestern auch gegeben, für den Fall der Fälle. Mit dem kleinen beschrifteten Zettel in der Tasche fühlte es sich irgendwie sicherer an. So konnte Erik seinen Achtzehnten wenigstens entspannter angehen, als er gedacht hatte. Klar, denn jetzt brauchte er sich keine Sorgen zu machen – er hatte eine Zeugin, die für ihn aussagen würde, die Lederjacke hatte keine. Also, kein Grund, sich länger verrückt zu machen, dachte er, während er die aufgereihten Flaschen auf der Bar mit den Etiketten nach vorne drehte.

Sein Vater hatte im Keller des Hauses eine gemütliche private Hausbar mit Tresen und allem drum und dran einbauen lassen, wobei seine Detailversessenheit nicht nur aus der breiten Auswahl an eleganten Kristallgläsern in allen Größen und Formen aus einer französischen Manufaktur, sondern auch aus den Barhockern aus Mahagoni und schwarzbraunem Büffellederbezug sprach. Wenn Freunde oder Verwandte vorbeikamen, wurden sie mit Vorliebe in dieses Refugium aus Eleganz und Angeberei gelotst.

Für den Geburtstag, der das Ende der Kindheit markierte, hatte Erik dieses Reich übernehmen können, mit dem Versprechen, nichts kaputt zu machen und – am Allerwichtigsten – nachher wieder alles aufzuräumen. Eriks alter Herr musste sich keine Sorgen machen, denn es kamen nur drei enge Freunde plus einer Freundin und kein ganzes Bataillon an Feierbiestern. Überbordende Exzesse würden wohl nicht zustande kommen.

Sein Blick fiel auf ein Foto, das die gesamte Wand ausfüllte. Es war die Darstellung eines Ritters in voller Rüstung, mit einem Knie auf dem Boden, sich auf sein Schwert abstützend. Settler Senior hatte es für viel Geld ersteigert. Erik fragte sich, was an dem Foto so toll und vor allem so teuer sein sollte. Es zeigte einen verkleideten Typen. Geschmäcker waren zu verschieden.

„Willst du die Torte dekorieren?"

Da stand sie auf der Kellertreppe, in ihrem kurzen rostroten Wildlederrock und der blütenweißen Bluse, die einen gesunden Kontrast zu ihren sonnengebräunten Unterarmen bildete. Eilig wischte Erik sich eine Strähne über die Schläfe, die gestern die Bekanntschaft mit einer Faust gemacht hatte. Dort hatte sich erwartungsgemäß ein kleiner blauer Blumenstrauß gebildet, ein Geburtstagspräsent, auf das der junge Mann gut hätte verzichten können. In den nächsten Tagen würden die Kornblumen zu Gelb und Lila verwelken. Gut, wenn man eine Mutter mit einem beachtlichen Make–up–Arsenal hatte. Trotz der hautfarbenen Creme, die er mit einem rundlichen Schwamm aufgetragen und mit einer beträchtlichen Puderquaste mattiert hatte, schimmerte das verräterische Blau noch durch. Er hoffte, dass es seiner Mutter nicht auffallen würde.

Für seine Mutter war Erik immer noch der Zehnjährige, der mit Mami zusammen bunt gestreifte Kerzen auf die Torte steckte. Dass Erik die Bar für den Abend haben konnte, hatte er aber allein ihren Überredungskünsten zu verdanken. Nach Söhnchens Ausschweifungen, die in den Sozialstunden gemündet waren, hatte sein Vater das WLAN–Passwort geändert und seinem Junior damit den Zugang zur digitalen Welt verwehrt. Papa Settler hatte gedacht, er wüsste, wie man einen Jugendlichen effektiv sanktionierte, doch Erik war das egal gewesen. Er hatte es ausgesessen.

Hätte Herr Erik Settler Senior seinen Sohn ein bisschen besser gekannt, dann hätte er gewusst, wie gut sein Spross auch gut eine Zeit lang ohne irgendwelche Medien auskommen konnte. Ein Mensch konnte gut und gerne mehrere Tage ohne Essen überleben – warum dann nicht auch ohne Internet? Manchmal hatte Erik das Gefühl, dass sein Vater nur oberflächliche Dinge über ihn und seine Schwester wusste. Wie sie hießen, wie alt sie waren und in welche Klasse sie gingen. Aber Hobbys, Vorlieben, das Lieblingsessen – darüber hatte er nicht den blassesten Schimmer.

Und so hatte der Internetentzug sein Ziel verfehlt und die Sanktion war nach wenigen Tagen eingestellt worden, weil ein die drängende Vollendung eines Schulprojekts Eriks Vater zu der ungewollten Gnade gezwungen hatte. Doch die Botschaft war trotzdem klar gewesen. Erik nahm an, dass er selbst wohl auch sauer gewesen wäre, wenn sein Sohn – sofern er mal einen haben sollte – sich unerlaubterweise den Autoschlüssel für die Hightech–Karre im Wert eines halben Einfamilienhauses geschnappt hätte und ohne Führerschein damit die Schnellstraße unsicher gemacht hätte. Und da gab es kein Aber. Ja, er wäre auch sauer gewesen. Punkt.

„Hm, ja, okay", willigte er in die Tortendekorationsaktion ein. Natürlich hatte er mehr Interesse an Ethanol– statt Sahneerzeugnissen, aber er wollte ihr die Freude machen. Insgeheim war seine Mutter sicher froh, dass Erik noch keine Freundin mit nach Hause gebracht hatte. So sah sie noch viel eher den kleinen verspielten Kerl in ihm. Und wenn Erik es sich genau überlegte, dann hatte das auch noch Zeit. Wehe der Frau, die Mama Settlers Sohnemann einmal haben würde, die hätte dann ihre liebe Not mit der dazugeheirateten Schwiegermutter und ihrer quirlig–überhilfsbereiten Art.

„Wie schön!", freute sich seine Mutter und sprang erwartungsfroh und flink wie ein Flummi die Treppen hinauf. Sie würde die Credits dafür an ihren Personaltrainer weitergeben, doch mit ihren vierzig Jahren war sie doch auch noch gar nicht so alt. „Ich warte oben auf dich."

„Alles klar", rief das Söhnchen ihr hinterher und nahm eine Flasche Kräuterlikör in die Hand. Sie war noch ungeöffnet, aber das würde sie nicht lange bleiben. Dario war ein Schluckspecht und für ihn galt überall Selbstbedienung. Wenn er genug getrunken hatte, pennte er auf der Couch ein. Mehr nicht. Es würden keine Barhocker in blinder Alkoholwut auf dem Tisch zerschlagen oder in Pflanzenkübel gekotzt werden. Aber vielleicht würde Darios Flamme – Marie? Oder Mia? – ihn ein bisschen zügeln können, damit er nicht schon vor Mitternacht Dornröschen spielte. Wahrscheinlich aber eher nicht.

Oben in der Küche hatte Eriks Mutter das gesamte Arsenal an Tortendekoration aufgeboten. Längliche Behälter mit gold– und silberfarbenem Glitter wurden auf der Küchenplatte aus cremeweißem Marmor flankiert von bunten Streuseln aller Art. An dieser Frau war eine ambitionierte Konditorin verloren gegangen. Aber ihre Eltern hatten ein wirtschaftlich orientiertes Studium bei ihrer einzigen Tochter eben lieber gesehen.

Die Torte selbst war bereits fein säuberlich mit hellroter Sahne eindeckt. Auf Eriks Wunsch hin war sie gefüllt mit Schokocreme, außen aber mit Erdbeersahne bestrichen. Erdbeeren waren lange Zeit das einzige Obst gewesen, das er als der kleine Rotzlöffel, der er war, gegessen hatte. Was die Dekoration anging, hatte er kein gutes Auge und würde es am liebsten ganz seiner Mutter überlassen. Aber er wollte sie nicht enttäuschen, also griff er nach einem Döschen mit weißen Zuckerperlen, während seine Mutter die übrige Erdbeersahne in eine Spritztüte füllte.

„Willst du die Perlen auf den Sahnetupfen haben oder drum herum?", erkundigte sie sich, während sie konzentriert einen perfekten Tupfen neben den nächsten setzte.

„Egal", murmelte Erik abwesend.

„Oder beides? So wie immer?", neckte sie lachend und füllte die Tülle mit Sahne auf. Erik grinste. Bescheidenheit war nicht sein Steckenpferd. Wenn er sich eine Eigenschaft mit seinem alten Herrn teilte, dann war es der Hang zur Übertreibung. Eriks Vater war eine Hyperbel auf zwei Beinen. Mit seinem eigenen Business hatte er sich einen ziemlichen Wohlstand aufgebaut und das stellte er auch gerne zur Schau. Sei es das satte Trinkgeld, das mit großem Trara der staunenden Bedienung wie bei einem Festakt übergegeben wurde oder die goldene Uhr, die stets gut sichtbar über dem Ärmelaufschlag seines Designerhemds funkeln musste. Erik fand dieses Verhalten peinlich, bis er es bei sich selbst festgestellt hatte. Selbst zu seinen Sozialstunden zog er sich an, als wäre er zu einem Festbankett geladen worden.

„Ja, beides. Wie immer ...", sprach er vor sich hin und verteilte die Zuckerperlen wahllos auf dem Gebäck.

„Ah, ich sehe schon, du magst eher ein bisschen Entropie auf deiner Torte, nicht wahr?", kommentierte seine Mutter lachend. Sie war viel zu lieb und so fürsorglich wie eine Glucke. Statt einer Antwort schnappte Erik sich den goldenen Glitter und streute mit einer schwungvollen Bewegung die Torte ungleichmäßig damit ein. Lachend schnappte seine Mutter ihm den länglichen Behälter aus der Hand, streute etwas von dem funkelnden Zeug auf ihre Hand und pustete es Erik ins Gesicht. Prustend vor Lachen fuchtelte er mit der Hand vor seinem Gesicht herum, aber der Glitter war so fein wie Staub und suchte sich seinen Weg überall hin.

„Na warte ...", kicherte Erik und setzte zum Gegenangriff an.

Als das Dekorieren beendet wurde, glitzerte sowohl Eriks nussbrauner Schopf als auch die blondierte Mähne seiner Mutter in Gold und Silber. Als Erik vor dem mit warmweißen LEDs umrandeten Badezimmerspiegel stand, bildete sich dort nicht der frisch gebackene Achtzehnjährige und reuige Sozialstundenableister Erik Settler ab, sondern der kleine Junge, der immer alle Eissorten auf seiner Waffel haben wollte und seine gekauten Kaugummis an die Hinterseite des Sofas klebte.

Plötzlich war ihm die Lust nach der Geburtstagsfeier mit den Jungs vergangen. Er fühlte sich auf einmal so klein, so jung, so dumm. Eigentlich hatte er keine Party verdient. Immer noch war er der kleine Erik, der nur Flausen im Kopf hatte und er fürchtete, dass sich das nicht großartig ändern würde. Mit dem, was er getan hatte, hatte er nicht nur seinem Vater geschadet, sondern auch seiner Mutter viele schlaflose Nächte voller Kopfzerbrechen bereitet.

Eine Szene schoss ihm durch den Kopf. Sie öffnete sich plötzlich und ungewollt, als sei seine Festplatte von einem Computervirus befallen. Das Scheppern des Bauzauns, als der lederbekleidete Körper darauf hinunter polterte. Auf einmal wurde Erik ganz schlecht. Er lief in sein Zimmer, wo sein Handy auf dem dunkelroten Bettbezug lag. Anders als die meisten seiner Freunde trug er es nicht die ganze Zeit mit sich herum und vergaß es manchmal sogar in seinem Zimmer.

Mit beschleunigtem Atem und zittrigen Fingern gab er Großes Tor Bahnhof Völzau ein und drückte auf die Eingabetaste. Das Rädchen drehte sich und prompt lieferte ihm die Suchmaschine die aktuellen Abfahrtspläne für die U–Bahn. Er tippte auf News und ließ seine Augen über die Ergebnisse der letzten Wochen bis Stunden fliegen: Bürgermeister von Völzau eröffnet verlängerte U–Bahnlinie bis Großes Tor, Gruppenschlägerei an U–Bahnstation, Ticketautomat in Völzau beschädigt, ... Erik nahm einen tiefen Atemzug, wobei ihm ungewollt ein Schluchzen entwich.

„Alles okay bei dir?"

Die Zimmertür, die er nur angelehnt hatte, wurde sachte geöffnet. Es war seine Schwester Lena. Obwohl sie drei Jahre älter war als er, sah sie aus wie eine exakte Kopie von ihm, nur eben mit hüftlangen Haaren. Die beiden wurden nicht selten für Zwillinge gehalten. Charakterlich waren sie sich alles andere als ähnlich und sie verbrachten nicht viel Zeit miteinander. Aber wenn der eine den anderen brauchte, dann spürten sie das über eine Art unerklärliche, unsichtbare Verbindung.

„Ein Mädchen", platzte es aus Erik heraus. Kaum ausgesprochen, bemerkte er, wie falsch er die Worte gewählt hatte, obwohl es nur zwei waren. Lena machte große Augen und schloss die Tür hinter ihrem Rücken. Mit einem Sprung saß sie auf seinem Bett.

„Erzähl!"

Erik zierte sich, was Lena fehlinterpretierte. Lachend warf sie sich auf ihn und kitzelte ihn durch, wie sie es früher so oft getan hatte.

„Komm, sag schon, wer ist sie? Kenne ich sie? Eine aus der Schule?"

„Nein ... Puh, hör auf damit", wehrte Erik sich erfolglos. Wer war hier nochmal der Jüngere von den beiden ...?

„Ist es die Kleine von nebenan? Die schaut dir immer hinterher, wenn du das Haus verlässt, weißt du das? Sie ist in der zehnten", keuchte Lena lachend. Erik bekam ihre Handgelenke zu fassen und beendete die Kitzelattacke.

„Nein ... und ich stehe auch nicht auf sie. Da ist nichts", erklärte Erik und ließ sie los. Lena zog die Augenbrauen zusammen.

„Wie kann ich das verstehen?", fragte sie und zupfte ihr weißes Top zurecht. Die dünnen Spaghettiträger waren ihr über die schmalen Schultern gerutscht. Was nun? Erik wusste, dass er es jemandem erzählen musste. Er fühlte sich gerade, als würde er vor der Büchse der Pandora stehen. Wenn er sie öffnete, dann konnte er es nicht wieder zurücknehmen.

Er wusste, dass er sich auf Lena verlassen konnte. Aber er wollte sie nicht mit seinen Problemen belasten. Sie hatte Erik damals sogar in Schutz genommen, als sie ihn damals auf der Polizeiwache abgeholt hatten. Sie war ein Engel in Gestalt einer groß gewachsenen Einundzwanzigjährigen mit einem Hang zu ununterbrochenen Monologen.

„Sie wurde belästigt und ich habe ihr geholfen", begann Erik, die wohldosierten Worte auszugeben. Als hätte man auf einen Knopf gedrückt, hellte sich Lenas Gesicht auf.

„Aber das ist doch gut!"

„Ja, schon. Aber ... warst du schon mal bei der Station Großes Tor? Da ist eine Baustelle. Eine tiefe Grube. Ich hab ihren Angreifer da rein gestoßen."

„Aber da ist doch ein Zaun ..."

Erik sah seine Schwester vielsagend an und die nickte knapp.

„Wie schlimm ist es?", fragte sie.

„Ich hab keine Ahnung. Im Internet steht nichts davon, dass jemand verletzt in der Grube gefunden wurde ..."

„Okay ... Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Eigentlich sollte man hoffen, dass der Kerl sich nicht allzu sehr verletzt hat. Andererseits ..."

Lena zuckte mit den Schulter. Erik wusste, was sie dachte. Der Typ hatte es wohl nicht anders verdient. Trotzdem wäre es Körperverletzung, auch wenn Erik sie an einem absoluten Arschloch begangen haben sollte.

„Ich hoffe, der läuft mir nicht nochmal über den Weg ...", überlegte Erik laut und setzte sich im Schneidersitz mitten auf sein Bett.

„Wenn du willst, dann kann ich dich mit dem Auto zu deinen Sozialstunden fahren. Ich könnte mir gut vorstellen, dass er dir bei der U–Bahnstation auflauert, um sich zu rächen", meinte Lena, doch Erik winkte ab.

„Mach dir meinetwegen keinen Stress. Ich zieh die Cap ein bisschen tiefer ins Gesicht und dann passt das schon."

Galgenhumor. Etwas anderes fiel ihm nicht ein, die Stimmung war auf den Nullpunkt gekippt. Obwohl es keinen Anhaltspunkt dafür gab, bereute Erik, das Thema angesprochen zu haben. Jetzt würde es wie ein angetretener Kaugummi den Rest des Tages an seinem Schuh kleben und auch bei der Party sich immer wieder bemerkbar machen.

„Kommst du nachher auch zur Feier?", fragte Erik und lenkte damit das Thema ab.

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