I - Glasflaschenheld
Die Stadt hatte eine andere Melodie bei Dunkelheit. Die Serenade der pulsierenden Metropole, die von raschelnden Einkaufstüten und lallenden Betrunkenen eingeleitet, von flatternden Tauben und rauschenden Lüftungsrohren begleitet und schließlich von unter den Schuhen knisternden Glassplittern und der letzten einfahrenden U-Bahn der Endstation Großes Tor in Völzau komplettiert wurde.
Auf dem Weg zu dieser befand sich ein junger Mann, der eine Papiertüte gefüllt mit Einkäufen in der Hand und einen Rucksack mit schweren, immateriellen Lasten auf dem Rücken trug. In zwei Tagen würde er die magische Grenze der Volljährigkeit überschreiten und aus diesem Anlass war die Einkaufstüte gut gefüllt mit allerlei Knabberzeug mit Paprikageschmack und Salz, pappsüßen Limos, die den kompletten Tagesbedarf an Glukose sprengten, und Hochprozentigem, das er sich von jemand älterem hatte kaufen lassen. Dabei hätte er es auch selbst versuchen können, denn mit seinen ein Meter sechsundachtzig standen seine Chancen gar nicht schlecht, dass er nicht einmal nach seinem Ausweis gefragt worden wäre.
Egal, sicher war sicher. Erik hatte sowieso genug Mist am Hals mit den beschissenen Sozialstunden, wegen denen er mehrmals die Woche mit der überfüllten U–Bahn in die Innenstadt tingeln musste, wo er mit einer Greifzange und einem Müllsack ausgestattet dann auf den städtischen Park losgelassen wurde. Er kam sich vor wie der Ritter des Mülls – die Greifzange war seine Lanze, mit der er in den Kampf mit freifliegenden Plastiktüten und bedrohlich zersplitterten Glasflaschen trat.
Zumindest hatte Nadine, seine Bewährungshelferin, die berufsmäßig böse Jungs und Mädels betreute, ihm letzteres Bild in den Kopf gesetzt. Eine verflixt idealistische aber unglaublich humorvolle Dreißigjährige mit strohblonden Cornrows und bunten Tattoos, die nach ihrem Studium der sozialen Arbeit ein Jahr durch die Welt gegurkt war, um nun mehr oder weniger perspektivlosen Halbstarken die Sozialstunden mit ihrem ansteckenden Humor und ihrem hellen Lachen ein bisschen erträglicher zu machen.
Eriks federweichen braunen Haare, die wegen ersterer Eigenschaft nur allzu oft von seiner Schwester verstrubbelt wurden, wehten in der abkühlenden Oktoberluft, als er an der Baustelle vorbeikam, die sich gegenüber der U-Bahnstation befand. Über ihm, etwas höher als die Straßenlaterne, blinkte ein kleines rotes Licht zurückhaltend vor sich hin, als würde es ausdrücken wollen, dass man ihm keine allzu große Bedeutung schenken und einfach weitergehen sollte. Der Bauzaun, der die Grube eingrenzte, der locker doppelt so groß war wie er selbst, war großflächig mit Brombeersträuchern bewachsen. Das Bauprojekt – dem reißerischen Werbeplakat nach ein Bürokomplex – stagnierte. Pflücken würde Erik sicherlich keine der dunkellila schimmernden Beeren, so verlockend sie auch aussahen, denn wenn es dunkel war und niemand hinschaute, erleichterten sich so manche Nachtschwärmer an dieser Stelle.
Um halb acht abends war es zu dieser Zeit im Herbst schon dunkel. Nicht, dass Erik damit ein Problem gehabt hätte, im Dunkeln zur Bahn zu laufen. Ihm stank alles an den bescheuerten Sozialstunden und zwar nicht nur die durchgeweichten Pizzapackungen, die teilweise noch mehr oder weniger lebendige Überraschungen enthielten, sondern auch die Tatsache, sich zu Stoßzeiten in die vollen Züge zu quetschen, in denen man schon am frühen Abend der einen oder anderen Alkoholleiche begegnete. Das hätte alles nicht sein müssen, hätte er nur ein bisschen besser aufgepasst.
Und wäre er nicht so leichtsinnig gewesen. Aber so war es nunmal. Erik überquerte die schmale Einbahnstraße, die nur selten befahren war und schon stand er am Bahngleis. Ein Blick auf die Auskunftstafel verkündete ihm, dass seine Bahn sich verspäten würde; wegen irgendeiner Signalstörung, präzisierte die Lautsprecheransage. Stöhnend platzierte er die Papiertüte, die mit dem Gewicht der ganzen Glasflaschen allmählich seine Arme lang zog, zwischen seinen Füße auf dem Boden und angelte sein Handy aus der Tasche seiner hellbraunen Cordjacke.
Eine Nachricht von seiner Mutter, die ihm schon wieder irgendein Jobangebot verlinkt hatte. O Mann, echt. Erik verdrehte die Augen und wischte die Nachricht beiseite, ohne sich die Stellenanzeige genauer durchzulesen. Irgendwas in einer Druckerei – uninteressant für ihn. Wahrscheinlich wartete sie gespannt auf eine Rückmeldung von ihrem Söhnchen, wie der Job ihm zusagen würde. Sie unternahm so viele unnötige Anstrengungen, einen Job für ihren aktuell ausbildungslosen Sohn zu finden, das würde Eriks Vater nie im Leben einfallen.
Wahrscheinlich war der auch der Grund, warum seine Mutter so penetrant versuchte, ihrem Spross irgendeine Arbeit zu besorgen; um ihrem Gatten keine Steilvorlagen mehr zu liefern. Was die Kohle anging, könnte Erik sich ohne Zweifel sicher ins weiche Polster betten, das seine Eltern über die Jahre aufgefüllt hatten. Aber nichts zu tun, das war seinem Senior ein Dorn im Auge und das ließ er Erik auch immer wieder spüren. Insbesondere seitdem sein Sohn einen Schandfleck im Führungszeugnis aufzuweisen hatte. Gerade wollte der junge Mann sich von den Gedanken ablenken und seine Kopfhörer aus der Jackentasche fummeln, da hörte er das metallische Scheppern eines Gitters.
„Ey, lass das!", rief eine weibliche Stimme. Die Geräusche kamen von hinter ihm, wo gerade jemand Bekanntschaft mit dem Bauzaun gemacht haben musste. Wahrscheinlich wieder ein paar versoffene Köpfe im Halbdelirium, die schon den Feierabend eingeläutet haben und nicht mehr das Gleichgewicht halten können – das ist nicht meine Sache, dachte er sich unbeteiligt und scrollte durch seine Playlist. Worauf hatte er heute Bock ...?
„Boah, komm schon, hab dich nicht so ... Du schuldest mir immerhin was ...", gab eine forsche männliche Stimme zurück. Sie klang alles andere als nüchtern, zumindest soweit Erik das beurteilen konnte. Und dann wieder das scheppernde Geräusch, als würde jemand gegen den Bauzaun stolpern. Stolpern? Oder vielleicht sogar fallen? Gestoßen werden? Diesmal wurde Erik flau im Magen. Das, was sich hinter seinem Rücken abspielte, war offensichtlich falsch. Aber sowas von falsch. Das konnte er nicht ignorieren, nein, das durfte er nicht ignorieren. Zivilcourage und so.
„Verpiss dich oder ich ruf die Bullen!", drohte die resolute Frauenstimme nun. Jetzt war es amtlich – das waren nicht bloß zwei Suffköpfe, da war ein handfester Streit im Gange. Handfest? Handgreiflich! Erik drehte sich um und sah umrisshaft die zarte Gestalt eines Mädchens im Teenageralter, zu der diese feste, keinen Widerspruch duldende Stimme absolut nicht passen wollte. Als würde ein Reh brüllen wie ein Löwe. Die Straße war nur spärlich beleuchtet und die junge Frau war weit weg, aber Erik konnte erkennen, dass sie ganz kurze Haare hatte und eine leuchtend rote Bomberjacke trug, die das schummrige Licht der Straßenlampe auffing. Warum wurde denn niemand auf sie aufmerksam?
Der Typ, der die junge Frau bedrängte, war kaum einen Kopf größer als sie, war aber mit einer deutlich kräftigeren Statur ausgestattet und schubste sie immer wieder gegen den Bauzaun, kesselte sie ein und kam ihr unangenehm nahe. Selbst von weitem erkannte Erik die verschlissene schwarze Lederjacke, die der Kerl trug. Er musste schon in so manche Schlägerei verwickelt worden sein und hatte wohl nicht selten den Kürzeren gezogen. Zumindest zeugte der abgeriebene Stoff an den Ellbogen von häufigen Landungen auf dem Boden, reimte Erik sich zusammen. Es waren hier nicht viele Leute unterwegs, verdammt, und das Schicksal hatte ausgerechnet einen fast achtzehnjährigen Sozialstundenableister dazu auserkoren, Zeuge dieser ungleichen Auseinandersetzung zu sein.
Unschlüssig schaute er auf die Papiertüte, die zwischen seinen nagelneuen und noch blitzweißen Sneakers stand – sponsored by Mama. O Mann. Er hob die Tüte auf und näherte sich den beiden auf der anderen Straßenseite. Weder das Mädchen noch die Lederjacke bemerkten ihn.
„Komm schon ...", lallte der Typ und unternahm einen neuerlichen Versuch, der jungen Frau näher zu kommen. Seine Hände suchten nach ihrem Körper, doch sie wich zurück und dann bemerkte sie Erik. Der Blick der beiden kreuzte sich einen kurzen Moment und Erik glaubte, so etwas wie Erleichterung in ihren Augen zu sehen. Mit etwas Verzögerung kam auch der Typ auf den Dreh, dass hier jemand dazugekommen war und wandte sich um.
„Und du bist ...?", fragte er und trat selbstbewusst näher an Erik heran. Dabei erkannte der, dass dieser Kerl keineswegs besoffen war. Nein, der Kollege hier stand unter ganz anderen Einflüssen. Hatte er überhaupt noch eine Iris oder bestanden seine Augen nur aus Pupillen? Scheiße, was war schlimmer – hackedicht oder vollkommen zugedröhnt? Wenn die Lederjacke bloß zu viel Ethanol intus hätte, dann könnte Erik zumindest damit rechnen, dass dessen Reflexe nicht die besten waren. Aber so? Eine Einschätzung war nicht möglich.
„Ist das deine Freundin?", fragte Erik, unsicher darüber, was man in so einer Situation überhaupt sagte. Irgendwie hatte er das Gefühl, die falsche Frage gestellt zu haben. Der Kerl nickte, doch Erik glaubte ihm nicht.
„Bin ich nicht, du Penner!", meldete die Kurzhaarige sich von hinten. Doch die Lederjacke verdeckte sie mit seinem breiten Körper und fuchtelte rückwärts mit seinem Arm, als würde er sie wegscheuchen oder ihr zumindest nonverbal den Mund verbieten wollen.
„Das hier", brummte der Kerl in Eriks Richtung und machte mit beiden Armen eine ausholende Geste, „geht dich überhaupt nichts an, okay? Also machst du jetzt den Abflug."
Der drohende Unterton, der den letzten Worten die Schwere von Blei verlieh, machte Erik Angst. Noch nie war er ernsthaft von jemandem bedroht worden und schon gar nicht von jemandem, der offensichtlich drauf war. Das hier war eine Premiere, eine verdammt beschissene noch dazu. Eine, auf die er gut hätte verzichten können. Dieses Gefühl, wenn jemand einem mit impliziter Aggression die körperliche Unversehrtheit streitig machte, war grauenvoll, musste der junge Mann gerade feststellen. Obwohl Erik einen guten Kopf größer war, fühlte er sich klein und schutzlos.
Entgegen des Anratens von Herrn Lederjacke blieb Erik wie angewurzelt stehen. Er konnte diese junge Frau nicht mit dem zugedröhnten Kerl allein lassen. Er konnte es nicht verantworten. Es wäre unterlassene Hilfeleistung und noch dazu tat ihm das Mädchen leid, sie schien dem Typen regelrecht ausgeliefert zu sein. Gleichzeitig rechnete Erik mit gespanntem Grauen die ganze Zeit damit, dass eine Faust in seine Magengrube oder vielleicht sogar mitten in sein Gesicht krachen würde. Doch all das konnte seine Lippen nicht davon abhalten, weiterzusprechen.
„Lass sie in Ruhe, Mann. Sie sieht nicht aus, als ob sie deine Anwesenheit wollen würde", entgegnete Erik mit holpriger Stimme. Denselben bedrohlichen Touch wie die Lederjacke bekam er nicht hin. Den einzigen Vorteil, den Erik hatte, war seine Körpergröße. Und die Einkaufstüte voller Glasflaschen. Der Kerl betrachtete ihn mit schief gelegtem Kopf und schien Eriks Körper danach zu studieren, wo seine Faust am meisten weh tun könnte. Unwillkürlich trat Erik einen Schritt zurück. Der Kerl lachte schnaubend.
Erik erkannte eine Narbe, die sich neben dem rechten Auge des Kerls bis zum Unterkiefer zog. Das war niemand, der gern Kompromisse einging. Jemand, der die Auseinandersetzung suchte. Die drahtigen braunen Haare des Kerls waren verzottelt und ein ungepflegter Dreitagebart unterstrich den Eindruck, den Erik hatte, noch zusätzlich: Ein Mann, der hoch flog und tief fiel.
„Was für 'ne Memme, ich hab's doch gewusst", sagte der nun und spuckte vor Erik auf den Boden. Dann drehte er sich um, packte das Mädchen am Arm und zog sie mit sich. Verzweifelt schaute sie zurück in Eriks Richtung und stolperte die paar Schritte mit.
„Bleib stehen!", rief Erik, doch die Lederjacke schien ihn nicht zu hören. Oder nicht hören zu wollen, was wahrscheinlicher war. Dann fiel Erik die Tasche wieder ein. Wie konnte er den Typen schnell und effektiv stoppen ...? Ohne länger zu zögern, schnappte er sich eine dickwandige Sektflasche. Ihr schlanker Hals lag gut in seiner Hand, wie ein Baseballschläger. Erik folgte dem Kerl, visierte dessen Hinterkopf an, wollte ausholen, doch durch das Kondenswasser, das sich an der Flasche gebildet hatte, rutschte sie ihm fast aus der Hand.
Dieser kurze Moment brachte ihn ungewollt dazu, einen Augenblick lang einzuhalten und zu hinterfragen, was er gerade tat. Wollte er das wirklich tun? Körperverletzung, während er doch Sozialstunden wegen eines anderen Blödsinns, den er selbst verzapft hatte, ableisten musste? Wollte er das wirklich tun? Es wäre Notwehr. Das Mädchen war offensichtlich in Gefahr. Wenn er ihr nicht half, dann war das nicht nur unterlassene Hilfeleistung, sondern auch eine ziemlich beschissene Nummer.
„Bleib stehen, verdammt!", brüllte Erik, was die Kehle hergab und zog an der Jacke des Kerls. Der fuhr plötzlich herum und traf ihn mit der Faust unerwartet an der Schläfe. Benommen taumelte Erik zurück und registrierte erst gar nicht, was passiert war. Die Papiertüte hatte er trotz des überraschenden Schlags noch fest in der Hand, ebenso die Sektflasche.
Verdammt, der Kerl hatte ihn angegriffen! Wenn es jetzt nicht Gründe genug gab, sich zu wehren ... Erik holte aus und die Flasche traf den Kerl an der Schulter, zerbrach aber nicht. Trotz des vergleichsweise schwachen Schlags stöhnte die Lederjacke auf und hielt sich die Stelle. Wer war jetzt die Memme ...? In blinder Wut hob Erik die Flasche über seinen Kopf und wollte sie mit Schwung auf die Birne seines Kontrahenten herabsausen lassen, doch dann kam das Mädchen hervorgesprungen.
„Nicht!", rief sie. Ihre Augen – ein warmes Grau an einem kalten Tag – waren aufgerissen und ihre Haare standen ein wenig zerzaust von ihrem Kopf ab. Erik ließ die Flasche sinken. Ihm fehlten die Worte. Was war er gerade im Begriff zu tun? Die plötzliche Zäsur nutzte sein Kontrahent und sprang auf Erik zu, dass ihm die Flasche aus der Hand fiel und auf dem Asphalt zerschellte und die Flüssigkeit brausend in die Baugrube sickerte. Das war zu viel. Warum, das konnte Erik nicht sagen. Es war nur eine verschissene Flasche Sekt, die da zerplatzt war. Nein, nicht nur eine Flasche Sekt – es war Eriks körperliche Integrität, die angegriffen worden war. Nicht nur das Glas der Flasche war in seine Einzelteile zerbrochen, sondern auch Eriks rationaler Verstand.
Mit einem tiefen Grollen packte er den Kerl mit beiden Händen an der Jacke. Erik war ihm größenmäßig eindeutig überlegen. Einen Moment lang schaute er ihm tief in die Augen, aus denen er nichts lesen konnte, als sähe er nur fremde Schriftzeichen. Er roch Zitrone und Zedernholz und für eine Millisekunde war es, als würde jemand in seinem Hinterkopf rufen. Eine ganz entfernte Stimme. Als hätte jemand die Zeitlupe aktiviert, spielte sich alles ganz langsam ab und die Bilder prägten sich hell und klar in Eriks Verstand. Dann ging alles sehr schnell.
Mit Schwung schleuderte er den Dreckskerl gegen den Bauzaun, der trotz der stabilen Betonfüße nun wider Erwarten ächzend nachgab. Mit rudernden Armen versuchte Erik sein Gewicht nach hinten zu verlagern, um nicht vornüber zu kippen. Er konnte sich gerade so noch halten, doch sein Gegner verlor das Gleichgewicht und rutschte über den kippenden Zaun hinab in die mindestens zwei Meter tiefe Baugrube. Mit einem dumpfen Aufprall, als würde man einen Sandsack auf einen lehmigen Kellerboden werfen, kam er am Boden auf.
Betroffen schauten Erik und das Mädchen einen Moment lang hinunter in den dunklen Schlund und warteten auf ein Lebenszeichen. Eriks Augen waren starr auf die dunkle Grube gerichtet. Was hatte er getan? Der Kerl gab keinen Laut von sich, rührte sich aber, so viel konnte er im schwachen Licht erkennen. Einen unendlich langen Augenblick sagte niemand etwas. Dann fasste eine zarte Hand Erik an die Schulter.
„Danke", flüsterte sie. Ein warmer Hauch an Eriks Wange, dann verschwand sie in die Nacht.
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