[24] 24|Mittwoch
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Annehmend, was auch auf sie zukommt – sie hat keinen streng durchdachten Tag –, steht Ronja heute auf. Erst einmal raus. Auch heute schneit sie bei Joe vorbei. Ohne ihn kann sie es sich gar nicht mehr vorstellen. Sie kennen sich nun schon einige Jahre und die Hürden, die sie beide durchmachen mussten, in denen sie sich gegenseitig gestärkt haben, haben sie enger in ihrer Freundschaft werden lassen. Sie empfindet es zumindest als Freundschaft. Wie er es sieht, weiß sie nicht.
„Guten Morgen Joe."
„Guten Morgen Ronja. Na, wie sieht es heute bei dir aus?"
„Ja, geht eigentlich."
„Und, hast du überlegt?"
„Oh."
„Hast du es vergessen?"
„Schon irgendwie. Also zumindest, dass wir darüber geredet haben. Tut mir leid."
„Ist okay, dann beim nächsten Mal. Vielleicht hat dein Unterbewusstsein es ja absichtlich verdrängt. Wer weiß." Joe kennt mich einfach zu gut. Aber es ist auch kein Wunder nach der Sache mit ihr.
„Ja, wer weiß. Von mir war es keine Absicht."
„So, hier ist dein Café. Wir quatschen einfach die Tage, natürlich nur, wenn du möchtest."
„Okay, danke Joe."
Sie hatte es tatsächlich vergessen, mit Joe darüber gesprochen zu haben. Beziehungsweise, dass er in kryptischen Rätseln zu ihr sprach sowie sie darüber nachdenken sollte. Nicht nur sollte ebenso wollte, aber auch jetzt möchte sie sich dafür keine Zeit nehmen. Oder schiebe ich es mal wieder aus irgendwelchen Gründen vor mich her?
Achselzuckend schreitet sie voran, geht durch den Park und wieder nach Hause, um sich an die E-Mail-Beratungen zu machen.
Doch bevor sie mit ihren Beratungen und Beantwortungen beginnt, muss sie die Antwort ihres Vorstandes verdauen. Sie hat nämlich tatsächlich eine Rückmeldung erhalten.
Liebe Frau Flemming,
wir freuen uns Ihnen das Ergebnis der Vorstandssitzung mitteilen zu können, was sowohl in Ihrem als auch in unserem Interesse ist.
Wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass wir eine weitere Stelle mit 20 Stunden die Woche ausschreiben werden. Unsere Antwort ließ ein wenig auf sich warten, da wir zunächst die Kostenzusage für die Besetzung der Stelle abwarten wollten, welche eben hereinkam. Die Stadt übernimmt diese. Somit können wir mit der Suche und Bewerbungsphase direkt beginnen. Sollten Sie eine qualifizierte Person kennen, so scheuen Sie sich nicht davor zurück, die Person zu animieren, sich zu bewerben. Geben Sie auch gerne Bescheid, dass es sich um eine offene Stelle zu sofort handelt. Wir halten Sie bei Neuigkeiten auf dem Laufenden.
Vielen Dank und mit freundlichen Grüßen
A. Forster und B. Decker
Ronja ist so außer sich vor Freude, dass sie beinahe vergessen hat, anzufangen zu arbeiten. Beruhige dich, erst einmal arbeiten, danach kannst du immer noch abfeiern.
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Mittags geht sie, nach wie vor voller Freude, zum Hafen. Auf dem Weg fragt sie sich, ob Elmar ihr persönlich beantworten würde, ob sie seine Sicht der Dinge auf die Welt verstanden habe oder ob sie diese Dinge weiterhin per Mail kommunizieren würden, wofür sie nicht böse wäre, sondern Verständnis hätte.
„Hallo Ronja."
„Hey Elmar."
„Noch erschöpft?"
„Es ist besser. Und ich habe heute gute Neuigkeiten bekommen."
„Gute?", fragt Elmar erstaunt nach. Zumindest denkt Ronja Unglauben in der Stimme heraushören zu können.
„Ja, wirklich positive. Von meiner Arbeit."
„Was arbeitest du?"
„Ich bin Beraterin."
„Wen berätst du?"
„Menschen mit einer Sehstörung."
„Menschen, deren Leben du nachempfinden kannst?"
„Ja richtig."
„Und was erfreut dich heute?"
„Bisher arbeite ich alleine in meinem Arbeitsbereich. Aber heute kam die Nachricht, dass eine zweite Person gesucht wird. Das bedeutet, ich werde entlastet und mehr Menschen können Unterstützung finden."
„Ja, das ist etwas Gutes."
„Ja, finde ich auch."
„Grüß Alice von mir. Sag ihr, alles wird gut. Kommt auf Impressionsweise an. Du weißt es."
„Das mache ich."
„Bis morgen Ronja."
„Bis morgen Elmar."
Von Elmar beeindruckt macht sich Ronja auf den Heimweg. Dort zurück bereitet sie sich auf den zweiten Abschnitt ihres Arbeitstages vor, der heute ausnahmsweise nicht so lang werden dürfte. Ein paar der Neuanfragen konnte sie vorhin direkt parallel beantworten mit der beruhigenden Antwort, dass sie bald Unterstützung erhalte und sie sich meldet, sofern sie mehr weiß. Das bedeutet, ihr stehen nur noch drei E-Mail Beantwortungen bevor. So ein tolles Gefühl, eine Alternative anbieten zu können.
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Als sie sich zum Arbeiten an ihren Computer setzte, bekam sie bereits mit, dass sie auch eine Mail von Alice erhielt. Es verlangte ihr viel ab, jedoch hörte sie diese nicht direkt ab. Sie wollte zunächst ihren Klient*innen antworten. Jetzt, da sie Feierabend hat, lässt sie sich diese vorlesen. Aufregung. Eine Welle der ... Ja, was eigentlich? Was ist nur los?
Liebe Ronja,
was Montag passierte, tut mir leid.
Falls ich dich angemacht habe, tut mir das auch leid.
Ich bin sehr dankbar für dich als Person, dass du meine Freundin bist, was du für mich tust, wie du es mit mir aushalten kannst.
Mit mir ging es durch. Ich dachte nur: Wie kann Frau Winter das denn bitte jetzt noch von dir verlangen?!
Und das ist völlig bekloppt, aber der Schleier, der sich über mich legte, übernahm einfach und mein Verstand schaltete ab. Es war mit Frau Winter alles abgesprochen ... Ich sag ja. Bekloppt.
Nun möchte ich dich aber fragen, ob ich vielleicht heute zu dir kommen darf, nur heute bei dir übernachten darf?
Liebe Grüße, Alice
Total nervös. Als würden gerade tausende unterschiedlichste Insekten auf ihrem Körper hoch und runter krabbeln. Ronja bleibt stehen. Bemerkt, dass sie gar nicht mehr sitzt. Antworten wäre gut. Sie setzt sich wieder hin, fängt an eine Mail zu formulieren, fragt sich dann aber, was, wenn sie ihren Laptop nicht mehr anhat?! Sie löscht die Mail wieder und nimmt ihr Handy in die Hand.
Ronja:
»Klar kannst du heute vorbei-
kommen und auch hierbleiben.
Komm einfach vorbei. Ich bin
hier und gehe auch nicht mehr
los. Bis gleich/ bald. Freue
mich auf unseren Mädelsabend.
Liebe Grüße, Ronja«
Ronja legt ihr Handy beiseite. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Darf ich mich freuen?, fragt sie sich im gleichen Augenblick. Alice geht es offenbar nicht so gut, wieso lächele ich? Sie freut sich, dass sie sich gemeldet hat und sie vorbeikommen wird. Nicht weiter darüber nachdenkend, lässt sie ihren Computer erst einmal an und überlegt, ob und was sie vorbereiten könnte. Sollte ich Café kochen oder das Sofa schon einmal vorbereiten? Wie werden wir den Abend verbringen? Warum werde ich auf einmal nervös? Soll ich einfach warten, die Wohnung in ihrem Zustand belassen, wie sie ist?
Sie macht sich anscheinend sehr lange Gedanken. Die Klingel ertönt. Ronja nimmt den Hörer der Gegensprechanlage ab und fragt, wer da ist.
„Na, ich bin es."
Ja, wer auch sonst, denkt sie sich selbst. Blöde Frage.
Sie drückt auf den Summer und öffnet die Wohnungstür. Alice steht schon da, die Haustür ist meistens offen und Ronja wohnt im Erdgeschoss. Sie stehen sich verhalten gegenüber, Ronja macht einen Schritt zur Seite und Alice geht an ihr vorbei in die Wohnung hinein.
„So wie sonst auch, Ronja?"
Nicht wissend, was Alice damit meint, versucht sie schnell eine passende Antwort zu finden. Ihr Gesichtsausdruck verrät Alice aber anscheinend alles.
„Mensch Ronja, ich die Getränke und du machst es uns draußen schon einmal bequem?"
„Ja klar, natürlich, so wie du befiehlst." Ronja grinst verlegen.
Ronja geht vom Flur aus durch das Wohnzimmer, wo sie im Vorbeigehen ihren Computer ausschaltet, und dann raus auf die Terrasse. Sie bereitet die Eckcouch gemütlich vor. Warum ist sie selbst gerade so verhalten?
Alice kommt kurz nach ihr raus mit ihren Tassen.
„Danke, dass ich kommen durfte."
„Aber das ist doch klar."
„Das wäre es nicht für jeden, Ronja."
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich an deiner Seite bin und für dich da bin. Und Montag ..."
„Ja, das tut mir auch wieder leid."
„Alles gut, vielleicht war ich ja auch zu forsch. Du bist eine eigenständige Frau, die bestimmt nicht noch ihre Autonomie aufgeben möchte, indem sie noch bei einer blinden Person einzieht."
„Sag das doch nicht so, als wäre das bescheuert. Du bist der Wahnsinn und du bist mir eine solche Kraft in dieser Zeit. Ohne dich, ich weiß nicht, ob ich das schaffen würde. Und ja, du hast recht, manche würden das eventuell so betrachten, dass ich meine Eigenständigkeit aufgebe, wenn ich aus meiner Wohnung raus und zu jemand anderem einziehen würde. Aber so sehe ich das ja gar nicht. Nur möchte ich dich nicht noch mehr belasten, du machst schon genug für mich."
„Ich verstehe. Aber es wäre keine Belastung für mich. Sag Bescheid, es liegt alles bei dir. Die Tür würde für dich offen stehen. Du kennst die Wohnung, sie ist groß genug."
„Danke Ronja. Ich bin für heute erst einmal dankbar."
Ronja nippt an ihrem Café, fragt sich, warum Alice sich selbst als eine derart extreme Belastung wahrnimmt. Alice ist doch eine so wundervolle, empathische, kraftvolle Persönlichkeit, die momentan lediglich eine schwierige Zeit durchmachen muss. Sie würde gerne mit Alice noch viel mehr Zeit verbringen und es macht sie jedes Mal wahnsinnig, wenn Alice wieder von ihren Gedanken blockiert wird und sie erneut auf eine baldige Nachricht hoffen darf.
Was hat Alice für einen Blick auf sie, fragt sich Ronja selbst. Da beginnt das Kribbeln in ihr erneut und breitete sich aus, ihr wird ganz merkwürdig. Solche Gefühle hatte sie schon lange nicht mehr. Seit ... Vielleicht seit ...
„Ronja?"
„Ähm ... Ja?"
„Ich habe länger über eines unserer Gespräche nachgedacht und hätte noch eine Frage, wenn das okay ist."
„Klar. Frag mich ruhig."
„Erinnerst du dich noch, als wir zusammen am Hafen saßen, das erste Mal?"
„Ja."
„Da hattest du Elmar die richtige Antwort zu dem Rätsel nennen können."
„Ja, Blau steht für Harmonie in der Regenbogenflagge."
„Richtig", Alice scheint kurz durchzuatmen, „und dann konntest du dir auf einmal denken, dass ich dir erzählen wollte, dass ... na ja, dass ich auf Frauen stehe."
„Ja."
„Dann meinte ich, dass ich mich ziemlich blöd fühle. Weil ich Sorgen hatte, dass du mich wegstoßen könntest. Weißt du noch, was du geantwortet hast?"
„Dass ich das kenne", erwidert Ronja prompt.
„Ja genau. An dem Tag habe ich das gar nicht kapiert. Aber jetzt ... Da kam es an und ... ich wollte dich fragen, was es bedeutet, dass du es kennst?"
„Wie du weißt, bin ich blind. Jegliche Minderheitengruppen können leider solche Art von Erfahrungen machen. Menschen können leider so zu anderen sein."
„Ah okay."
„Aber ich kenne es auch so wie du."
„Was meinst du?"
„Um ehrlich zu sein, dachte ich ... Nein, ich war davon ausgegangen, dass du es weißt. Deswegen war ich auch bei der Beratungsstelle so verwirrt. Ich bitte dich mal kurz zu überlegen ... Hast du mich je mit einem Mann an meiner Seite gesehen, natürlich unabhängig von Joe oder Elmar oder so?"
„Auf so etwas achte ich nie."
„Alice, komm schon, überleg mal."
„Also die letzten Male warst du mit Woody, aber nicht mit Begleitung eines Menschen im Le Petit."
„Ja richtig", Ronja lacht leise auf, „ aber ich meinte das schon auf menschliche Lebewesen bezogen."
„Hm ... Warte ... Ach ... Warte mal ..." Alice grübelt offensichtlich wirklich. „Zu Anfang war öfter Mal eine Frau mit im Café. Hätte ..."
„Richtig."
„Warst du mit ihr zusammen?", fragt Alice überrascht nach.
„Ja, das war meine damalige Partnerin Ella. Auch wenn es schockierend klingen mag." Ronja grinst dabei.
„Sorry, so war das nicht gemeint. Es sah irgendwie eher so aus, als seid ihr Schwestern oder so."
„Beruhigend", amüsiert sich Ronja. Und verständlich bei dem Verhalten, was sich da manchmal abgespielt hat ...
„Also stehst du auch auf Frauen? Oder bist du bisexuell oder pan? Oder ...?"
„Auf Frauen."
„Cool."
Für Alice scheint eine Hürde genommen worden zu sein. Sie redet auf einmal viel freier. Ronja und Alice erzählen sich vieles, unter anderem über ihre ersten Küsse, sowohl mit einem Jungen als auch mit einem Mädchen, wann und wie sie für sich herausfanden, dass sie auf Frauen stehen.
Alice sagt es nicht direkt, aber es ist zu spüren, dass ihre Eltern es nicht wohlwollend aufgenommen haben. Womöglich ist sie deswegen in ihrer Wohnung gelandet? Lange verweilt Ronja nicht bei dem Gedanken, dafür ist der Abend viel zu schön. Zudem würde sie dann ebenso bei ihrer Familiengeschichte landen, die zwar nicht geprägt von Gewalt, aber Einsamkeit ist. Sie hat Frieden damit geschlossen und dennoch überkommt sie dabei des Öfteren mal ein leiser Stich der Sehnsucht nach Zugehörigkeit.
Nein, der Abend ist viel zu schön für solche Themen. Sie quasseln, albern rum und sprechen ebenso über Filme, Musik und Bücher. Es wird ein richtig schöner Frauenabend für die beiden.
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