[19] 19|Freitag

Dem heutigen Tag blickt sie freudig, gleichzeitig auch spannend entgegen. Sie freut sich selbstverständlich über das Treffen mit Alice, noch mehr sie zu besuchen. Spannend wird es sein, wie sie wohnt und warum sie sich womöglich in ihrer Wohnung nicht wohlfühlen kann. 

Sie geht durch den Park und überlegt, ob es alternative Möglichkeiten gebe, falls Alice wirklich nicht mehr in ihrer Wohnung bleiben könnte. Aber da greift sie schon wieder viel zu weit voraus und mischt sich in Angelegenheiten, die sie überhaupt nichts angehen. Sie versucht die Gedanken abzuschütteln und sich anstelle dessen auf sich und die Umwelt zu fokussieren. 

Jeden Schritt bewusst tätigen, dabei hören, viel mehr hinhören, was um sie herum geschieht, vielleicht kann sie auch Düfte wahrnehmen, mit all ihren Sinnen diesen Spaziergang bewusst erleben. Was höre, fühle und rieche ich? Kann sie einen Geschmack in der Luft womöglich ausmachen? Dieses typische Rascheln in den Bäumen, wenn ein leichter Luftzug kommt, der eine salzige Brise mitbringt und durch die beblätterten Äste weht, das Hochklettern der Eichhörnchen, was sie an den kratzenden Nachgeräuschen ausmachen kann, rundherum spielende Kinder mit quatschenden Erwachsenen, die womöglich ihre Eltern sind, Vögel, die über sie hinwegfliegen, das Aroma der Blumen und Bäume sowie der Natur um sie herum. Vom See kommt ihr eine Frische und doch auch ein modriger Dunst entgegen, gefolgt vom Schnattern und Planschen der Enten und Gänse. 

Das ist ein herrlicher Spaziergang. Um das sacken lassen zu können, setzt Ronja sich auf eine Bank am See. Einfach nur da sitzen, dem nachfühlen und es annehmen. 

◦◦◦◦◦◦

Wieder zu Hause packt sie Futter und eine Decke für Woody ein. Um ihre übliche Uhrzeit geht sie los. Lieber draußen warten als hier in der Wohnung, entscheidet sie sich. 

„Hallo Elmar", begrüßt sie ihn, als sie seine Schritte vernimmt. 

„Hey Ronja." 

„Und hast du bereits Ausschau nach der Luca gehalten?" 

„Ja", sagt er in einer trüben Klangstimme. 

„Aber anscheinend nicht gefunden?" 

„Nee, hier sind so viele Boote." 

„Gehst du denn den ganzen Hafen ab?" 

„Nicht ganz." 

„Warum nicht?", fragt sie interessiert vorsichtig nach. 

„Weil nicht alles zu meiner Route gehört." 

„Ah, ich verstehe. Und es fällt dir schwer, das so schnell zu verändern?" 

„Ja, darin bin ich noch nicht gut." Seine Stimme wird zunehmend bedrückter. 

„Das macht doch nichts. Gibt es denn irgendetwas, was es dir leichter machen würde?" 

„Wenn jemand mitkommen würde." 

„Möchtest du mit mir irgendwann spazieren gehen?" 

„Ja!" Dieser Ausruf lässt Ronja innerlich strahlen oder vielmehr der helle Farbton darin. 

„Wie wäre es mit Sonntag? Also in zwei Tagen?" 

„Gut." 

„Okay, dann sind wir am Sonntag verabredet." 

„Aber Ronja, das sind wir doch jeden Tag." 

„Ja, da hast du recht, Elmar." 

„Bis morgen Ronja und grüß Alice bitte." 

„Mach ich. Bis morgen Elmar." 

Klick, es ist 11:43 Uhr. Bald kommt Alice, freut sich Ronja. Ob Elmar das wusste? Oder wollte er, dass Ronja sie beim nächsten Treffen von ihm grüßt? 

◦◦◦◦◦◦

Ronja wusste bis eben nicht, dass die Wohnung von Alice ebenso fußläufig erreichbar ist, nicht genau die gleiche Richtung wie zu sich selbst, aber auch nicht in die entgegengesetzte. Sie interessiert es schon jetzt, wie lange sie zu Fuß von sich zu ihr bräuchte. 

Sie liebt Spaziergänge, macht vieles viel lieber zu Fuß, als in den Bus oder in die Bahn zu steigen, vor allem, wenn es nur um ein paar Meter geht. 

Alice öffnet die Tür zu ihrer Wohnung und Ronja spürt, wie unbehaglich sich Alice plötzlich fühlt. Alice geleitet sie zunächst in die kleine Küche, die direkt am Anfang vom kleinen Flur abgeht. Ronja könne sich dort hinsetzen, während sie ihnen erst einmal Café zubereitet. 

„Alice, ist alles in Ordnung? Soll ich lieber wieder gehen?" 

„Nein, wie kommst du darauf?", fragt Alice etwas schrill. „Du fühlst dich hier unwohl, stimmt's?" Ihre Stimme nimmt einen verzweifelten Ton an. 

„Das ist es nicht, Alice. Ich habe nur das Gefühl, dass du nicht gerne andere in deine Wohnung einlädst." 

„Das ist auch so. Aber es ist eine gute Übung, hat sie gesagt." 

„Hat wer gesagt?" 

„Frau Winter meinte, weil ich mich allein und unwohl in meiner Wohnung fühle, könnte ich es ausprobieren, jemanden einzuladen, den ich mag." 

„Ich verstehe. Ja, das ergibt irgendwie Sinn." 

„Ich habe noch nie jemanden hierher eingeladen. Ich mag diese Wohnung nicht." 

„Ist die Wohnung hässlich oder magst du deine Möbel nicht? Tut mir leid, du musst nicht antworten." 

„Schon okay. Hässlich ist sie eigentlich nicht. Meine Möbel sind halt ganz normale Möbel, die ich mir leisten konnte. Es passt vielleicht nicht alles zusammen, aber das stört mich nicht." 

„Wenn ich fragen darf, warum magst du deine Wohnung nicht?" 

„Weil ich hier mal gezwungener Maßen einziehen musste. Wahrscheinlich würde ich sie sogar mögen, wenn ich sie auf einer normalen Wohnungssuche gefunden hätte. Aber so ... Ich weiß nicht, ich konnte hier nie ankommen und mich einfach nie wohlfühlen, nie als wäre es meine Wohnung." 

„Das muss aber auch wirklich schrecklich sein. Und möchtest du dir eine neue Wohnung suchen?" 

„Das ist es ja. Wie soll ich mit meinem Geld in dieser Stadt eine neue Wohnung finden? Das ist ja fast ausweglos." 

„Hast du es schon versucht?" 

„Ja. Bisher überhaupt keine Chance." 

„Das tut mir leid." 

Ein paar weitere Minuten vergehen, in denen sie eher schweigsam in der Küche verharren. Ronja lauscht, wie Alice den Café zubereitet. Dann serviert Alice ihnen diesen, den sie erst einmal in Ruhe trinken wollen. Ronja wagt kaum ein weiteres Wort oder eine Frage zu stellen, aber es geht ihr eine Menge durch den Kopf. Aber wenn ich jetzt etwas Falsches sage oder frage, dann verbocke ich es eventuell und ich will nicht, dass sie sich noch schlechter fühlt ... 

Alice reißt sie aus ihren Gedanken, indem sie das Wort ergreift und sie fragt, ob sie eine Führung durch die Wohnung wolle sowie den Platz des Bildes von Ronja erfahren möchte. Aber natürlich, ursprünglich war das mal die Idee dahinter. Sie nickt Alice zu. 

Von der Küche, die zwar nicht groß ist, aber trotzdem Platz für zwei sitzende Menschen bietet, geht es wieder in den kleinen beengten Flur, aber nur einen Schritt, direkt gegenüber ist das Badezimmer, ein kleines Quadrat. Ronja könnte dort nicht mit Woody hineingehen, aber das braucht sie auch nicht, keiner kann da drin etwas verfehlen. Den Schritt zurück, geht es dann ein paar Schritte durch diesen kleinen Flur, der aufgrund eines Einbauschrankes an der einen Wandseite noch beengter wird. Vom Flur geht es durch eine Tür, durch die sie ins Zimmer kommen. Ein recht großer Raum mit einem Balkon. In diesem Raum schläft und wohnt Alice. 

Die Tür geht nach links innen auf, hinter der Tür stehen Regale, daneben steht ein größerer Tisch mit Stühlen, den sie auch als Arbeitsplatz benutzt, gefolgt von einer Kommode, bevor die Tür zum Balkon kommt. Die der Zimmertür gegenüberliegende Seite ist eine Fensterfront. Auf der rechten Seite angrenzend der Fensterfront steht ein größeres Schlafsofa, von der Tür ausgehend nach rechts stehen auch noch einmal Regale. Alice beschreibt das alles sehr lustlos und nichtssagend. 

„Und hier habe ich das Bild von dir aufgehängt", verkündet sie und auf einmal hebt sich Alice' Stimme wieder. Sie stehen nun vor dem Tisch – das sei Alice' Lieblingsplatz. 

Ronja bewegt sich nach den Schilderungen von Alice durch den Raum, zunächst zum Arbeitsplatz, auf dem ein Laptop steht, ein Block, Karten und lose Zettel liegen sowie Stifte und versucht sich vorzustellen, wie ein Bild hier aussehen würde. Bestimmt gut. Zumindest findet sie die Stelle zum Arbeiten gut gewählt, in der Mitte, nicht zu weit vom Balkon entfernt, gefällt ihr. Ronja dreht sich um und weiß, dass sie ungefähr vor dem Schlafsofa stehen müsste. Und darüber soll ja die Regenbogenflagge hängen, wenn sie sich richtig erinnert. 

„Alice, habe ich einen Gedankenfehler? Wenn da hinten Regale stehen und hier dein Schlafsofa. Ist dann nicht dazwischen noch eine riesige Lücke?" 

„Ja, schon ... Da müsste ich, wenn ..." 

Alice fängt an zu weinen. Was habe ich getan? Was müsste sie, wenn? Ronja versteht es erst nicht, kramt in ihrem Gehirn nach einer Antwort und hält sich jetzt wahrhaftig für blöd. Derweil bekommt Alice Schnappatmung, wedelt mit den Händen. Ronja spürt dies durch die Luftbewegung und auch, weil sie Alice' Hand leicht abbekommt. Ronja fühlt sich schuldig, aber schlimmer noch hilflos, weiß nicht, was sie tun soll. 

„Alice?" Sie bekommt keine Antwort. Soll ich den Notruf wählen? Ob es etwas gibt, was ihr guttun würde? Jetzt werde du nicht auch noch hektisch. Ah hektisch

„Alice, ist das eine Panikattacke oder irgendwie so etwas?" 

Alice quält sich ein „Ja" heraus. Ronja versucht so schnell wie möglich, aber auch ruhig in die Küche zu gelangen. Es bringt nichts, wenn beide unruhig werden. Sie tastet sich voran. In diesem Moment dankbar, dass die Wohnung eher klein und übersichtlich geschnitten ist, kommt sie bei der Küche an. Weiter tastet sie alles vorsichtig ab, versucht den Kühlschrank zu finden, will ein Kühlpad oder EiswürfelHauptsache etwas total Kaltes – für Alice finden und holen. Kälte tut gut. Sie meint, den Griff des Kühlschrankes ertastet zu haben, öffnet ihn. Oben oder unten? Wo ist nun das Eisfach? Sehr weit oben. Nächste Herausforderung, gerade so schafft sie es daran zu kommen und greift direkt etwas, dass sich nach Kühlpads anfühlt. Alles wieder zufallen lassen und zurück. 

Im Wohnraum ruft sie Woody, er soll ihr helfen, sie vorsichtig zu Alice zu führen. Geschafft. Sie hebt Alices Kopf leicht an, legt ihn auf ihren Schoß, legt ihr – in der Hoffnung, dass es eins ist – ein Kühlpad neben den Kopf und das andere neben ihre Hand, falls sie es haben möchte. 

Woody legt sich zu Alice, aber nicht zu nah, er weiß, dass sie ihn lieb hat und Hunde merken bekanntlich, wenn es anderen Lebewesen schlecht geht. Er möchte auch da sein. 

„Ganz ruhig Alice. Das wird gleich vorbei sein. Bleib einfach liegen. Ganz ruhig einatmen und ausatmen. Sobald du merkst, dass du etwas ruhiger wirst, atme tief, aber ruhig ein und auch aus. Vergiss nicht, auch auszuatmen." Ronja macht es einmal vor. 

„Achte dabei auf deinen Atem, lass alles anderes los. Versuche es. Achte nur darauf, wie er eingesogen wird ... und wie er deine Lungen befüllt ... Wie er durch deine Nase an deinen Nasenflügeln vorbei auch wieder hinaus strömt ... Versuch dich nur darauf zu konzentrieren ... Atme tief und ruhig ein ... und wieder aus ... Wenn dir das hilft, kannst du deine Hand auf deinen Bauch legen, um deine eigenen Atemzüge zu spüren, ob du wirklich ruhig und tief ein- und ausatmest ... Beim Einatmen wirst du spüren, wie sich dein Bauch ausdehnt und beim Ausatmen wieder zusammenzieht." 

Ronja wiederholt das noch einige Male, bis Alice ihre Panikattacke überwunden hat. Beide völlig erschöpft, hilft Ronja ihr auf und Alice legt sich auf ihr Sofabett. 

„Soll ich dich jetzt lieber alleine lassen?", fragt Roja besorgt nach. 

„Aber wie kommst du nach Hause?" 

„Es gibt einen Routenplaner, der mir ins Öhrchen sagt, ob ich rechts, links, geradeaus oder doch wieder umdrehen muss", antwortet sie souverän mit einem kleinen Grinsen. 

„Okay." 

Alice ist schon fast eingeschlafen, bewegt sich dann noch einmal, um Ronjas Hand ergreifen zu können und bedankt sich. Für mehr ist Alice an diesem Tag nicht mehr imstande. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top