[13] 13|Samstag

Ronja spürt beim Aufwachen, wie unruhig sie geschlafen haben muss. Ihr tut alles weh. Ihr Körper fühlt sich so matt und ausgelaugt an, als hätte sie die Nacht durchgemacht. 

Woody hätte sich heute gerne mehr Zeit lassen können mit den Puschen. 

Sie quält sich aus dem Bett, schleppt sich ins Badezimmer und entscheidet sich für eine Dusche. Vielleicht hilft das ja. Entgegen ihrer Hoffnung fühlt sie sich noch ausgelaugter, als hätte die Dusche zum Ziel gehabt, diesen Zustand zu unterstreichen und das 'Beste' aus eben diesem herauszuholen. 

Mühsam zieht sie sich ein Teil nach dem anderem an, bis sie endlich losgehen kann. Da fällt ihr ein, dass sie ihr Handy noch gar nicht kontrolliert hat. 

Klick. Aber nein, keine Nachrichten, keine Mails und auch keine verpassten Anrufe. 

„So Woody, was hältst du davon, mich bis zu Joe zu schleifen?" Sie wartet auf eine Reaktion von ihm. „Ach nicht so viel?! Schade." Woody versteht wohl nur, dass es nun losgehen soll und steht bereit vor ihr. Na gut, dann gehe ich eben, resigniert sie, öffnet die Tür und marschiert los. 

◦◦◦◦◦◦

Nach einem kurzen Innehalten, indem sie versucht ihre Kräfte zu mobilisieren, drückt sie die Klinke herunter. 

„Hallo. Ähm Ronja, bist du es? Du siehst ja ganz schön gequält aus, wenn ich das sagen darf", begrüßt Joe sie, sobald sie seine Bäckerei betritt. 

„Ja, hey Joe. Lieben Dank. Gerne später Komplimente." 

„Komm setz dich doch mal ausnahmsweise." 

Ronja setzt sich auf den Stuhl, zu dem er sie hinführt und wartet auf ihren Café. 

„So Liebes. Hier dein Café." Liebes? Dann schau ich wohl wirklich daneben aus. 

„Ach danke Joe." 

„Was ist denn nur los in letzter Zeit?" 

„Ich mache mir Sorgen um eine Freundin. Aber was das mit mir macht, ist schon heftig. Das weiß ich auch. Aber wird schon wieder." 

„Um irgendeine Freundin? Oder jemand bestimmtes?" 

„Um eine gute Freundin." 

„Möchtest du reden?" 

„Über ihre Sorgen kann ich nicht reden und warum ich gerade so down bin, das kann ich selbst noch nicht richtig in Worte fassen. Aber danke." 

„Sag Bescheid, wenn ich was für dich tun kann. Okay?" 

„Mach ich, danke." 

„Aber das ist doch klar." 

„Ich wollte dich aber noch etwas anderes fragen. Ach, aber ich habe Elmar noch gar nicht gefragt, ob das okay wäre. Hm." 

„Wer ist Elmar? Hast du doch noch einen anderen Bäcker?" Joe lacht. 

„Ach quatsch. Elmar ist ein junger Mann, der am Dienstag 18 Jahre alt wird. Alice und ich laden ihn ins Le Petit ein." 

„Aha. Und woher kennt ihr diesen jungen Mann?" 

„Das ist eine lange und auch irgendwie komische Geschichte. Aber er ist halt auch ein besonderer Mensch mit seiner eigenen Besonderheit, wenn du verstehst und wir wollten das für ihn machen. Er freut sich auch schon darauf." 

„Okay. Du halt. Und was wolltest du mich nun fragen, was du aber noch gar nicht mit Elmar besprochen hast?" 

„Na ja, ob du dazu kommen magst. Ich weiß ja gar nicht, ob du dir die Freiheit herausnehmen kannst, an einem Dienstag am Mittag ins Le Petit zu gehen, also wegen deiner Arbeit." 

„Warum würdest du wollen, dass ich mit hinkomme? Also nicht, dass ich dem abgeneigt bin, aber es erschließt sich mir nicht. Ich kenne ihn doch gar nicht." 

„Elmar hat, glaube ich, nicht wirklich Freundschaften. Er wohnt in einem Betreuten Wohnen, hat in unseren ganzen Gesprächen nicht einmal was von anderen Freundschaften erzählt und es scheint mir nicht so, dass er viel mit den anderen aus der Wohngruppe unternimmt. Ein Anzeichen wäre vielleicht auch, dass er seinen Geburtstag mit Alice und mir verbringt, obwohl wir uns erst seit Kurzem kennen. Ich dachte, es könnte ihn freuen, wenn noch jemand da ist." 

„Frag ihn. Und ich regle das mit dem Laden. Und wenn er Ja sagt, komme ich mit hin. Und wenn er Nein sagt, habe ich einen Mittag frei." 

„Danke Joe. Du bist lieb." 

◦◦◦◦◦◦

Ronja geht die Parkrunde entlang, aber ohne sich hinzusetzen. Sie befürchtet zu sehr, nicht mehr von der Bank hochzukommen. Außerdem ist heute noch arbeiten angesagt, bei der sie gewissenhaft und geistig anwesend sein möchte. 

Wieder zu Hause klatscht sie sich kaltes Wasser ins Gesicht. Wenigstens einen kurzen Effekt kann es erzielen. Mit dem Laptop richtet sie sich darauffolgend ihren Arbeitsplatz heute auf der Terrasse ein. Immerhin kann ich ja dann hier draußen an der frischen Luft sitzen. 

Es geht so weiter ... Wieder einige Neuanfragen und die bisherigen E-Mail-Beratungen werden intensiver. Aber sie hat eine Mail von ihrem Verein, eine Antwort auf ihre Anfrage. Sie kam bereits gestern. Endlich. Die öffnet sie als Erstes. 


Guten Tag Frau Flemming, 
Wir freuen uns, dass das Angebot so gut angenommen wird und nehmen uns Ihren Wunsch sowie Ihre Anregungen zu Herzen. 
Wir hoffen, dass Sie verstehen können, dass wir nicht direkt in die Handlung gehen können. Auf unserer baldigen (18.05.) angesetzten Vorstandssitzung haben wir Ihr Anliegen mit aufgenommen und hoffen Ihnen bald ein Ergebnis präsentieren zu können. 
Wir sind froh, Sie als Mitarbeiterin zu haben und möchten Ihnen mitteilen, dass die Rückmeldungen durchweg positiv waren. 
Vielen Dank und mit freundlichen Grüßen 
A. Forster und B. Decker 

Sie nimmt die Mail dankend und anerkennend zur Kenntnis und wartet einfach mal bis nächste oder übernächste Woche ab. Der 18.05. ist ein Donnerstag. Sie ist gespannt, was da heraus kommen mag. Sie verspürt ebenso Stolz und Glück. Dafür, dass die beiden sich so positiv über sie geäußert haben. Ja, das habe ich mir auch verdient. 

Etwas energiegeladener dadurch kann sie sich an ihre Arbeit machen. Zunächst sortiert sie die Mails nach Terminarten: bereits Aufgenommene und Neuanfragen. Die Ersteren kommen jetzt, falls im Anschluss noch Zeit oder wenn es möglich ist, beginnt sie parallel E-Mails ihrer bestehenden Klient*innen zu beantworten und später am Tag wird sie allen weiteren schreiben. 

◦◦◦◦◦◦

Mit dem Wissen, dass noch viele Arbeitsmails auf sie daheim warten, geht sie los zum Hafen, zu ihrem Treffen mit Elmar.
Auf dem Weg fragt sie sich, ob Alice heute da sein wird. Und wenn nicht, ob sie sich ernstere Sorgen machen solle oder müsse? Erst einmal abwarten. Vielleicht ist sie heute da. Erst einmal mit Elmar treffen. 

„Hey Elmar." 

„Hallo Ronja. Woher wusstest du, dass ich da bin?" 

„Na wie du sagtest, wir beide nehmen Dinge anders wahr. Was macht dich denn besonders, Elmar, wenn ich fragen darf." 

„Meine Wahrnehmung." 

„Kannst du das genauer beschreiben oder nicht?" 

„Nur, wenn ich schreibe." 

„Oh, wie schön. Du schreibst also auch?" 

„Ja gerne sogar. So kann ich Dinge losbekommen." 

„Ja, das kenne ich. Also ich würde es gerne erfahren. Wenn du es mir erzählen möchtest, gebe ich dir das nächste Mal meine Mailadresse mit, dann kannst du mir eine Mail schreiben. Wäre das okay?" 

„Ja, das geht." 

„Danke. Ich wollte dich noch was fragen. Ist es okay, wenn ich noch einen Freund zu deinem Geburtstag einlade?" 

„Weiß ich nicht." 

„Also Joe ist echt nett. Und er hätte Lust, hat er gesagt. Aber wenn du das nicht möchtest, ist es okay." 

„Warum?" 

„Warum du das entscheidest?" 

„Nein." 

„Warum er Lust hat zu kommen?" 

„Ja." 

„Weil ich von unseren Treffen erzählt und ihm gesagt habe, dass du nett bist." 

„Okay." 

„Also darf ich Joe einladen?" 

„Ja." 

„Und das ist wirklich in Ordnung für dich, Elmar? Es ist dein Geburtstag." 

„Ja, wirklich." Ein leicht kichriger Ton begleitet seine sanfte Stimme. Sie lässt es kurz auf sich wirken. Es wirkt ehrlich. 

„Okay schön." 

„Bis morgen Ronja." 

„Bis morgen Elmar." 

◦◦◦◦◦◦

Ab zum Le Petit und schauen, ob Alice da ist. Kurz vor dem Café macht sie Halt und befragt ihre Uhr nach der aktuellen Zeit. Es ist 11:58 Uhr. Das bedeutet, wenn sie da ist, wird Alice sehr schnell mit am Tisch sitzen. Daran werde ich es dann merken. Wenn nicht, geht sie heute ohne etwas zu bestellen nach Hause. Da warten sowieso noch ein Haufen E-Mails, die abgearbeitet werden wollen, aber Alice wäre ihr wichtiger. Zunächst nimmt sie ihren Platz ein und hofft unbemerkt zu bleiben, falls Alice nicht da ist. 

Klick, es ist 12:06 Uhr. 
„Na Woody, dann können wir jetzt auch gehen." 

Doch da hört sie nun schon Schritte auf sie zukommen. 

„Hallo. Ich dachte, heute bin ich mal so nett und komme raus zu Ihnen. Alice ist immer noch krankgeschrieben. Ähm, ich meine nicht auf Arbeit", begrüßt sie die Mitarbeiterin von gestern, was Ronja an der Stimme sowie dem Klang festmachen kann. 

„Keine Sorge, ich habe das überhört. Aber das ist echt lieb von Ihnen, dass Sie raus kommen. Ich wollte tatsächlich gerade aufstehen und wieder losgehen. Aber nicht wegen Ihnen. Ich wollte nur vorbeikommen und herausfinden, ob Alice wieder da ist." 

„Kommen Sie denn sonst nur wegen Alice?" 

„So würde ich das nicht unbedingt sagen, aber ja, seit ein paar Wochen verbringen wir ja auch ihre Feierabende hier gemeinsam. Wir mögen uns. Ist das schlimm?" 

„Nein, natürlich nicht." 

„Gut. So, dann hoffe ich, dass es Alice schnell wieder besser geht. Ich konnte sie leider nicht erreichen." 

„Ja, das hoffe ich auch." 

„Auf Wiedersehen." 

„Auf Wiedersehen." 

◦◦◦◦◦◦

Wieder in ihrer Wohnung angekommen, erklatscht sie sich zunächst die Uhrzeit und bereitet sich dann, da es erst 12:31 Uhr ist, in aller Ruhe auf ihre anstehenden E-Mail-Beratungen und Beantwortungen vor. 

Die Ruhe birgt Zweierlei. Letztens dachte sie schon, dass sie mehr Zeit als üblich benötigte, aber heute fühlt sie sich, als würde sie jegliches in Zeitlupe tätigen. Jede erdenkliche Bewegung kostet sie überaus viel Kraft. Somit entscheidet sie sich bewusst, alles von vornherein langsamer zu machen und denkt vorher darüber nach, was sie auf dem Weg, den sie in ihrer Wohnung macht, alles braucht und machen kann, anstatt noch einmal aufstehen zu müssen. Und das Zweite ist, dass ihre Gedanken in der vielen Zwischenzeit immer wieder zu Alice schwirren. Wie schlecht geht es ihr? Ist sie erkältet? Hat es etwas mit dem Baby zu tun? Was ist nur los? 

Als sie mit der Vorbereitung fertig ist, setzt sie sich mit dem Laptop, ihrem Handy, einem Café sowie Ingwertee auf ihre Terrasse. 

Noch fünf unbeantwortete E-Mails von Klient*innen und sieben Neuanfragen. Ordentlich Arbeit, die sie immerhin für diese Zeit von den Sorgen um Alice ablenken kann.

Zunächst schickt sie jedoch die Bestellung an motley's weg, damit sie diese am Montag abholen kann. Dann geht es an die erste der unzähligen – gefühlten nicht endenden – E-Mails. Vor den Neuanfragen legt Ronja eine Pause ein. Ihr fällt auf, dass sie heute ihr Croissant ausfallen lassen hat und anstelle dessen nichts anderes gegessen hat. 

Sie holt sich einen Apfel und eine Banane aus der Küche. Zudem füllt sie ihren Café noch einmal auf. Den Apfel isst sie jetzt, die Banane für später. Sie trinkt achtsam, auch etwas, was sie für sich lernte und eine gute Methode zur Selbstentschleunigung ist. 

Als sie sich bereit fühlt, beendet sie die Pause und fängt mit den Neuanfragen an. Trotz ihres Aufnahmestopps neuer Klient*innen für die Telefonberatung hört sie sich jede E-Mail an. Denn gegebenenfalls geht es lediglich um E-Mail-Beratung oder ein einmaliges Telefonat. 

Die ersten drei Neuanfragen sind Anfragen für Telefonberatungen, die darauffolgende möchte lediglich per Mail Kontakt haben, die nächsten zwei sind wieder Telefonberatungsanfragen. 

Und die Letzte verwirrt sie. Damit hat sie nun nicht gerechnet. Alice hat ihr eine Mail geschrieben – auf ihre Arbeitsmail. Die ist nicht vor langer Zeit eingegangen. Hatte die Mitarbeiterin aus dem Café Alice darauf aufmerksam gemacht? Ach bestimmt nicht. Zunächst beantwortet sie alle anderen, je nach Lage der Situation. Dann lässt sich die von Alice noch einmal vorlesen. 


Hallo Ronja, 
es tut mir wirklich sehr leid. 
Erst schreibe ich dir, dann ist mein Handy aus. 
Du musst doch denken, dass ich bescheuert bin. 
Ich kann es verstehen, wenn du keine Lust mehr auf mich hast. 
Ich mag dich und hoffe, dass du mir vergibst. 
Ich hoffe, du vergibst mir, dass ich dir auf deine Arbeitsmail schreibe, so fällt es mir leichter, als wenn wir telefonieren. 
Ich habe Angst und fühle mich schwach. 
Ich bin erst oder schon 25 Jahre alt und ich bin so schwach. 

Du bist so toll und für mich da und ich ... 
Wie soll ich jemals eine gute Mutter werden? 
Meine war es auch nicht. Nach wem soll ich mich richten? 
Das will ich niemanden antun! 
Alice 


Sie hat sich gemeldet, Ronja fühlt sich erleichtert. Gleichzeitig wird ihr Herz vom Kummer überzogen, sie hat nie den Gedanken gehabt, dass Alice eine schlimme Mutter werden würde. Allein wie sie Alice im Umgang mit Elmar wahrgenommen hat, wie liebevoll sie da ist und einfühlend. Sie empfindet Alice generell als eine sehr empathische und mitfühlende sowie einfühlsame Person, die auf die Bedürfnisse der anderen Menschen achtet, nur manchmal zu wenig auf ihre eigenen. Aber vielleicht hängt es mit ihrer Vergangenheit zusammen, dass sie es von sich selbst denkt. 


Hey Alice, 
ich bin dir doch nicht böse oder so was. 
Ich freue mich von dir zu hören. Ich habe mir Sorgen gemacht. 
Ob du das annehmen kannst oder nicht, ob du das glaubst oder nicht, für mich ist es so: 
Für mich bist du eine sehr empathische und mitfühlende sowie einfühlsame Person, die auf die Bedürfnisse der anderen Menschen achtet. Wie du auf die Menschen eingehst und zugehst, wie du Schwingungen wahrnimmst, das ist besonders, wie du mit Elmar gesprochen hast, die Idee mit seinem Geburtstag. 
Und ich denke, dass Angst haben, etwas völlig Normales ist, nicht schön, aber normal. Wenn du das möchtest, bin ich für dich da. Und die Beraterin gibt es auch. Egal wofür du dich entscheidest, da kannst du hingehen und deine Sorgen besprechen. 
Gehst du morgen eigentlich wieder zur Arbeit? 
Ich frage nur, wenn nicht, können wir uns gerne morgen um 11:20 Uhr beim Hafen mit Elmar treffen und dann können wir beiden zu mir gehen, denn ich möchte gerne ein Bild für Elmar zum Geburtstag malen und ich brauche und möchte deine Hilfe. 
Ganz liebe Grüße 
Ronja 


Da wartet Ronja die ganze Zeit am Laptop, hoffend auf eine Antwort von Alice, um dann ein Pieps von ihrem Handy zu hören, um dann aber freudig ihre Nachricht zu vernehmen. 


Alice: 
»Ich komme gerne morgen.
Danke. Bis morgen am Hafen.
Liebe Grüße, Alice.« 


Bis morgen. Mit einem – vermutlich verträumten – Lächeln bemerkt Ronja, wie ihr Gemüt sich immer mehr und mehr legt, sie sich beruhigen kann und die Freude wieder durchschimmert.

Da sie überhaupt nicht einschätzen kann, wie spät es ist, klickt sie an die Seite des Handys. Es ist 19:30 Uhr. Doch schon so spät jetzt. Sie schaltet ein anderes Hörbuch über das Programm am Laptop an, damit Woody noch ein bisschen im Garten sein kann. Gleichzeitig genießt sie den Abend auf der Terrasse mit dem Rest des Tees und lauscht der wohltuenden Stimme.

Gegen neun Uhr abends hat sie die Müdigkeit und Erschöpfung so fest gepackt, dass sie alles ausmacht, Woody in die Wohnung holt und sich ins Bett legt und direkt einschläft. Nicht ohne noch einmal an Alice zu denken. Hoffentlich geht es ihr besser. 

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