[12] 12|Freitag

Sonst so fröhlich, heute etwas betrübt. So steht Ronja auf. Statt wie sonst direkt ins Badezimmer zu gehen, schlendert sie ins Wohnzimmer und fragt ihr Handy hoffnungsvoll. Keine neuen Nachrichten. Keine verpassten Anrufe. Nichts. Bleibt es bei der Verabredung? Werde ich Alice heute überhaupt sehen? Ist sie im Café? Soll ich sie jetzt versuchen anzurufen? Komme ich dann aber nicht eher aufdringlich rüber? Ein Morgen voller Sorgen und nicht beantwortbarer Fragen für Ronja. Trotz dessen sollte sie nun ins Badezimmer gehen und sich frisch machen. 

Schon recht spät dran an diesem Morgen, daher lässt sie Joe heute aus, sie war ja gestern schließlich doch da. Warum mache ich mir eigentlich regelmäßig Gedanken darum, was mit Joe und unseren Treffen ist? Im Park setzt sie sich auf die Bank, um sich kurz Ruhe und Entspannung gönnen zu können. 

Sie schließt ihre Augen und beginnt mit der Atemübung, nur dieses Mal stellt sie sich Energie beim Einatmen vor und lässt Unruhe beim Ausatmen los. 

Je nach Bedarf kann sie mittlerweile die Begrifflichkeiten an die Situation entsprechend anpassen. 

◦◦◦◦◦◦

Nur ein kurzer Aufenthalt heute zu Hause, um sich das Gesicht zu benässen und sich zu erfrischen. Noch einmal tief durchatmen und dann macht sie sich wie üblich, lediglich etwas früher auf den Weg zum Hafen. 

Sehnsüchtig kann sie kaum ihren Wohlfühlplatz erwarten, ihre Steinplatten. 

Schon als sie sich hinsetzt, spürt sie etwas mehr Ruhe in sich aufkommen. Besser, denkt sie sich. Eins nach dem anderen, erinnert sie sich. Das wird schon, ermahnt sie sich. 

Atmen. Ein und aus. Spürst du den Atem in deinen Bauch hineinströmen und bis wohin er gelangt?, fragt sie sich, als sie bereits herannahende vertraute Schritte lauschen kann. 

„Hey Ronja." 

„Hallo Elmar." 

„Geht es dir gut? Hast du Bauchschmerzen?" 

„Ich habe ein paar Sorgen, aber keinen Bauchschmerz." 

„Okay." 

„Du hast mir ja schon einiges von dir erzählt. Aber ich hab mich gefragt, was du nach unserem Gespräch immer so machst, den Rest des Tages." 

„Ich gehe Mittagessen in der Wohngruppe." 

„Und danach?" 

„Wieder raus, meistens wieder hierher. Boote und das Wasser anschauen, mich umschauen." 

„Und davor?" 

„Mittagessen in der Wohngruppe." 

„Ich meinte vor unserem Gespräch. Tut mir leid." 

„Komme ich von der Wohngruppe. Heute Kunsttherapie." 

„Oh wie schön, dass ihr so ein Angebot in der Wohngruppe habt. Oder?" 

„Ja doch." 

„Aber?" 

Elmar wird offensichtlich nervös, Ronja merkt das an der Ausstrahlung, die ihr entgegenströmt. 

„Elmar, ist bei dir alles in Ordnung?" 

„Zu viel." 

„Okay, dann lassen wir das." 

„Okay. Bis morgen Ronja. Danke Ronja." 

„Bis morgen Elmar." 

Ronja bleibt noch für einen Moment sitzen, um diesen kurzen Augenblick der ruhenden Gelassenheit aufnehmen zu können, der gerade so aufkommt. 

Sie fühlt sich beruhigter, wieder mehr in Einklang mit sich. Wann sie sich das letzte Mal selbst aus ihrer eigenen Bahn geworfen gefühlt oder werfen lassen hat, das weiß sie gar nicht mehr. Aber sie nimmt es dankbar an, durch solche Phasen werden die inneren Kräfte wachgerüttelt, erneut belebt. Ronja ist auch für mal etwas haarigere Momente dankbar, es sind Erfahrungen, durch die sie lernt, auch wenn es erst einmal schwer und belastende Stunden sind. 

◦◦◦◦◦◦

Ein wenig mehr zu sich zurückgekehrt, erhebt sie sich und geht mit Woody zum Le Petit. 

Sie befragt ihre Uhr, wie spät es ist. Diese verrät ihr, dass es 11:43 Uhr ist. Es ist noch ein wenig Zeit, bis Alice Feierabend hat. 

Sie setzt sich an ihren Tisch. An den Tisch im Le Petit, an dem sie immer sitzt, das ganze Personal sowie die anderen Stammgäste wissen Bescheid, dass sie, die blinde Frau mit dem Begleithund immer, fast jeden Tag, um diese Uhrzeit herkommt und sich hierhin setzt. Die Gäste bestehen hauptsächlich aus Stammgästen, manchmal holen sich noch Weitere etwas To-Go, wie der Mensch es heute zu sagen beliebt. Bei angenehmem Wetter sitzt sie draußen, nur bei unaushaltbarer Eiseskälte oder strömenden Regen nimmt sie drinnen Platz. Der Tisch ist am Rande, sodass Ronja sich nicht durch viele Gäste hindurch zwängen muss mit ihrem recht großen Hund. Und sie hat keinen langen Weg, weder beim Ankommen noch um auf die Toilette zu gelangen oder beim wieder Weggehen. Sollte es passieren, dass tatsächlich mal jemand anders an ihrem Tisch sitzt, machen andere Gäste die Person freundlich darauf aufmerksam, sobald Ronja in Sicht ist. Bisher lief es immer gütig und harmonisch. 

Alice kommt nicht zum Tisch, niemand fragt sie nach ihrer Bestellung. Langsam wird es für Ronja merkwürdig. Ist der Laden offen oder zu? Noch zwei Minuten wird sie abwarten. Sie stellt sich auf ihrem Handy einen Timer für diese zwei Minuten, aber ohne Ton, nur mit Vibration. 

Brumm brumm ... Okay, dann eben anders. 

Sie holt ihren Stock heraus und geht Richtung Toilette. Ja, ich tue einfach so, als müsste ich das WC aufsuchen. Sobald sie jemandem begegnet, kann sie Bescheid sagen, dass sie auch gerne bestellen würde. Sie öffnet die Tür zum Café. Unmittelbar kommen ihr Stimmen entgegen, sie kann hören, wie sich Menschen unterhalten, Alice Stimme nimmt sie nicht wahr. An der Theke bleibt sie kurz stehen. 

„Ja?" 

„Bin ich gemeint?" Ronja deutet auf ihre Augen. 

„Ja. Tut mir leid." 

„Ich sitze schon ein bisschen länger draußen. Es kam noch niemand. Ich würde gerne bestellen." 

„Na ja, eigentlich bestellen die Gäste bei uns drinnen und setzen sich dann." 

„Ach echt? Das wusste ich nicht. Das musste ich noch nie machen. Ich komme schon seit Jahren fast täglich her." 

„Alice weiß ja, was Sie bestellen und sie bringt es Ihnen dann immer raus, richtig?" 

„Ja genau. Hat Alice heute frei?" 

 „Alice ist nicht da." 

„Das wusste ich nicht. Kommt sie denn noch?" 

„Sie ist heute nicht da, mehr darf ich Ihnen nicht sagen." 

„Ja klar. Tut mir leid." 

„Was möchten Sie denn bestellen? Dann bringe ich es Ihnen gleich raus." 

„Ich hätte gerne ein Croissant und einen großen Latte Macchiato. Vielen Dank." 

Ronja legt ihr das Geld hin und bittet sie, das Wechselgeld mit hinaus zubringen. Dann wendet sie und geht den gleichen Weg heraus, wie sie auch rein kam.

Keine Alice heute, auch kein Besuch bei ihr. Ihre Sorgen entfachen etwas, Ronja versucht ruhig zu bleiben. Sie setzt sich wieder an ihren Tisch und überzeugt sich davon, dass Woody noch da ist.

Du weißt nicht, was los ist, ermahnt sie sich wieder. Jetzt bleib verdammt noch mal ruhig, fordert sie sich auf, wobei sie sich ein wenig mit der linken Hand über das Herz massiert. 

Die Kellnerin bringt Ronja sowohl das Bestellte als auch ihr Wechselgeld. Ronja nimmt es dankend entgegen und fühlt, was sie zurückbekommen hat, nicht, weil sie ihr nicht vertraut, sondern weil sie etwas davon wiedergeben mag, als Trinkgeld. 

Sie bedanken und verabschieden sich gegenseitig. 

◦◦◦◦◦◦

Nun sitzt sie hier, alleine und hat keine Ahnung, was mit Alice ist. Sie nimmt einen großen Schluck von dem Café, als könne dieser die Sorgen mit hinunter spülen. Doch das klappt nicht. Sie sind noch da. Warum geht es mir so verdammt nahe? Das Croissant schafft sie kaum zu essen. Den Café schlürft sie lieblos daher. 


Ronja: 
»Ich will dich nicht nerven, 
ich mache mir Sorgen. Ich 
würde mich über eine kurze 
Nachricht freuen. Ich denk an 
dich. Liebe Grüße, Ronja.« 


Abwarten. Aber das Grauen hier will sie sich nicht länger antun und beschließt, den Rest stehen zu lassen und nach Hause zu gehen. 

Zu Hause murmelt Ronja sich in eine Wolldecke auf dem Sofa ein. Zuvor hatte sie bereits die Tür zur Terrasse geöffnet und sich einen Tee gekocht sowie ihr Hörspiel an der richtigen Stelle gestartet. So verbringt sie den Abend und findet darin ein wenig Ruhe für sich. 

Von Alice kommt entgegen Ronjas Hoffnungen nichts mehr. 

Als es schon viel zu spät ist, schlendert Ronja rüber ins Schlafzimmer und fällt direkt in den Schlaf. 

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