[33] 22|Freitag
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Wir bekommen das hin. Das wird schon.
Ronja ist so aufgewühlt, dass der Morgen – nein, es ist bereits seit letzter Nacht – an ihr vorbeizuschweben scheint. Als wäre sie nur eine Zuhörerin ihres eigenen Lebens, die versucht, ihre Gedanken einzufangen, die ihr mit jedem Hauch wieder entrissen werden. Und sie sitzt weiterhin dort.
Sie schüttelt mit dem Kopf.
Ein Laut holt sie zurück in die Umgebung, in der sie sich befindet. Im Park. Auf der Bank mit Nika. Nika. Ihr kleines großes Glück.
„Pscht ..." Gleichzeitig streichelt sie über Nikas Rücken.
Können sie ihn wirklich ernst nehmen? Ist es nun wirklich so? Soll es das nun gewesen sein?
Eine laue Brise weht gerade und bringt ihnen beiden einen süßlichen Duft, der sie direkt an Alice erinnert. Alice. Sie ist gerade im motley's arbeiten. Das würde sie selbst gerade nicht schaffen. Nach gestern.
Es dauerte am Vortag ewig, bis sie verstanden hatte, was Alice ihr sagen wollte.
„Er will das nicht mehr. Soll bei uns bleiben", waren die ersten Worte, bei denen sie hoffte zu begreifen. Doch ihrer Freude wollte sie in dem Moment noch keinen Raum schenken. Alice war so durcheinander, dass sie Angst hatte, etwas falsch zu verstehen. So sehr, dass sie tatsächlich nachfragte, wer bei ihnen bleiben solle. Nun klatscht sie sich bei dem Gedanken gegen die Stirn. Es war doch offensichtlich. Verkackte Angst.
Aber können sie ihm vertrauen? Was, wenn er morgen wieder anders darüber denkt? Das kann so nicht weitergehen.
Nachdem sie sich wirklich sicher war, Alice es ihr mehrmals bestätigte, konnte sie nicht mehr stark bleiben. Krampfhaft presste sie zunächst ihre Lippen aufeinander, doch das, was von ihr in diesem Augenblick abfiel, war so gewaltig, dass es den Damm zum Einsturz brachte. Er spülte alles fort, gleichzeitig trug er alles an die Oberfläche, was sie in letzter Zeit versuchte, zu unterdrücken. Sie ließ sich in Alice' Arme fallen.
Während sie auf den Lieferdienst warteten, machte Alice schon einmal für heute einen Termin bei Frau Winter aus. Zum Glück hat das geklappt! Und bei Pat gab sie Bescheid, dass sie heute nur verkürzt und früher kommt.
Danach werden sie zur Beratungsstelle gehen. Gemeinsam.
Gewissheit, das braucht sie.
Unglaube, dann Freude, doch seit letzter Nacht plagen sie wieder Zweifel. Was ist, wenn er sich wieder umentscheidet? Oder wenn er das zwar Alice geschrieben hat, aber sonst niemanden so mitgeteilt hat? Wie geht es weiter?
Er will das nicht. Er will kein Sorgerecht. Keine Verantwortung.
Ob ihm bewusst geworden ist, was er dann alles tun müsste? War das nicht vorher klar? Ronja braucht ganz dringend Klarheit.
Klick. Sie erschreckt. Mittlerweile ist es doch schon 11:16 Uhr.
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Krieg dich mal ein!, meckert Ronja sich selbst an. Seit nun etwa zehn Minuten sitzt sie am Hafen und benimmt sich so, als wäre sie noch nie dort gewesen. Haut gegen den Stein der Treppe an, setzt sich fast daneben, lässt ihren Stock auf den Boden fallen, ... Als sie wieder alles beisammen hat, will sie einfach in Ruhe auf Alice und Elmar warten, wünscht sich, dass egal wer von den beiden gleich ankommt.
Doch mit Ruhe hat das nichts zutun. Andere denken wahrscheinlich, sie würde für eine Show im Zirkus oder Pantomime üben, so à la: Wie sieht es aus, wenn eine Ameisenkolonie über deinen Körper wandert?
„Elmar!", ruft sie aus, nachdem sie die bekannten wohligen Schritte gehört hat.
„Hallo Ronja."
„Hey", setzt sie noch mal nach.
„Juckt es dich? Hast du irgendetwas?", fragt er tatsächlich. Ein Grinsen kann sie jedoch aus seiner Stimmfarbe ausmachen.
„Ha. Ha. Ich bin etwas ... hm ..."
„Zappelig?"
„Ja hast recht. Und wie geht es dir?"
„Ganz okay. Das Wetter ist gut."
„Stimmt", bemerkt Ronja erst jetzt so richtig und spürt, wie die Sonnenstrahlen auf sie treffen. Ihr Gesicht dreht sie leicht zur Seite, um ebenso das Aroma vom erblühenden Frühling einsaugen zu können, welches der Wind mitbringt.
„Heute Beratungsstelle?"
„Ganz richtig, Elmar", antwortet Alice, die gerade an sie beide herantritt.
„Hallo Alice", begrüßt er sie.
„Hallo ihr zwei. Wartet ihr schon lange?"
„Ronja ja. Ich nicht."
„Tut mir leid, Ronnie. Pat musste unbedingt noch einmal zur Apotheke rüber und ich wollte nicht, dass er wieder so etwas Komisches macht, wie ... na ja, von dem du erzählt hattest."
„Besser ist es." Ronja ist gar nicht böse, muss sogar schmunzeln an die Erinnerung mit Pat. Pat eben.
„So, Elmar. Wir müssen auch schon leider weiter. Aber wir sehen uns dann am Sonntag", verabschiedet sich Alice.
„Ja. Ich freue mich drauf. Bis Sonntag ihr beiden."
„Bis Sonntag Elmar."
„Ronja?"
„Ja, Elmar?"
„Das wird schon."
„Danke." Danke Elmar, setzt sie in Gedanken noch einmal nach.
◦◦◦◦◦◦
Still und schweigend gehen sie den Weg zur Beratungsstelle. Der Weg kommt Ronja mindestens doppelt so lang vor wie sonst.
„Was, wenn ...?"
„Nicht, Ronnie."
„Aber ..."
„Bitte Ronnie."
„Okay."
„Wir sind gleich da. Dann wissen wir mehr."
Sie hat ja recht, stimmt sie ihr gedanklich zu. Boah, dieser Weg. Er zieht sich. Das ein oder andere Mal denkt sie, sie hätten schon einbiegen müssen. Aber da weder Woody noch Alice einlenken, liegt sie damit wohl falsch.
Dann endlich – gefühlt eine Ewigkeit später – gelangen sie an der Tür zur Beratungsstelle an. Frau Winter wartet schon im Eingangsbereich und begrüßt sie freundlich. Doch die aufgeregte Schwingung entgeht Ronja nicht. Nur ob es eine positive oder negative Tendenz innehat, kann sie nicht ausmachen.
Alice und sie folgen ihr ins Beratungsbüro, in dem sie sich alle hinsetzen. Frau Winter nimmt sich auch heute die Zeit, zunächst jedem etwas zu trinken, einzuschenken und nach dem allgemeinen Wohlbefinden zu fragen.
Geduld. Geduld. Geduld.
Dann hört Ronja, wie eine Akte aufgeschlagen wird. Mit diesem Klang erhöht sich ihr Herzschlag um ein Vielfaches. Was kommt jetzt?
„Bevor ich Ihnen meine Einschätzung gebe, möchte ich noch einmal in Ruhe hören, was sich alles seit unserem letzten Termin zugetragen hat", äußert sie mit einer ausgeglichenen Stimme.
„Er will das Sorgerecht nicht", platzt es aus Ronja raus. „Tut mir leid. Sie müssen nichts erklären. Ich weiß schon."
„Es muss Ihnen nicht leidtun. Ich kann Ihre Situation verstehen. Wirklich, Frau Flemming. Vielleicht ist es leichter, Frau Becker, wenn Sie beginnen?"
Sie haben so ein Glück mit ihr. Frau Winter versucht immer wieder auf sie und Alice einzugehen. Während Alice die Ereignisse schildert, probiert sich Ronja weiterhin in Geduld.
Hände gefaltet auf den Bauch legen, ... Einatmen, ... Ausatmen, ...
Und macht ihre Atemübung, fokussiert sich ganz und gar auf ihren Bauch, wie er sich ausdehnt und wieder zusammenzieht, ...
„... Ronnie? Das war es so, in etwa oder?"
Ronja spürt den Blick auf sich und nickt daher lediglich als Bestätigung.
„Okay. Wir können dann endlich das Adoptionsverfahren wieder näher ins Auge fassen, ..."
„Wie?", schreckt Ronja hoch. „Geht das jetzt wieder so einfach? Wir haben doch gar nichts außer die Nachrichten von ihm."
„Ronnie? Hast du eben gar nicht zugehört?"
„Doch ... na ja, vielleicht nur am Anfang. Keine Ahnung. Wieso?"
„Frau Winter meinte eben, dass Tim bereits beim Gericht angerufen und solche Aussagen getätigt hat."
„Mit solche meinst du ... wie in den Nachrichten an dich?"
„Ja."
„Frau Flemming. In der Tat hat er das. Es ist immer noch kein Alleingang, da er das natürlich ebenso schriftlich tätigen muss. Wenn wir jetzt das Adoptionsverfahren wieder aufleben lassen, kann das ein Bestandteil dessen werden."
Ronja kann es nicht fassen. Träumt sie? Ist das real?
„Müssen wir dafür jetzt irgendetwas neu einreichen?", kommt ihr in den Sinn.
„Hah. Nein zum Glück nicht. Wir haben alles zusammen", erwidert Frau Winter ebenfalls wieder etwas lockerer.
Ronja seufzt erleichtert auf.
Okay, ungefähr neun Monate. Vielleicht ein wenig mehr. Hoffentlich.
Sie drückt Alice' Hände ganz fest.
Was auch immer seine Beweggründe sind ... Ist ihr egal, ob es die Finanzen oder andere Verpflichtungen sind ...
Sie hofft einfach nur, dass er es so schnell wie möglich auch schriftlich einreicht ... und dabei bleibt.
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