[24] 13|Mittwoch
◊
Alice und Nika scheinen noch oder wieder zu schlafen. Kurz lauscht Ronja den gleichmäßigen Atemzügen ihrer beiden Lieblinge, doch dann überkommen sie erneut ihre plagenden Gedanken, die sie aus dem Schlaf rissen. Zunächst quälten Ronja Träume, die sie im Bett hin- und herwälzen ließen, bis sie schweißgetränkt aufwachte. Aus ihren Gedankenstrudel befreite sie das leider nicht. Im Bett versuchte sie sich noch zu beruhigen, sich auf ihren Atem zu konzentrieren, ... doch das Zappeln nahm zu ... Wie auch jetzt wieder. Es hat keinen Sinn mehr. Also schnappt sie sich Woody, um mit ihm hinaus in die noch kühle Luft zu schreiten.
Sie muss es akzeptieren. Wieso kommt sie nicht dorthin? Es geht nicht anders, als abzuwarten. Das weiß sie. Sie tapst einen Schritt nach dem anderen, lässt Woody führen. Er weiß schon, wohin es geht. Einfluss darauf kann sie nicht nehmen. Sie haben alles getan, was ging. Frau Winter musste es mitteilen, das war ihr vorher bereits klar. Ihre Angst, ... die wird immer größer. Woody macht Halt. Ihr wird bewusst, dass sie bereits da sind und sie setzt sich. Auf die Bank am See. Herrlich angenehm frisch und klar sowie ruhig. Das Gericht wird nun Wind von Tim bekommen. Sie werden ihn kontaktieren und dann ... Ja, dann wird er wahrscheinlich denen das Gleiche sagen, wie er ihnen sagte. Ist das gut oder schlecht?! Wie oft spann sie das schon durch?! Schlecht, weil er nun mal unbestreitbar der biologische Vater ist. Gut in irgendeinem Sinne, weil er ein wirklicher Vollidiot ist und wenn er das dem Gericht genauso schildert, wie er es ihnen gegenüber äußerte, dann sind seine Chancen nicht unbedingt riesengroß, vor allem nicht, was das Aufenthaltsrecht anbelangt. Was das angeht, sind seine Chancen sowieso nicht riesig. Das ist das Einzige, worin Frau Winter sie etwas beruhigen konnte. Aber was ist mit den Chancen auf das Adoptionsverfahren für Ronja? Die sinken immer weiter, je eher Tim das Sorgerecht wahrnehmen möchte. Ist das gerecht? Was ist schon gerecht in diesem Fall? Aber was können sie dafür, dass er nicht auffindbar war, was können sie dafür, dass es so kam, wie es kam? Vor allem, was kann Ronja dafür? Zumal er so ist, wie er ist. Sie würden ihn ja trotzdem teilhaben lassen, das steht ja nicht zur Debatte, aber er will ihnen Nika wegnehmen und sie müssen um ihre Tochter bangen.
Als sie allmählich beginnt zu frösteln, da es noch sehr früh, die Sonne noch nicht mal aufgegangen ist, steht sie von der Bank auf und geht zurück.
◦◦◦◦◦◦
Auf der Terrasse sitzend, wartet sie mit einer Tasse warmen Tee, bis ihre zwei Liebsten aufwachen und sie den Tag starten können, obwohl sie sich bereits so fühlt, als wäre dieser gelaufen.
Halt und Stopp, versucht sie sich zu besänftigen. Es wird auch wieder besser, sie werden es schaffen. Ja, das müssen sie einfach. Mit diesem Gedanken drückt sie auf Play und horcht nun den wohltuenden Klängen der Natur über ihren Kopfhörern zu.
Ein spürbares Vibrieren, welches über den Boden zu ihr gelangt, reißt sie zurück aus ihrer Fantasiewelt ins Hier und Jetzt. Sie nimmt die Kopfhörer ab.
„Kein Café?"
„Morgen Al."
„Guten Morgen."
Alice schreitet zu ihr hinüber und setzt sich neben sie.
„Wollte dich nicht mit der Maschine wecken. Daher dachte ich, ich warte mal mit Café."
„Wie lange bist du denn schon wach?" Alice rutscht ein Stückchen näher ran.
„Ein paar Stunden."
„Ein paar Stunden ...", wiederholt Alice nuschelnd und fügt dann vorsichtig „... aber bleibts dabei?" an.
Ronja wendet sich überrascht zu Alice, zieht diese in ihre Arme und haucht ihr ihre gemeinsamen Worte zu: „Wir schaffen das, stehen das gemeinsam durch. Wir. Du und ich."
Während der Worte entspannt sich Alice zunehmend, kann sich etwas mehr fallenlassen, schmiegt sich an. Ein Weilchen verbleiben sie so, die letzte Zeit erforderte viel Kraft und Geduld von ihnen, erprobte ihre Beziehung, ihr Familienglück sehr, doch sie wollen es gemeinsam durchstehen.
„So, ich mach uns dann jetzt mal Frühstück, okay?"
„Soll ich dir helfen?"
„Nee, nee. Lass mal. Aber danke."
Während Alice das Frühstück zubereitet, überlegt Ronja, was sie zu zweit mal wieder machen könnten. Die Idee von Alice, so ungalant sie es auch eingefädelt hatte, war wirklich fantastisch. Vielleicht kennt sie ja noch weitere solche Ausstellungen oder sie könnten sich gemeinsam schlaumachen. Sie waren gemeinsam unterwegs, hatten beide Spaß, das war wirklich toll und es würde sie mal wieder auf andere Gedanken bringen, zusammen.
◦◦◦◦◦◦
Gegen Viertel vor zehn Uhr verabschiedet sich Alice von Ronja, da sie mit Nika einen Spaziergang in der Sonne machen möchte und dann auch gleich bei Michel vorbeigeht.
„Grüß mir den ganz lieb", ruft Ronja noch hinterher.
Nachdem sie die Tür ins Schloss fallen hört, nimmt sie noch einen ordentlichen Schluck von ihrem Café und beginnt mit der ersten für heute anstehenden E-Mail-Beratung.
Da ihr zuletzt anberaumter Termin sich verspätet, was durchaus passieren kann und sie deswegen niemandem böse ist, verschiebt sich dieser dadurch aber nach hinten. Daher verfasst sie nun für Oskar eine Mail, dass das Team zwar gern stattfinden kann, aber sie erst etwa 12:30 Uhr am Start ist. Dann packt sie schnell ihre Tasche, damit sie nach dem Meeting so schnell wie möglich loskommen kann.
Dann folgt auch schon die erste Mail des Klienten. Froh darüber, dem Klienten nicht abgesagt zu haben, widmet sie sich nun seinem Anliegen. Ronja bemerkte seit Längerem, dass er betrübter schien, ihn etwas bedrückte oder sogar mehr. Zuvor hatten sie regelmäßige Telefonberatungen, die er plötzlich nicht mehr wahrnahm. Auch ein Grund, warum sie ihm nicht absagen wollte, sie ist froh, dass er den Termin heute, wenn auch eine E-Mail-Beratung, annehmen kann. Sie wollte ihm diese Chance nicht nehmen. Und nun hörte sie in seiner Mail, dass er weiß, dass er lange brauchte, aber er sich dem ebenso bewusst ist, dass er Hilfe benötigt. Er möchte es, schreibt er. Er benennt auch einige gute Gründe. Er möchte eine psychologische Therapie machen, wöchentlich zu einer Psychotherapeutin gehen.
Das ist gut, dass er es schreibt, dass er sich mitteilt. Ronja bestärkt ihn mit ihren Antworten und fragt, was für ihn wichtig wäre sowie ob und wenn, wie sie ihn dabei unterstützen kann.
Ablehnung ist seine Angst. Dass sehende Psychotherapeuten und -Therapeutinnen ihn nicht aufnehmen, weil er nicht sehen kann. Er fragt, ob sie Erfahrung hat, ob sie welche kennt, ob sie mit ihm zusammen suchen kann.
Glücklicherweise kann sie ihn beruhigen, daher schreibt sie ihm, dass es tatsächlich eine Liste im Internet frei verfügbar gibt, auf der Psychotherapeut*innen aufgelistet sind, die selbst von einer Sehbeeinträchtigung betroffen sind; sich auf beispielsweise Sinnesbeeinträchtigungen spezialisiert oder bereits Erfahrungen in ihrer Arbeit gemacht haben. Sie teilt ihm aber auch ehrlich mit, dass er mit einer Wartezeit rechnen müsse, sie ihm bis dahin aber gerne zur Seite steht. Dass er den ersten wichtigen Schritt gerade getan hat und darauf stolz sein darf.
Sie vereinbaren, dass er ab dem nächsten Termin während ihrer E-Mail-Beratungen versucht, immer eine therapeutische Praxis zu erreichen.
Mit einem guten Gefühl kann sie nun ins Team. Die Organisation des Jahresurlaubs sowie der Vereinstermine stehen an. Da ansonsten nichts Wichtiges zu besprechen ist, können sie trotz Verspätung pünktlich um 14:00 Uhr Schluss machen und Ronja muss sich nicht ganz so abhetzen.
◦◦◦◦◦◦
In der Hoffnung, nun alles dabei zu haben, ist sie auf dem Weg zum Hafen. Eigentlich ist es heute jedoch nicht so wichtig. Sie möchte in der heutigen Runde nicht weiter über ihr Projekt sprechen. So richtig weiter kam sie sowieso nicht. Sich von den anderen berauschen und inspirieren lassen, ist definitiv eine angenehmere Vorstellung.
„Hey Elmar."
„Hallo Ronja."
„Geht es dir heute ganz gut?"
„Ist okay. Und bei dir?"
„Genauso."
„Also nicht gut, nicht schlecht?"
„Ja", dabei muss sie schmunzeln.
Auf dem Weg zu »wörterrausch« erzählt er ihr noch, dass Frau Peters ihr wohl eben noch eine Antwort geschickt habe, dass sie Nika mitbringen kann. Er fragt auch, ob sie dann am Freitag kommt. Sie versichert ihm noch einmal das, was sie ihm bereits in der Mail schrieb.
Obwohl sie sich nicht nach draußen sein fühlt, ist sie froh darüber diese Aktivität mit Elmar zu teilen. Heute müsste nur nicht Mittwoch sein ...
„Okay. Nicht gut, nicht schlecht", gibt sie in Elmars Worten wider, wie es ihr heute geht, als sie bei der Vorstellungsrunde dran ist. Sie fügt noch an, dass sie sich für heute mit ihrem Projekt zurückhält. Den Rest des Abends lässt sie sich berieseln.
Erleichtert auf dem Weg nach Hause, weil sie dennoch unterwegs war, ist sie gleichsam froh darum, gleich zu Hause zu sein. Nur etwas verwundert darüber, dass Elmar heute gar nicht zurückbegleitet werden wollte. Vielleicht ein neuer Fortschritt. Das würde sie freuen.
Alice begrüßt sie mit Essen und Tee, was sie herzlich annimmt. Doch dann darf der Abend schnell in die Nacht übergehen. Sie ist einfach erschöpft.
◊
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top