[23] 12|Dienstag

Sie halten zusammen, sie stehen zusammen, sie schaffen das gemeinsam. Immer und immer wieder spult Ronja diese Worte innerlich ab. 

Alice liegt nicht neben ihr. Mal wieder. Sie selbst ging bis eben bereits vier oder fünf Mal die Worte von Frau Winter durch. Nun hält sie sich krampfhaft an die Aussagen, die Alice und sie sich auch am gestrigen Abend noch versprachen, fest. Es wird schwer, verdammt anstrengend, aber was bleibt ihr übrig?! Nika ist ihrs, sie haben es doch versucht, mit Tim zu sprechen. Haben sie es vielleicht nicht ausreichend probiert? Aber was hätten sie noch ertragen, was noch anbieten sollen? 

Ein leises, sehr zaghaftes Klopfen ist zu hören, welches Ronja hochschrecken lässt. 

„Tut mir leid ... Hab ich dich geweckt?" 

„Nein. Wirklich nicht. Bin nur ... Ach egal jetzt." 

Ronja setzt sich schon einmal auf die Bettkante und wartet auf Woody. 

„In Gedanken?" 

„Du nicht?", kommt ihr harscher raus, als sie wollte. 

„Doch schon ..." 

„Sorry Al. Wollte dich nicht ankacken." 

„Keine Sorge, das hat Nika schon erledigt." 

Kurze Pause, doch dann zieht Ronja Alice mit einem Schmunzeln neben sich aufs Bett und schmiegt sich an sie heran. Eins, was sie in ihrer Beziehung lernte und noch zu ihren Ausbaufähigkeiten gehört, ist, dass auch sie sich anlehnen darf, dass es auch ihr schlecht gehen darf. 

„Danke Al." 

◦◦◦◦◦◦

Ganz in Ruhe frühstücken sie, ein Gespräch führen sie dabei nicht, das ist nicht nötig, die Umstände sind, wie sie sind. 

Kurz darauf nimmt Ronja Alice die Kleine ab, um loszugehen und Alice ihren freien Vormittag zu gönnen. 

„Sag bye bye zu Mama." Dabei hält Ronja Nikas kleine Hand hoch und flüstert im helleren Ton ein „bye bye Mama". 

„Bye bye meine beiden Liebsten." 

Dass der Frühling kommt, merkt sie sofort. Der Geruch von frisch erblühten Blumen weht ihr unvermittelt um die Nase. Munter aufseufzend setzt sie ihren Weg mit Woody und Nika zum Park fort, durch den sie langsam schlendert und dabei jegliche Aromen versucht, in sich aufzunehmen. Das tut ihr gut. Unwillkürlich fängt sie an zu grinsen, als sie beim See ankommen. Die Wasservögel schnattern recht wild umher, mal nervt sie das tierisch, heute nicht. Gerade empfindet sie es als begleitenden wohltuenden Klang, dem sie sich noch einige Sekunden hingibt. 

Dann wendet sie und begibt sich auf den Weg zu Joe. Wie hält er das nur aus ... mich mit der Kleinen zu sehen?, fragt sie sich. Ja, er vergöttert sie, aber wie schafft er das nur? Bevor sie die Tür zu seinem Laden öffnet, atmet sie noch einmal tief ein und langsam wieder aus. 

„Ronja, bist du es?" 

„Na wer denn sonst? Habe ich 'ne Zwillingsschwester, von der ich nichts weiß?" 

„Oh oh. Da ist ja jemand richtig gut drauf. Und zu deiner Frage: Wenn, dann wissen wir es beide nicht. Ich bin aber gerade auf dem Boden hinter der Theke, sehe dich also nicht." 

„Ah ja. Okay." 

„Hallo und guten Tag. Wie geht es dir, lieber Joe", näselt Joe vor sich hin, macht dann eine kurze Pause, um mit seiner Stimme fortzufahren. „Ach mensch, ist ja nett von dir, dass du fragst. Mir geht es seit unserem letzten Treffen tatsächlich etwas besser, noch nicht hervorragend, aber besser. Ist ja schon mal was. Und dir so? Ach nicht so gut?! Ja, das ist zu spüren. Du weißt ja Bescheid, dass auch ich zuhören kann. Musst nur was sagen. Also, wenn ..." 

„Ich hab es begriffen. Tut mir leid." 

„Wie bitte?" 

„Es. Tut. Mir. Leid. Liebster Joe." 

„Na geht doch. Ich hatte zwar lieber und nicht liebster erwartet, aber das passt ja noch besser." 

„Ach, du spinnst doch." 

„Findest du?" 

Als wäre die Laune von eben verpufft, muss Ronja anfangen zu lachen. Joe bekommt das einfach immer wieder hin, er weiß genau, wie er was sagen kann. So ein guter Freund. Ein herzhaftes Lachen verlässt ihren Rachen. 

Aber nun?! Es verwandelt sich, klingt beinahe hysterisch. Sie kann gar nicht aufhören zu lachen ... Mittlerweile weiß sie gar nicht mehr, warum sie überhaupt noch lacht. Ein beklemmendes Gefühl mischt sich mit dazu, welches sich im Inneren des Bauchraumes ausbreitet. Es legt sich wie eine drückende Schicht darum. Sie lacht immer noch. 

Und dann schlägt es plötzlich um. Ihr Lachen versiegt, stattdessen laufen Tränen ihre Wangen hinunter, genauso unkontrolliert, wie sie eben noch lachte. Sie weiß gar nicht, wie ihr geschieht. 

Auf einmal spürt sie eine Hand an ihrer linken Schulter, der Arm dazu legt sich um ihren Rücken, sie wird vorsichtig in eine Ecke geleitet. Dann sitzt sie da. Hört, wie die Tür des Ladens verriegelt wird. Bemerkt, wie jemand Nika von ihr nehmen will. 

„Nein!", ruft sie aus. 

„Ich wollte sie nur kurz abnehmen. Tut mir leid." 

„Nein. Bitte", sagt sie jetzt ruhiger. 

„Was kam gestern beim Beratungsgespräch raus?" 

Ronja nickt und würde gleich mit ihm reden, es alles einmal loslassen. Joe versteht, erhebt sich und holt ihr und sich selbst Café. Währenddessen kramt sie in ihrer Tasche nach dem Portemonnaie. 

„Ach komm, du musst nicht zahlen." 

„Joe, du kannst mich nicht jedes Mal einladen, ich mach dich noch pleite." 

„Aber heute ists okay." 

„Okay, aber beim nächsten Mal zahle ich für zwei Cafés." 

Ronja sammelt sich nochmals, weiß überhaupt nicht, wo sie beginnen soll, ... wie konnte es nur so weit kommen?! Sie weiß es, natürlich, aber es ist trotzdem irgendwie unbegreiflich für sie. Schon lange war sie nicht mehr an so einem Punkt angelangt, an dem sie sich so hilflos fühlt. 

„Meine Angst ist begründet ...", rutscht ihr dann schlicht raus und die nächsten Worte folgen von alleine. Joe hört ihr achtsam zu. 

Als es Zeit wird, verabschiedet sich Joe mit einer festen Umarmung von ihr und flüstert ihr zu, dass sie sich an die Worte von Alice halten soll und er daran glaubt. Sie erwidert die Umarmung und ist einfach dankbar. Dankbar für ihn, fürs Zuhören, dass er da ist. 

◦◦◦◦◦◦

Wieder zu Hause legt sie Nika in ihr Bettchen, übergibt Alice das Babyphone und huscht schnell ins Badezimmer, in der Hoffnung, dass ihr eine Dusche etwas mehr Abstand und Entspannung verschafft. Danach beginnt auch schon fast ihre Arbeitszeit. Demnach begibt sie sich direkt ins Wohnzimmer, öffnet die Terrassentür und setzt sich an ihren Arbeitsplatz. 

„Ronnie? Alles in Ordnung bei dir?" 

„Wahrheit?" 

„Immer." 

„Dann Nein. Aber bevor du jetzt etwas sagst ... Ich halte daran fest. Ich hoffe weiterhin. Ich hab einfach Schiss." 

„Verstehe ich. Ich auch. Aber ich meine das alles genauso, wie ich es gesagt habe." Alice' Sorge ist rauszuhören, aber genauso ihre Ehrlichkeit. 

„Ich weiß", entgegnet Ronja. Alice stellt ihr einen Café auf den Arbeitstisch, den sie ihr wohl noch bringen wollte. 

„Danke." 

„Ich mache gerne Café für dich." Alice Stimme wirkt dabei wieder etwas heiterer. 

„Ja, auch dafür." Auch Ronja klingt ein wenig leichter. 

„Ich weiß, was du meintest." 

Ronja nimmt das Telefon zur Hand. Alice verlässt das Wohnzimmer. Telefonberatungen bis 18:00 Uhr. Durchhalten. Auf eins freut sie sich sogar sehr nach Feierabend. 

Kurz vor 18:00 Uhr legt sie das Telefon beiseite, schließt die Arbeitsprogramme und möchte sich gerade Elmars Mail vorlesen lassen, als sie bemerkt, dass sie noch eine weitere ungelesene Mail von einer städtischen Behörde hat. 


Guten Tag Frau Flemming, 
Die Fallbesprechung lief wirklich gut und ich konnte die Punkte, die wir besprochen hatten, allesamt anführen. 
Ich hoffe inständig, dass der Termin nicht zu kurzfristig kommt. Für mich wäre es sehr gut, wenn wir zu dritt an diesem Freitag, den 15.03. um 13:00 Uhr bei uns in der Einrichtung zusammenkommen könnten. 
Unten in der Signatur finden Sie die Kontaktdaten mitsamt der Anschrift. 
Über eine Bestätigung würde ich mich freuen. Wenn Sie noch Fragen haben, schreiben Sie mir gerne. 
Vielen Dank und viele Grüße, 
U. Peters 


Da sie auf schnelle Antwort hofft, beantwortet sie zunächst diese Mail. Sie bedankt sich für die Mitteilung und schreibt, dass sie gerne am Freitag kommen würde, wenn sie Nika mitbringen kann, weil sie keine andere Option habe. Na ja, eigentlich könnte wahrscheinlich Alice ausnahmsweise Nika mit zur Arbeit nehmen ... Nein ... Sie würde es gerne beibehalten, dass sie Nika am Freitag hat, sowohl für sich als auch für Alice. So nun aber zu Elmars Mail. 


Hallo Ronja, 
Danke für die Atemübung. Ich habe sie schon ausprobiert. Ich glaube, manchmal puste ich nicht ganz richtig, ist das schlimm? Achtsamer sein finde ich gut. Du bist achtsam, Alice ist achtsam, Joe ist auch achtsam. Das ist gut für mich. 
Dank euch darf ich ebenfalls den Gedanken haben, dass ich keine bösen Termine mehr haben werde. Auch wenn der Gedanke und das Gefühl dazu manchmal hochkommt. Dann denke ich an euch und weiß, es gibt auch andere Menschen. 
Ist das auch Einfluss nehmen auf meine Gedanken und Gefühle? 
Du hast Familie klar und deutlich beschrieben. 
Bedeutet das, dass wir für Joe seine neue Familie sein können? Weil wir ihn mögen und keinen Streit haben? Weil wir ihm nur Gutes wünschen? Und weil wir gerne mit ihm beieinander sind? 
Denkst du, Joe ist alleine? Oder einsam? Gibt es für dich einen Unterschied dazwischen? 
Frau Peters hat gesagt, sie schreibt dir eine Mail. Sie hofft, du kannst kurzfristig, sagte sie. Am Freitag, den 15.03. ist der Termin für uns drei. 
Meine nächste Mail schreibe ich am 17.03.. 
Bis morgen. 
Von Elmar. 


Hallo Elmar, 
Frau Peters hat mir eine Mail geschrieben, wie sie dir gesagt hat. Ich komme am Freitag zum Termin. Können wir gerne morgen besprechen, aber schon einmal heute für dich: Wenn das in Ordnung für dich ist, können wir uns wie immer am Hafen treffen und dann gemeinsam zur Wohngruppe gehen. 
Es freut mich, dass du bereits die Atemübung ausprobiert hast. So lange du dich gut dabei fühlst, ist es nicht schlimm, falls du das Gefühl hast, ab und zu nicht wie in der Anleitung zu atmen oder pusten. 
Du hast einen in der Aufzählung vergessen. Du bist auch achtsam, sehr sogar. Das gefällt mir. Ich kann auch verstehen, warum es dir guttut. Ich übe und trainiere meine Achtsamkeit, da mir das auch guttut. 
Das Beispiel von dir zeigt wundervoll auf, wie du Einfluss auf deine Emotionen und Gedanken ausübst, denn dadurch machst du dir Hoffnungen anstatt Angst, Zuversicht anstatt Frust. Positiv anstelle von negativ. 
Deine Frage zu Joe finde ich richtig schön. Joe darf sich auf jeden Fall sehr glücklich schätzen, dich zu kennen. Alice und ich sind sehr froh darüber, dass du an unserem Leben teilnimmst. Freunde können ebenso Familie sein. Theoretisch ist die Antwort auf deine Frage Ja, aber nur Joe kann sie beantworten, ob es wirklich so ist. Ich hoffe, dass ich das verständlich ausgedrückt habe. 
Für mich sind Alice und Nika meine Familie, das hast du dir vielleicht schon gedacht. Joe und du gehören mittlerweile aber auch dazu, weil ich euch beide wirklich sehr mag und euch nicht mehr in meinem Leben missen möchte. 
Schon wieder eine sehr tolle Frage: Einsam und allein. 
Ja, für mich gibt es da einen Unterschied. 
Ich bin gerne ab und zu allein. Für mich. Zum Beispiel, wenn ich nachdenken, lesen, schreiben, malen, abschalten, etc. möchte. Allein bedeutet für mich nicht, dass ich niemanden habe. 
Ich wäre nicht so gerne einsam. Das bedeutet für mich, dass ich niemanden hätte, den ich anrufen, dem ich schreiben, wo ich hingehen kann, wenn ich jemand Vertrautes brauche. 
Bei manchen Menschen kann es vorkommen, dass sie sowohl allein als auch einsam sind oder sich so fühlen. 
Ich fühle mich nicht einsam. Ich hoffe, du dich auch nicht, das bräuchtest du nicht, denn wir sind gerne für dich da. 
Bis morgen. 
Viele Grüße. 
Von Ronja. 

◦◦◦◦◦◦

Noch ein paar Minuten verweilt sie am Schreibtisch, um die Informationen zu verarbeiten, insbesondere Elmars erstaunliche Gedanken. Sie ist nicht einsam. Sie muss das nicht als Einzelne durchstehen. Sie kann und darf alleine sein, muss es aber nicht. Wenn sie jemanden braucht, ist da jemand. 

Als sie sich bereit fühlt, steht sie auf und öffnet die Wohnzimmertür. Alice hat anscheinend nur darauf gewartet und kommt fast direkt mit dem Essen hinein. 

„Heute gibt es nur etwas Einfaches. Also nicht zu früh freuen." 

„Seit wann stelle ich Ansprüche, was das Essen angeht?!" 

„Stimmt auch. Ich bin ja schon froh, dass du isst." 

Beim Essen erzählt Ronja vom Freitagstermin und dass die Mail ziemlich positiv klingt. Alice scheint ebenso erleichtert zu sein. 

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