[18] 7|Donnerstag
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Wie schön, wohltuend und heimelig es sich anfühlt. Ja, auch sie hatte Al vermisst in ihren Streittagen. Dass sie wieder neben Alice im gemeinsamen Bett aufwacht, gibt ihr etwas Wohliges zurück. Als würde sich die Sonne in ihrem Bauch ausbreiten. Alice geht es da offenbar gleich. Zumindest strahlt sie das aus, so wie sie da liegt und ihr Atem noch gleichmäßig geht.
Ob Ronja ganz darüber hinweg ist? Ist sie sich nicht sicher, aber neben ihrer Enttäuschung empfindet sie ebenso Verständnis für das, was Alice schon miterleben und ertragen musste.
Dieser Tim ... Der ist doch nicht ganz richtig. So ist es besser, dass sie beim Treffen dabei sein würde.
Natürlich hatte Alice recht, was den heutigen Tag und die Arbeit angeht, also schickte sie gestern noch die Mail raus, dass sie auch heute nicht arbeiten könne und sich bezüglich Samstag noch einmal melden würde, sollte sie weiterhin ausfallen. Wahrscheinlich machen 'die' sich schon ernsthafte Sorgen und Gedanken, was mit ihr sein könnte, da sie ja sonst nie ausfällt.
Es fiel ihr nämlich wieder ein, wann das letzte Mal war. Als sie sich den Arm gebrochen hatte. Dass sie in diesem Zustand mit eingegipsten Arm – wohl merklich ihrem rechten Arm als Rechtshänderin – kaum, wenn dann nur schwerlich arbeiten konnte, konnte sie einsehen.
Er hat für Freitag zugesagt, rauschen die Worte auf einmal in ihren Kopf, die ihr Alice gestern noch so vorsichtig wie möglich sagte. Für ein Treffen in der City, hat er geschrieben. Mit der City meint er leider ein Café, was sie nicht zu Fuß erreichen können und somit mit Bus und Bahn unterwegs sein werden. 'Soll ich ihn fragen, ob er herkommt oder wir uns im Le Petit treffen?', fragte Alice noch, wahrscheinlich lieb gemeint, doch Ronja wehrte ab und wollte das Thema für gestern vom Tisch haben.
„Morgen Ronnie."
„Guten Morgen Al. Auch schon wach?" Ronjas Stimme ist zwar neckisch, aber auch voller Liebe und Freude.
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Alice begnügt sich weiterhin mit dem wenigen, was sie weiß. So gut wie nichts. Sie weiß, dass sie sich heute mit Joe zum Spazieren trifft wegen seiner Laune. Nachdem sie gestern die Mail an ihre Arbeitgeber abgeschickt hatte, schrieb sie Joe noch eine Nachricht, dass sie heute ebenso frei und flexibel bezüglich Zeit ist und sie sich davon eine Menge für ihn nehmen kann.
So sind sie nun für vormittags verabredet bis open end. Ihr wird direkt wieder übel und ihre innere Sonne weicht einer Säuretonne, die immer mal wieder anfängt zu blubbern. Dass sie es vergessen und nicht mehr daran gedacht hatte, macht ihr sehr zu schaffen. Wie konnte ihr das nur passieren? Dabei ist so etwas ein einschneidendes Erlebnis. Und er, Joe, erträgt sie mit Nika und das auf so eine wunderbare gefühlvolle Art. Wie schafft er das nur?, fragt sie sich nun, während sie ihren Café auf der Terrasse noch austrinkt.
Sich von diesen blockierenden Gedanken befreiend steht sie auf und macht sich fertig.
„Grüß Joe von mir", äußert Alice zögerlich.
„Mach ich und hab du einen schönen Tag. Genieß deine Zeit."
Die beiden verabschieden sich. Dabei verharren sie etwas länger, um sich zu verdeutlichen, dass zwischen ihnen wieder alles in Lot kommen wird.
Woody und Tasche geschnappt und raus zur Tür. Vor seinem Laden treffen und begrüßen sie sich und laufen dann direkt drauf los. Die ersten Meter schweigen sie nebenher, was auch in Ordnung ist. Ronja möchte ihm Zeit geben, wie auch in den Jahren zuvor, die sie ihn an diesem Tag erlebt hat.
Derweil spürt sie, wie die Sonne auf ihre Haut trifft und es für sie so scheint, dass diese von Tag zu Tag kräftiger wird. Eine richtige Wärme ist bereits zu fühlen. Dem Gefühl gibt sie sich gerne hin.
„Schon sechs Jahre", sagt Joe auf einmal aus dem Nichts.
„Ja, die Zeit vergeht gefühlt manchmal auf eine eigenartige Weise ..."
„Ja, hast du wohl recht. Manchmal kann ich es gar nicht richtig glauben. Natürlich weiß ich es und habe es begriffen, aber an manchen Tagen ist es irgendwie anders. Weiß auch nicht. Hört sich bestimmt bescheuert an."
„Nein Joe, das hört sich nicht bescheuert an."
„Ach, keine Ahnung. Manchmal tut es immer noch so sehr weh, dass ich denke, ich breche doch noch einmal komplett zusammen. Obwohl ich dachte, dass ich drüber hinweg bin. Und dann fühle ich mich schlecht wegen dieser Gedanken. Wie kann ich auch nur so etwas denken?! Drüber hinweg sein ... Ich werde sie niemals vergessen!"
„Das sollst du doch auch gar nicht. Sie werden immer ein Teil deines Lebens sein. Und das ist gut. Und du machst das doch ganz wunderbar. Diese, ich weiß auch nicht, schlechten Tage wird es bestimmt – leider – immer mal wieder geben."
„Wo mache ich das denn so wunderbar? Indem ich euch anmache? Meine Launen an euch rauslasse? Diesen Tag und die Tage drumherum nicht vernünftig leben kann?"
„Ach Joe ... Ich denke, dass es menschlich ist, dass es dir um diese Zeit schlechter geht, heute ist immerhin ... Doch vergiss bitte nicht, welch großartiger Mensch du im Allgemeinen bist und was du sonst alles tust ..."
„Tut mir leid, Ronja."
„Muss es nicht."
„Wir sind gleich da."
Auch wenn Ronja keine Ahnung hat, welchen Ort er damit meint, fragt sie nicht nach. Sie hat das Gefühl, dass eine Gesprächspause momentan besser ist. Er redet ja sonst nicht so viel darüber.
Der Boden verändert sich vom gepflasterten Stein zu einem Untergrund aus feinen Kieselsteinen, die die Stille zwischen ihnen unterbricht. So langsam beschleicht sie ein Gedanke, wo er sie womöglich gerade mit hinnimmt. Das hätte sie vorher nicht gedacht, überhaupt nicht mitgerechnet. Sie fühlt sich geehrt und doch ebenso ein wenig überfordert.
Joe öffnet ein kleines Tor und sie gehen hindurch. Woody orientiert sich glücklicherweise an ihm. Nach einigen Minuten bleiben sie stehen.
Hier wird es wohl sein, denkt sie. Hier werden wohl die Namen seiner Frau und seiner Tochter stehen, Luise und Carlie. Carlie, die gerade mal zwei Jahre alt war. Luise und Carlie, seine geliebten Mädels, die durch ein tragisches Unglück aus seinem Leben gerissen worden sind. Joe, der Ronja immer ein toller Freund gewesen und so ein großartiger Mensch ist. Joe, der weiter um sein Leben kämpfte und für sich einen Weg daraus beziehungsweise damit gefunden hat. Joe, den alle als lustigen Typen kennen. Joe, der für seine beiden Mädels alles gemacht hat, sie über alles liebt, sie aus tiefstem Herzen vermisst. Joe.
Ein Schluchzen dringt an ihre Ohren.
Sie hockt sich zu Joe hin und nimmt ihn in den Arm. Das Schluchzen verwandelt sich zu einem bitteren Weinen. Und auch ihr kullern die Tränen hinunter. Wir vermissen euch, Carlie und Luise. Ronja hält ihn, ist für ihn da.
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Auf dem Rückweg erzählt Joe vom Bootsausflug mit Elmar am Dienstag und was für ein Spaß sie wieder miteinander hatten. Und dass er Elmar gerne öfter einladen wollen würde, da er ihn gerne hat und scheinbar ein genauso großer Bootsliebhaber ist wie er selbst.
„Ich frage ihn, aber er wird sich sicher sehr freuen, das zu hören. Obwohl du könntest ihn ja am Sonntag auch fragen. Da seid ihr doch wieder alle beide bei uns oder?"
„Na klar. Ich komme. Tut mir leid wegen des letzten Sonntags ..."
„Schon gut. Ist eben manchmal so."
„Ihr habt den Film dann noch mal geschaut?"
„Ja genau. Der ist wirklich toll."
„Ja, das ist er. Es war einer ihrer Lieblingsfilme."
„Oh nein. Mir tut es wirklich leid, dass ich es so extrem verpeilt habe, dass ich so mit meinem Kack beschäftigt bin. Eigentlich gibt es dafür keine Entschuldigung."
„Nein, du kannst auch nicht immer alles parat haben. Wirklich okay. Ich bin dir nicht böse. Was war jetzt eigentlich bei dir los?"
„Ich sehe das zwar etwas anders, aber danke. Wir müssen nicht über mich sprechen."
„Vielleicht tuts mir ja gut. Also, was ist jetzt los bei dir oder euch?"
„Tim ist los."
„Tim?"
Und Ronja erzählt ihm alles von dem gerade abgegebenen Antrag, der dann total uncharmanten zufälligen Begegnung mit Tim über die Enttäuschung bis dahin, dass sie sich morgen treffen werden.
„Müsste so in etwa alles gewesen sein ..."
„Und nun machst du dir Sorgen."
„Schon ... Er ist schließlich der Vater. Was bin ich dann?"
„Aber Ronja. Du bist Nikas Mama. Das ist doch ganz klar. Ich weiß natürlich, was du meinst. Aber du auch, was ich meine. Warte erst einmal ab, was er morgen sagt und was Frau Winter am Montag sagt. Dann schauen wir alle."
„Danke, du bist lieb."
Sie kommen vor Ronjas Wohnhaus an und umarmen sich zur Verabschiedung. Dabei bedankt er sich noch einmal für den heutigen Tag und dass es ihm viel bedeutet hat, dass er es ohne sie heute nicht dahin geschafft hätte.
Dann dreht sie sich um und kommt erleichterter hinein. Drinnen begrüßt sie ihre zwei Mädels, wobei ihr Magen sich etwas zusammenzieht und ihr etwas flau wird. Luise und Carlie, kommen ihr direkt ins Gedächtnis.
Etwas Abgrenzung zum bisherigen Tag würde ihr nun guttun, daher wird sie sich erst einmal mit einem Café und ihrem Laptop auf die Terrasse setzen. Alice bemerkt ihre innerliche Spannung. Statt nachzuhaken, was genau los sei, fragt sie nur, ob sie ihr noch etwas Gutes tun kann.
Glück und Dankbarkeit, das empfindet sie gerade. Sie möchte sich unbedingt noch etwas einfallen lassen, wie sie ihr das zeigen kann.
Dann widmet sie sich ihrem Café und startet den Laptop.
Hallo Ronja,
Du hast richtig verstanden. So meinte ich das mit Gedanken und Gefühle bleiben.
Das bedeutet, dass ich den Einfluss darauf habe, wie stark es mich betroffen macht?
Wie kann ich es weniger machen?
Früher war böse, weil meine Familie mich nicht wollte. Ich musste zu vielen Terminen, wo ich nicht hinwollte, wo mir vieles gesagt wurde, was nicht stimmt, wo vieles schlimm war. Ich weiß nicht, ob ich Familie habe.
Was bedeutet Familie für dich?
Kann es auch etwas anderes bedeuten als die Menschen, die dich auf die Welt gebracht haben und diejenigen, die von den gleichen Menschen abstammen?
Du hast mit Frau Peters telefoniert. Danke. Sie meint, du bist wirklich nett. Das habe ich ihr nämlich gesagt.
Bald wird es dann ein Gespräch geben und dann sagt sie mir und auch dir Bescheid. Hat sie mir gesagt.
Meine nächste Mail schreibe ich am 12.03..
Bis morgen.
Von Elmar.
Hallo Elmar,
Ja, ich bin der Meinung, dass du einzig allein den Einfluss auf deine Gedanken und Gefühle hast.
Du kannst dich von anderen beeinflussen lassen, aber du kannst den Einfluss auch stoppen. Das ist nicht immer einfach, das weiß ich. Aber wenn, dann kannst nur du das.
Es gibt ein paar Techniken und Übungen, zum Beispiel, um mit Stress besser zurechtzukommen, um achtsamer mit sich selbst zu sein, um sich schneller selbst zu beruhigen. Oft fängt mensch mit einer Atemtechnik an. Ich habe dir eine Anleitung, die ich auch erlernt habe, angefügt.
Deine bösen Termine tun mir leid, das klingt wirklich nicht schön und ich hoffe, dass du nie wieder solche Erfahrungen machen musst.
Viele Menschen haben in diesem – klassischen – Sinne keine Familie. Viele andere schon.
Für mich bedeutet Familie: Menschen, dir mir guttun, die mich mögen, wie ich bin, wo es ein harmonisches Miteinander gibt. Und da ist es egal, wer die Blutsverwandten sind.
Verstehst du, was ich damit meine?
Danke dir für diese schöne Frage.
Bis morgen.
Viele Grüße.
Von Ronja.
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Ronja bleibt noch draußen sitzen, stöpselt ihre Kopfhörer an den Laptop an und schaltet beruhigende Klänge für nebenher an. Bis zum Abendessen, was sie selbst vergessen hätte, lässt Alice sie gewähren. Sie kommt mit einem zubereiteten Auberginen-Gericht nach draußen und schiebt Ronja ihren Teller hin.
„Wenn du reden magst, weißt du Bescheid, ja?"
„Ja. Danke Al. Ich denke bald."
„Okay."
„Ich danke dir sehr für deine Rücksichtnahme."
„Ist doch klar. Zwischen euch aber alles wieder klar?"
„Ja. Er kommt auch Sonntag."
„Schön."
Nach dem Essen legen sie sich kuschelnd ins Bett und genießen ihre Zweisamkeit.
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