| 38 | if fairytales are real

If fairytales are real then she is the kind of princess no prince or king could ever handle. She was not made for ballgowns and parties but for battlefields and saddles. - Nikita Gill

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- Victorine -

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Victorine ist nicht feige. Sie ist loyal und stark und gutherzig. Sie wird diese dunkle Welt einmal zu einem besseren Ort machen, indem sie die richtige Person aufhalten wird.

Im Thronsaal herrschte beinahe Totenstille. Bis auf die Stimme meiner Mutter, die in meinem Kopf wieder und wieder hallte. Und bis auf Crescentias lautes, ersticktes Atmen.

Meine Schwester sank auf ihre Knie. Den weiten Blick hatte sie herunter auf ihre Brust gerichtet.

Am Rande meines Bewusstseins realisierte ich, wie sich Nicolas neben mir wieder bewegte. Er schob sich an mir vorbei und trat nach vorne, schritt an meiner Schwester vorbei und steuerte auf Cephas zu.

Bedeutungslos. Mein Blick war sofort wieder auf meine Schwester gerichtet. Zögerlich machte ich einige kleine Schritte nach vorne.

Ich müsste Genugtuung verspüren, oder zumindest einen Hauch von Befriedigung. Ich müsste an all das denken, was Crescentia verbrochen hatte. An meine Eltern. An meine lange Reise, die ich umsonst für sie aufgenommen hatte. An Deidamia, die auf dem Weg zu ihr gestorben war. Daran, wie sie Cephas bei meiner Folter unterstützt hatte.

Aber all das spürte ich nicht. Ich spürte Herzschmerz und Entsetzen und eine mich zerreißende Trauer. Ich spürte Schuld, die sich jetzt schon tief in meine Eingeweide fraß und mich mein Leben lang umklammert halten würde.

Als ich Crescentia erreicht hatte zitterten meine Finger und meine Augen waren voller Tränen. Als ich blinzelte liefen nasse Tropfen meine Wangen herunter und meine Sicht wurde wieder klarer.

Meine Schwester kippte nach hinten über. Mit dem Blick zur Decke gerichtet lag sie auf dem Boden, bis ich mich zu ihr kniete und ihren Kopf auf meine Beine zog.

Crescentia lebte noch. Ihr Blick war klar auf mich gerichtet. Meine Tränen fielen auf ihr schönes Gesicht und ihre zarte Haut, doch trotzdem zuckte sie nicht zurück.

Das war alles meine Schuld. Hätte ich mehr auf meine kleine Schwester geachtet, dann wäre das alles vielleicht nicht passiert. Wenn sie nicht das Gefühl gehabt hätte, unsichtbar und unbedeutend zu sein, dann wäre der Drang nach Macht vielleicht nicht in ihr entstanden. Wenn ich versucht hätte, sie wirklich zu verstehen, dann hätte sie mich nicht zu hassen begonnen.

Mir war bewusst, dass ich einen Großteil der Schuld an ihrer Entwicklung trug. Aber ich wusste auch, dass Crescentia meine blinde Loyalität trotzdem nicht verdient hatte. Es war ihre Entscheidung gewesen, ihre Familie zu töten. Es war ihr Wille gewesen, anderen zu schaden, um selbst mehr Macht zu erhalten.

Meine Loyalität hatte mein Königreich verdient. Meine toten Eltern und die gefallenen Soldaten, die Crescentia zu verantworten hatte. Meine Loyalität galt ganz Spero. Den Hexen. Und Nicolas.

Die Zeiten waren vorbei, in denen ich blind und bedingungslos loyal war. Crescentia musste aufgehalten werden. Sie war der dunklen Seite der Macht bereits zu sehr verfallen gewesen. Sie hätte ohne Rücksicht auf Andere alles getan, um auf den Thron zu gelangen. Sie hätte Cephas Schreckensherrschaft auf seinem Thron fortgeführt. 

Das wusste ich, weil ich mich in ihrer Seele befunden hatte. Damals hatte ich es nur nicht wahrhaben wollen.

Stimmen drangen zu meinem Bewusstsein. Als ich aufsah und zur Seite blickte, standen Nicolas und Cephas voreinander. Nicolas hatte sich den Helm und seine Brustrüstung ausgezogen. Anscheinend hatte er Cephas zu einem fairen Duell herausgefordert.

Mit zittrigem Atem sah ich wieder nach unten und blinzelte weitere Tränen hinfort. „Es tut mir so leid, Crescentia", flüsterte ich und strich ihr eine feine Haarsträhne aus dem Gesicht. Crescentia hatte das Blinzeln aufgehört. Meine Schwester war tot.

Mit brennendem Hals unterdrückte ich ein Schluchzen. Sanft schloss ich ihr mit den Fingerspitzen die Augenlider.

Im Hintergrund hörte ich, wie Schwerter aufeinander prallten. Langsam hob ich den Kopf und sah den beiden Königen bei ihrem letzten Kampf zu. Nicolas hatte für diesen einen Moment trainiert. Jeden Tag, seit seine Eltern ermordet worden waren.

Hatte Nicolas Cephas tatsächlich um den Mord an seinem Vater gebeten? Und wenn ja, war er dann überhaupt besser als Crescentia?

Kurz schloss ich die Augen. Mir war es, als würde ich die dicken Narben und Striemen von Peitschenschlägen unter meinen Fingerspitzen fühlen. Sein Rücken. Er hatte mir eine Geschichte erzählt, die ich durch seine Augen niemals erfahren hatte.

Crescentia hatte gesehen werden wollen. Nicolas hatte vielleicht einfach nur befreit werden wollen.

Als ich meine Augen wieder öffnete schwang Nicolas sein Schwert so gewaltig, dass Cephas der Griff seiner eigenen Waffe aus der Hand gerissen wurde. Die scharfe Klinge rutschte auf in meine Richtung und blieb kurz vor mir auf dem Marmorboden liegen.

Cephas war entwaffnet. Und trotzdem huschte sein Blick zwischen Nicolas und seinem Schwert hin und her.

Als Cephas auf seine Waffe zulief ließ ich Crescentias Kopf von meinen Beinen sinken. Ich stand auf, machte einen Schritt nach vorne und stellte meinen Fuß auf seine Waffe.

Mitten in der Bewegung blieb Cephas stehen und sah mich an. Als ich so auf seiner Waffe stand kam er mir mit einem Male ganz klein und erbärmlich vor.

Ohne seine Armeen und ohne seine Hexe und ohne sein Schwert war Cephas nichts. Er war nichts weiter als ein machtloser, erbärmlicher Mann.

Hektisch blickte der König sich im Raum um. Die Türen waren von Steinen zugewachsen. Niemand kam mehr herein oder heraus. Niemand würde ihm zu Hilfe eilen. Auch Xerxa nicht.

Der Fluch war Cephas Todesurteil gewesen. Doch was genau war der Fluch?

Nicolas und ich waren das.

Langsam ging Nicolas auf Cephas zu. Widerwillig wandte sich Cephas dem Gewinner des Duells zu.

„Auf die Knie", forderte Nicolas. Die scharfe Klinge des Schwertes in seinen Händen glänzte bedrohlich.

„Wo auch immer ich nach meinem Tod hinkomme", sprach Cephas, während er sich auf die Knie sinken ließ. „Ich werde einen Weg finden, um euch aufzuspüren und zu töten."

„Wo auch immer du hinkommst, Cephas, wirst du kein Schwert mehr schwingen können." Nicolas Stimme war kalt. Er zögerte nicht, bevor er das Schwert hob und nach unten rasen ließ.

„Das hier ist für meine Mutter." Nicolas hatte Cephas den linken Arm abgetrennt.

Cephas schrie furchterregend und dunkel aus vollem Halse.

„Das hier ist für Victorine." Nicolas ließ das Schwert erneut hinunter rasen. Cephas rechter, abgeschnittener Arm traf auf dem Marmorboden auf. Blut strömte aus beiden Stümpfen unterhalb seiner Schultern.

„Und das hier ist für unser ganzes Land." Ein letztes Mal schwang Nicolas sein Schwert und schlug Cephas mit einer kräftigen, zielgerichteten Bewegung den Kopf ab.

Erneut herrschte Totenstille im Thronsaal. Ich konnte meinen Blick nicht von Cephas abgetrenntem Kopf abwenden, dessen Halsöffnung zu mir zeigte. Es war vorbei. Cephas war tot.

Ein wenig zuckte ich zusammen, als Nicolas plötzlich vor mir stand. Ich war so in den Anblick vertieft gewesen, dass ich nicht bemerkt hatte, wie er auf mich zugekommen war. War das alles wirklich passiert?

„Lass uns gehen", sprach Nicolas.

Die Steine um die Holztüren zogen sich langsam zurück und machten uns die Ausgänge frei.

Wortlos schüttelte ich mit dem Kopf. Mein Hals brannte noch immer. Ich stand neben dem toten Körper meiner Schwester, die ich eigenhändig umgebracht hatte. Meine Beine fühlten sich schwach an und mein Atem war noch immer flach.

Langsam drehte ich mich um und schritt die Treppen zum Thron herauf.

Schweigend folgte Nicolas mir, bis wir oben angelangt waren und den Thron umrundeten. An der steinigen Wand dahinter betätigte ich den versteckten Schalter zwischen den unebenen Steinen, den ich in Cephas Geist gesehen hatte.

Nicolas sah mich für einen Moment an. Seine dunklen Haare waren durcheinander und das markante Gesicht mit Cephas Blut besprenkelt. Dann schob er sich vor mich und trat in den Raum ein, der sich vor uns geöffnet hatte.

Ich blieb im Eingang stehen, während Nicolas in dem Raum auf und abging, die vollen Regale sorgsam mit den Augen absuchend. Schließlich fand er, was er suchte.

Als er auf mich zutrat hielt er mir einen Gegenstand entgegen. Es war die Krone meines Vaters. „Die solltest du deinem Bruder geben", sagte Nicolas leise.

Stimmt. Nun war es ja die Krone von Darius.

Zögernd nahm ich das kalte, goldfarbene Machtsymbol an mich. Auch Nicolas hatte sich die Kronen von Sanguis wieder geholt. Die Krone seiner Mutter und die Krone seines Vaters. „Und jetzt lass uns gehen", sprach Nicolas leise.

Wortlos nickte ich. Ich merkte, wie Nicolas neben mir ging und mich vom Blick auf die Leiche meiner Schwester abschirmte. Aber es nützte nichts. Ich wusste ganz genau, dass sie dort lag. Und dass mich das Abbild den Rest meines Lebens verfolgen würde.

Wir öffneten die Türen des Thronsaales. Nicolas leitete mich die Gänge entlang. Ich wusste nicht einmal mehr genau, wo ich mich befand. Ich war so müde und erschöpft, dass ich nicht einmal mehr genau die Schmerzen wahrnahm, die ich überall im Körper hatte.

Ein wenig hinkend zog ich mein Bein voran. Ich fragte mich, welche Zeichen mein Körper von diesem Kampf mitnehmen würde. Eine Narbe im Oberschenkel. Eine Narbe auf der Stirn. Einen kahlen Kopf, deren Haare ich nie wieder in meinem Leben sehen wollte.

Es hätte wesentlich schlimmer ausgehen können.

Als wir fast am Ausgang waren kamen uns zwei Personen entgegen. Es war Vindicta, die von einer mir unbekannten Hexe gestützt wurde. Die Anführerin hielt sich eine Hand auf die Hüfte, wo der schwarze Umhang ein wenig abgebrannt war. Mit ihren schwarzen Augen sah sie mich an und nickte.

Ich nickte zurück, erstaunt von der Illusion, die ich für eine Sekunde hatte. Hexen hatten keine farbigen Augen. Vindictas Augen waren nicht kurz gold gewesen. Ich musste wohl erschöpfter sein als bisher gedacht.

Aus einer anderen Richtung kamen einige Soldaten auf uns zu, welche die Wappen von Spero und Sanguis trugen. Hinter ihnen liefen geschwächte Menschen in Lumpen her. „König Nicolas", meldete sich ein Soldat mit aufgerichtetem Stand. „Wir haben alle Gefangenen von Tenebris befreit und werden sie nach draußen leiten."

„Sehr gut gemacht", sprach Nicolas neben mir.

Der Soldat konnte ein überraschtes Weiten seiner Augen nicht verhindern. Anscheinend waren solche netten Worte selten von König Nicolas.

Ich hoffte, seine Soldaten würden diese ab jetzt öfter zu hören bekommen.

Wir ließen den Gefangenen den Vortritt und beobachteten, wie sie endlich, nach einer sich sicherlich Unendlichkeit anfühlenden Zeit den Himmel wieder sahen.

Ich spürte, wie Nicolas mich ansah. Also nahm ich meinen Blick von den befreiten Menschen ab und blickte den König neben meiner Seite an.

„Möchtest du nach Draußen gehen?", fragte er mich.

Für eine kurze Weile blieb ich ohne eine Antwort neben ihm stehen, dann streckte ich meine Hand aus und wischte sanft mit meinen Fingerspitzen Cephas Blut aus seinem Gesicht. „Der Krieg ist vorbei, Nicolas", flüsterte ich. Eigentlich flüsterte ich es mehr zu mir selbst. Eigentlich war ich jetzt erst im Begriff, als das zu begreifen.

„Ja, das ist er." Nicolas legte seine Hand auf meine Finger im Gesicht und strich für einen Moment sanft über meine Haut. Dann wandte er sich dem Ausgang zu und passte sich meinen langsamen Schritten an.

Nebeneinander schritten wir durch die riesige Eingangstür.

Die Wolkendecke war aufgebrochen und zeigte uns einen blass-blauen Himmel. Die Abendsonne schenkte uns den Rest ihres sanften, warmen Lichtes.

Kurz nachdem wir ein paar Schritte aus dem Eingangstor gemacht hatten, befanden wir uns auf dem Schlosshof. Nicolas und ich blieben stehen. Es war vorbei. Der Krieg war auch hier draußen vorbei.

Und man wartete bereits auf uns.

Hunderte von Soldaten, die bei unserem Anblick ihre Flaggen und Schwerter nach oben streckten und lautstark triumphierten.

Mein Bruder Darius, der mir mit stolzem Ausdruck im Gesicht entgegen blickte.

Vane und Klara, die nebeneinander standen und sich bei unserem Anblick lachend in die Arme fielen.

Orestes, der Tryphosa beim Verbinden ihrer verletzen Hand half, einen seiner Mundwinkel hob und uns zuwinkte.

Tryphosa, die ihre unverletzte Hand zu einer Faust hochriss und triumphierend Richtung Himmel brüllte.

Hekate, die in ihrer wahren, alten Hexengestalt auf ihrem riesigen Raben saß und langsam in die Hände klatschte.

Vindicta, die sich erschöpft auf dem Boden niedergelassen hatte und mit einem förmlichen Nicken ihre Dankbarkeit ausdrückte.

Der schwarze Drache, der sich mit kräftigen Flügelschlägen über uns in der Luft hielt.

Ich stellte mir vor, wie auch Deidamia und meine Mutter und mein Vater hier auf mich warteten. Wie Deidamia aufgeregt mit den Flügeln schlagen und sich auf die Hinterbeine stellen würde. Wie mein Vater mich stolz mit aufrechtem Gang beobachten würde. Wie meine Mutter auf mich zueilen und mich in die Arme schließen würde.

Sie und alle anderen Menschen und Wesen hier würden für immer einen festen Platz in meinem Herzen haben. Und ganz besonders Nicolas.

In einem Rausch an Gefühlen nahmen die nächsten Ereignisse ihren Lauf. Ich war erleichtert, als ich Darius seine rechtmäßige Krone überreichen konnte. Traurig, als ich ihm von Crescentias Tod erzählte. Amüsiert, als Orestes und Tryphosa wiederkamen, nachdem sie sich von Cephas Leiche amüsiert hatten. Überrascht, als ich erneut goldene Funken in Vindictas Augen entdeckte, während sie sich von mir verabschiedete. Ablehnend, als mich Hekate zu einem weiteren Ausflug in die Hölle einlud. Stolz, als mir Vane und Klara erzählten, wie sie viele Bewohner durch das Portal gerettet hatten. Froh, als der schwarze Drache aufbrach, um ein Zuhause für sich zu finden.

Ich würde Zeit brauchen, um all das zu verarbeiten. Aber ich realisierte, dass es immer auch mehr Gefühle als Trauer und Schmerz in meinem Leben geben würde.

„Victorine."

Eine schöne, dunkle Stimme zog mich sanft aus meinen Gedanken. Ich drehte mich um und stand auf einmal so dicht vor Nicolas, dass ich ihn mühelos berühren könnte.

„Bevor du aufbrichst und vielleicht mitten ins Nirgendwo verschwindest, um Drachen zu zähmen und gegen Ungerechtigkeiten zu kämpfen, möchte dich fragen, ob du meine Frau werden willst."

Nicolas hatte einen sanften, ernsten Ausdruck im Gesicht.

Seine Frau? „Die Königin von Sanguis?"

Nicolas vernahm meinen skeptischen Unterton deutlich und zog halb lächelnd einen Mundwinkel nach oben.

Ein neues Gefühl. Ich war glücklich, als ich sein unbeholfenes Lächeln sah.

„Königin zu sein heißt nicht nur, untätig im Thron zu sitzen", sagte er, um mich mehr von seinem Vorschlag zu überzeugen. Er wusste nicht, dass es eigentlich keiner Überzeugung mehr nötig war.

„Du könntest als Königin das tun, was du am besten kannst."

„Und das wäre?", hakte ich schmunzelnd nach.

Nicolas Mund formte sich zu einem ehrlichen, offenen, vollen Lächeln, dass sich einen direkten Weg in mein Herz bahnte und meinen Kopf niemals mehr verlassen würde.

„Unsere Soldaten zu trainieren."

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ENDE

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