| 36 | scream
scream so that one day
a hundred years from now
another sister will not have to dry her tears wondering where in history she lost her voice - jasmin kaur
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- Vindicta -
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Ich hatte mir den langen Weg zum höchsten Turmzimmer des Schlosses gebahnt und dabei jeden umgebracht, der sich mir in den Weg gestellt hatte.
Es war schade, dass Cephas nicht unter diesen Menschen gewesen war. Die feige Kakerlake hatte sich sicher irgendwo versteckt. Aber Nicolas und seine Truppe würden ihn suchen, während ich mich um Xerxa kümmerte.
Es war nicht mehr weit. Ich spürte, dass ich der Präsenz meiner ehemaligen Schwester immer näher kam. Mit der rechten Hand tastete ich nach der Verletzung auf meinem Rücken. Auf dem Weg hierher hatte mich ein Soldat mit einem Pfeil kurz oberhalb meines Schulterblattes getroffen und ich hatte die Eisenspitze mit einer Hand herausziehen müssen. Hoffentlich würde die Wunde mich nicht weiter aufhalten.
Als ich am Ende einer Treppe die Tür aus robustem, dunklem Holz aufstieß und in das runde Turmzimmer eintrat, fand ich Xerxa vor dem geöffneten Fenster stehend, beide Hände auf das Fensterbrett gestützt. Der Rabe auf ihren Schultern hatte sich zu mir herum gedreht und starrte mich mit dunklen Augen an.
Ihrer Körperhaltung zufolge vermutete ich, dass sie nicht bei vollen Kräften war. Was für mich kein allzu großes Wunder darstellte. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie das Herz der Urhexe nicht nur eingesetzt, sondern auch benutzt. Und das in außergewöhnlichem Maße.
„Xerxa", sprach ich schließlich und schloss die Tür wieder hinter mir, ohne den Blick von der Hexe abzuwenden.
„Vindicta", antwortete die Hexe, die im Gegensatz zu mir nicht in schwarze Hüllen gekleidet war. Sie hatte einen engen, weißen Verband um die Brust gespannt, trug einen langen, dunkelroten Rock und stand mit nackten Füßen auf dem Holzboden.
„Es ist vorbei, Xerxa", versuchte ich es zunächst auf sanftem Wege. „Du hast genug gelitten. Bringen wir das schnell hinter uns."
Ich wusste nicht, welche Reaktion ich mir erhofft hatte, aber Xerxas helles Lachen erstaunte mich etwas. Daraufhin schnaufte sie, jedoch weniger abfällig und mehr amüsiert. „Weißt du, was es mich gekostet hat, endlich am Ziel zu sein? Du glaubst wohl kaum, dass ich dir das Herz nun einfach so überlasse."
„Das ist dein Ziel?", hakte ich leise nach. „Du blickst doch gerade nach draußen, Xerxa. Das kann doch nicht das sein, was du willst."
„Es ist genau das, was ich will", entgegnete die Hexe und drehte zum ersten Mal ihren Kopf über die Schulter, um mich mit ihren blutroten Augen anzusehen. Ein wenig erschreckte ich mich vor der Farbe. Es gab einmal eine Zeit, wo ihre Augen uns Hexen ein sanftes Grün entgegen gestrahlt hatte.
Mit ungutem Gefühl in der Brust wartete ich ab. Meine Möglichkeiten, dass hier schnell, friedlich und unbeschadet zu beenden, wurden immer geringer.
Xerxa verzog die Mundwinkel zu einem unechten Lächeln. „Eine Sache habt ihr nicht verstanden, du und alle anderen. Das Herz kann nicht nur Leben erschaffen. Durch es können wir auch töten. All diejenigen, die uns schreckliche Dinge angetan haben."
„Was ist mit den Kindern? Mit den anderen Unschuldigen? Mit den magischen Wesen im ganzen Land? Niemand von ihren hat uns etwas angetan und trotzdem zahlen sie den Preis dafür."
„Ja und?", fragte Xerxa herablassend. „Wir haben auch niemandem was angetan und wurden verfolgt, verbrannt, gefoltert, vergewaltigt, ermordet und verbannt. Du hast genauso viele Schwestern wie ich an die Menschen verloren."
Meine Brust zog sich zusammen. Das hatten wir.
Xerxa drehte sich zu mir herum. „Und deshalb hole ich uns unsere Macht zurück. Wenn wir uns mit Cephas verbünden, dann werden die Menschen uns nicht mehr angreifen, weil der einzige König des Landes es ihnen so befehlen wird. Der Schutz der Hexen wird in die Gesetze aufgenommen. Siehst du nicht, dass ich das alles für uns tue?"
Für einen Moment stand ich unschlüssig vor ihr. Irgendwo hatte sie Recht, natürlich hatte sie das. Aber trotzdem war Xerxa auch blind.
„Ich sehe vorallem, dass du es für dich selber tust. Cephas hat unzählige unserer Schwestern entführt und gefoltert, um herauszufinden, wo er das Herz der Urhexe finden kann. Cephas interessiert nur ihn selbst. Sobald es ihm nützen wird, uns Hexen zu töten, dann wird er das tun, ohne jegliche Bedenken."
„Aber es wird ihm nichts nützen wenn wir ihn unterstützen", konterte Xerxa, verfangen in ihrem Wunschdenken und dem verzweifelten Traum, uns Hexen endlich von unserem Leid zu befreien.
„Wir sollten diesen grausamen Mann nicht unterstützen. Auch nicht für unsere Freiheit. Cephas ermordet auch Unschuldige. Nein, er ermordet besonders Unschuldige."
„Unschuldige gibt es nicht mehr in dieser Welt."
„Es gibt einen Großteil der Menschheit, der uns nichts angetan hat, Xerxa. Du musst den Menschen verzeihen."
„Ich kann nicht", wisperte die Hexe, und für den Bruchteil eines Momentes erkannte ich grüne Farbe, die sich in das Rot ihrer Augen mischte, welche sich nun mit Tränen füllten. Sicher rief sie sich all die Geliebten in Erinnerung, die wir verloren hatten. Und natürlich war es auch wichtig, an sie zu denken. Aber ich dachte ebenso an all diejenigen, die wir noch verlieren könnten, wenn Cephas und Xerxa weiterhin am Leben blieben.
Ich hatte gehofft, dass ich Xerxa davon überzeugen könnte, mir das Herz zu überlassen. Aber es war deutlich, wie festgefahren sie in ihren Ansichten und ihrem Glauben war. Ich wusste nicht, ob ich einen Kampf gegen sie gewinnen konnte. Besonders mit dem Herz der Urhexe war sie sehr stark. Andererseits war sie von der Transplantation und dem Gebrauch des Herzens auch sichtlich erschöpft.
Ich beschloss, es nicht darauf ankommen zu lassen und schlug zuerst zu. Mit einer schnellen Handbewegung schleuderte ich einen Eisstrahl in Xerxas Richtung, der sie durch den Überraschungsmoment glücklicherweise unvorbereitet traf.
Das Eis traf ein Stück ihrer Schulter und den schwarzen Raben, der dort gesessen hatte. Mit steifem, gefrorenem Körper fiel er herunter und traf hart auf dem Boden auf. Ein kleines Hindernis war schon einmal ausgeschaltet.
Statt sofort zurück zu schlagen starrte Xerxa mich an, anscheinend ungläubig, dass ich es so ernst meinte. Aber ja, ich meinte es ernst. Hier ging es um Leben und Tod, nicht nur auf uns bezogen. Auch wenn wir einmal Schwestern gewesen waren und einiges miteinander durchgemacht hatten.
Dann änderte sich der Ausdruck in ihren Augen und das Rot schien zu Lodern zu beginnen.
Ich hob beide Arme, während tödliche Eisspitzen aus meinen Fingern schossen. Die Salve wurde jedoch von Xerxa abgewehrt, indem sie mit blitzschnellen, kreisenden Handbewegungen vor sich wischte. Die Eisspitzen schmolzen noch in der Luft und platschten nass auf dem Boden auf.
Bevor ich die Bewegung für einen erneuten Angriff vollenden konnte riss Xerxa ihre Arme hoch und herunter. Über mir knackte es.
Schnellstmöglich huschte ich zur Seite. Gerade noch rechtzeitig. Die Decke bröckelte und riss ein. Ein gewaltiger Brocken aus Beton und Ziegelsteinen kam herunter und krachte mit einer ohrenbetäubenden Lautstärke auf dem Boden auf, der das kaum auszuhalten schien und sich unter dem Gewicht beugte.
Beinahe die halbe Decke hatte Xerxa herunter gerissen. Regentropfen trafen mich, die von dem freigelegten Himmel und seinen schweren Gewitterwolken kamen.
Ich hielt den Atmen an und ließ Dornenranken aus meinen Fingerspitzen schnellen, die sich um Xerxas Handgelenke wickelten. Bevor sie sich wehren konnte zog ich sie mit aller Kraft vorwärts und wickelte sie mit neuen Ranken um den Brocken, den sie aus der Decke gerissen hatte.
Mit einer Hand versuchte ich die Hände von Xerxa in Zaum zu halten. Mit der anderen Hand zielte ich nach oben, schickte Dornenranken zum Rest der Decke und zog die Hand nach unten. Die zweite Hälfte des Turmdaches stürzte herunter.
Als das weitere Gewicht auf dem Boden einstürzte, riss dieses ein Loch in den Boden. Die riesigen, schweren Teile des Turmdaches stürzten in den Stock unter uns. Und Xerxa wäre dabei gewesen, wenn sie sich nicht vorher wie durch ein Wunder mit Feuer aus meinen Dornen befreit hätte.
Die ohrenbetäubende Lautstärke des Einsturzes dröhnte mir noch immer in den Ohren. Das war sicherlich im ganzen Schloss zu hören gewesen.
Frustriert ballte ich die Hände zu Fäusten. Meine Gegnerin war viel zu konzentriert. Ich musste sie irgendwie ablenken oder aus der Ruhe bringen.
„Du bist zu schwach, Xerxa!", rief ich der Hexe zu, die auf der anderen Seite des Raumes stand. Uns trennte nur noch das große Loch im Boden. „Lange wirst du es nicht schaffen, das Herz zu benutzen."
Xerxa lachte nicht einmal mehr. Mit wahnsinnigem Blick hatte sie die Augen weit aufgerissen. „Ich habe hunderte von magischen Wesen auf einmal hergeholt, erschaffen und kontrolliert", schnaufte Xerxa. „Ich bin alles andere als schwach."
Innerhalb eines kurzen Momentes war sie zu mir herüber gesprungen. Mit lodernden Augen stand sie vor mir, stieß die Arme aus und schleuderte mich mit einem gewaltigen Windstoß zurück. Ich stolperte zurück und blieb irgendwo mit meinen Fersen hängen. Mein Oberkörper kippte zurück.
Ich spürte einen kalten Windhauch um meinen Kopf und wie mein Gewicht mich nach unten drückte. Nur meine Hände, die sich um den Fensterrahmen krallten und die Ranken, die aus meinen Fingerspitzen wuchsen, hielten mich noch vor dem freien Fall in meinen Tod ab.
Kurz sah ich über meine Schulter nach unten. Das ganze Königreich lag unter uns und war von hier aus zu sehen.
Als ich wieder nach vorne blickte streckte Xerxa die Arme noch weiter und lehnte sich vorwärts, um den Wind zu verstärken. Meine Kaputze fiel herunter, meine Haare peitschten an mir vorbei. Mit der rechten Hand krallte ich mich fester an den Fensterrahmen und stemmte meine Füße in den Boden. Die linke Hand riss ich nun vor mich, meine Handfläche zu Xerxa zeigend.
Das strahlende, helle Licht schoss nach vorne und blendete Xerxa. Da es auch mit geschlossenen Augen höllisch brannte riss die Hexe zu ihrem Schutz die Hände vors Gesicht.
Jetzt, wo der Wind weg war, lehnte ich mich wieder vorwärts und sprintete vom gefährlichen Fenster fort, genau auf Xerxa zu. Diese riss die Hände nach vorne, doch schon sprang ich mitten in sie hinein.
Ich stürzte uns beide durch das Loch im Boden hindurch. Im freien Fall bekam sie meine Hüfte zu fassen und entzündete Feuer in ihren Händen. Während ich vor Schmerzen schrie krachten wir beide auf die Reste des Turmdaches ein Stockwerk weiter unter uns.
Mit einer schneller Handbewegung griff ich in meine Tasche im Umhang und zog einen spitzen Gegenstand hervor. Dann rammte ich den Dolch in die Seite von Xerxas Hals hinein.
Einen Dolch. Die Waffe eines Menschen.
Auf einmal herrschte Stille. Meine ehemalige Schwester riss die Augen auf und öffnete den Mund, um zu atmen. Doch sie röchelte nur leidend, während sie mich anblickte.
Ja, ich hatte unfair und dreckig gekämpft. Ich wusste das.
Während ich den Dolch in ihrem Hals noch immer mit der linken Hand umklammerte, bewegte sich meine rechte durch heißes Fleisch hindurch.
Xerxa hob mit ihrer letzten Kraft eine Hand und umklammerte mein rechtes Handgelenk mit ihren langen Fingern. Doch es war zu spät.
Meine Hand hatte sich durch ihre Brust geschnitten und den Brustkorb durchtrennt. Mit den Fingern hatte ich das pochende Herz umschlossen.
„Es tut mir leid", flüsterte ich, unentwegt in ihre blutroten Augen sehend. Und das war die Wahrheit.
Schnell, um ihr möglichst wenig Schmerzen zu bereiten, zog ich das Organ aus ihrem Körper heraus. Das Rot in Xerxas Augen verschwand und ging zu einem hellgrün über, welches schließlich langsam abebbte und in Schwarz versank. Der Griff der Hexe um mein Handgelenk löste sich, während ihr kniender Körper vollkommen auf den Boden sank.
Ich blickte auf das blutige Herz in meiner Handfläche. Fast hatte ich es geschafft.
Erschöpft und beinahe am Ende meiner Kräfte ließ ich mich auf die Knie fallen. Langsam legte ich meinen schwarzen Umhang ab und schob die darunter liegenden Gewänder beiseite, bis mein nackter Oberkörper enthüllt war. Für einen Moment legte ich das leblose Herz auf meinen Oberschenkeln ab.
Mit meinen scharfen Fingernägeln machte ich einen tiefen Schnitt in meine Haut. Mit schwerem Atem steckte ich meine Fingernägel in die Öffnung und zog die Hautfetzen beiseite. Schreiend und mit tränenden Augen griff ich mit der linken Hand zu meinem Herz und mit der rechten Hand zu dem der Urhexe. Alles schmerzte. Ich blutete stark. Mein Körper war ausgezehrt und am Ende seiner Kräfte. Aber ich musste das überleben. Ich musste einfach.
In einem schnellen Übergang schob ich gleichzeitig das neue Herz hinein und zog das alte hinaus. Für einen Moment fehlte mir der Atem und ich spürte meine Schmerzen nicht mehr. Ich spürte nichts mehr in meinem Körper.
Leblos kippte ich hinten über. Mit dem Rücken auf zerbrochenen Teilen des Daches liegend starrte ich hoch in den Himmel. Regen fiel mir ins Gesicht und in meine offenen Augen.
Ich hoffte, dass es meinen Schwestern da draußen gut ging. Dass keine von ihnen getötet oder verletzt worden war. Dass sie ein friedliches Leben führen würden, egal ob ich leben oder sterben würde. Sie hatten es verdient. Jede einzelne von ihnen.
Immer und immer wieder wünschte ich es mir. Eine ganze Ewigkeit lang, in der ich nicht wusste, ob ich am leben oder am sterben war.
So lange, bis das Herz einen Schlag in meinem Brustkorb machte. Und wieder einen.
Endlich machte ich einen panischen Atemzug und lag wie eine beinahe Ertrunkene auf dem Boden, die man aus dem Wasser auf das Land gezogen hatte.
Ich spürte die kitzelnden Regentropfen auf meiner Haut. Ich spürte die brennenden Schmerzen in meiner Hüfte und meiner Brust. Ich spürte, wie sich das Herz weiter in der Öffnung meines Oberkörpers vergrub und mit dem umliegenden Fleisch vereinigte.
Überwältigt lag ich dort und fühlte, wie die Haut um das Herz heilte und meinen Brustkorb wieder verschloss, als wäre der tiefe Schnitt in meiner Haut nie da gewesen.
Und mit einem Male fühlte ich nicht nur mich selbst. Ich fühlte alle Wesen um mich herum. Ich nahm ihre Herzschläge wahr, wie sie sich fühlten, wovor sie sich ängstigten. Ich spürte einen Zugang zu den Wesen, die eine Richtung benötigten und sich allein und einsam fühlten. Die, die litten und zu grausamen Taten gezwungen worden waren. Die Höllenwesen, die es in dieser Welt nicht aushielten, weil es ihnen den Körper zerriss. Die magischen Wesen, die sich nach ihren Gleichgesinnten sehnten und zu einem Zuhause wollten.
Noch mehr Regentropfen platschten mir in mein Gesicht. Ich schloss meine Augen und setzte sie frei. Ich setzte die Wesen allesamt frei.
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