| 15 | dragons

So comes snow after fire
and even dragons have their endings. - J.R.R. Tolkien

-----❅-----

- Victorine -

-----❅-----

Für einen kurzen Moment tanzten schwarze Punkte durch meine Sicht, dann verdunkelte sich die Welt vor meinen Augen. Ein heller, einvernehmender Ton hallte in meinen Ohren.

Ich versuchte mich zurück zur Orientierung zu kämpfen und streckte die Arme aus. Meine Finger betasteten lederne Haut. Plötzlich schoss Licht durch mein Sichtfeld, für einen winzigen Augenblick. Dann noch einmal. Der Gegenstand vor mir bewegte sich ein wenig.

Und während ich anfing zu begreifen was hier vor sich ging, wurde der Ton in meinen Ohren dumpfer, dann wurde er durch Töne von Kreischen ersetzt. Einer davon stammte von Deidamia.

Kalter Schreck fuhr durch meinen gesamten Körper. Die angreifenden Wesen hatten uns gefasst, ich war von dem Rücken des Drachen geschleudert worden. Sie hatten sie am rechten Flügel getroffen.

Wie als Bestätigung tropfte nun warmes Blut auf mich hinab. Es lief in meine Augen und ich wischte es aus meinem Sichtfeld. Ich schmeckte den Geschmack von Eisen im Mund, als ich mich ein wenig zwischen Deidamias heißem Körper und ihrem Flügel hervor zwängte.

Ich erkannte alleine etwa fünf Wesen in meinem stark eingeschränkten Blickwinkel. Sie flogen immer wieder auf den Drachen zu, zielten auf Augen und die Flügel, bissen in ihre Haut und rissen Stücke heraus. Und doch versuchte Deidamia nicht, über den Boden zu fliehen.

Sie wehrte die Wesen mit ihrem linken Flügel und Feuer ab. Ohne Unterbrechung spie sie Flammen aus. Die Luft um uns herum hitzte sich auf. Ich versuchte mich noch mehr aus der Lücke zu quetschen, doch augenblicklich drückte Deidamia den Flügel enger an sich und schnürte mir fast die Luft ab.

Nein. Verzweiflung fuhr durch mich hindurch und ich versuchte mit aller Kraft, mich zu befreien.

Ich drückte mich gegen den verletzten Flügel, spürte warme Flüssigkeit, blankes Fleisch und Knochen an meinen Fingern. Stemmte mich mit den Füßen dagegen und versuchte mich nach oben heraus zu drücken, doch all das nützte nichts.

"Deidamia, nein!", schrie ich und hämmerte mit den Fäusten gegen sie. Aber ich saß genauso fest wie zuvor.

Die Wesen kreischten angriffslustig und ich spürte, wie sie gegen den verletzten Flügel stießen, der mich schützte. Es wurde merklich heißer um mich herum. Sie verteidigte meine Seite durch Feuer und vernachlässigte dadurch ihre andere.

"Nein!", rief ich noch einmal und spürte, wie mir Tränen in die Augen schossen. Mit aller Kraft zog ich mein Schwert aus dem eingequetschten Bereich hervor und schaffte es nach einer Ewigkeit, es ihr endlich schreiend durch den Flügel zu stoßen. Sie zuckte. Aber sie ließ nicht locker.

"Nein, nein, Deidamia, ich bitte dich!", rief ich heulend, in meiner Kehle steckte ein riesiger Knoten und nahm mir beinahe den Sauerstoff.

Sie opferte ihr Leben, um mich zu beschützen.

Und für einen Moment wurde ich paralysiert und in den Keller gestoßen. Ich rollte und rollte in die Sicherheit, während man meine Mutter ermordete. Spürte die Hilflosigkeit und die pure Verzweiflung, helfen zu wollen, von dumpfen, betäubenden Gefühlen überrollen. Das Atmen wurde mir immer schwerer.

"Victorine!", schrie jemand von irgendwo und holte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich brachte kein Wort hervor, mein Gesicht war komplett nass von Tränen und Blut, meine Sicht verschwemmt.

"Bitte, bitte, Deidamia", fand ich dann die Worte, aber nicht mehr schreiend, sondern karg, kümmerlich und weinerlich.

"Victorine!", ertönte wieder der Schrei, diesmal näher. Dann hob sich der Flügel an und ich erkannte einen breiteren Teil der Szenerie, in der ich mich befand.

Deidamias Gesicht war blutüberströmt und teilweise unidentifizierbar, die Flammen wallten durch die Luft. Es waren mindestens zwei Dutzend ein Meter große schwarze, fledermausartige Geschöpfe mit schrecklich weit aufgerissenen Mäulern und nadelspitzen, langen Zähnen.

Eine Hand packte mich an meinem Unterarm. Ich riss das Schwert aus Deidamias Flügel heraus und richtete es mit beiden Händen gefasst auf Nicolas.

Nur über meine Leiche würde ich Deidamia hier sterben lassen.

Ich würde hier kämpfen, bis zum letzten Atemzug. Hier sterben, mit Deidamia.

Doch meine Finger und mein ganzer Körper zitterten, noch immer standen mir Tränen in den Augen, sodass ich kaum zielen konnte. Ich spürte, dass ich ganz kurz vor einem Zusammenbruch stand.

Nicolas griff um das Schwert herum und zog mich mühelos zu sich. Mein Körper war nicht in der Lage, sich dagegen zu wehren, egal wie viel Willenskraft in mir steckte.

Dann befand ich mich auf dem Rücken eines Pferdes. Wir waren noch immer im Schutz des leicht angehobenen Flügels.

Und dann ritten wir los.

"Nicolas, nein!", brüllte ich aus Leibeskräften und stürzte zur Seite, um mich von dem Pferd zu werfen. Der König umgriff mich von hinten und hielt mich schmerzhaft und gewaltsam fest.

"Nicolas, ich muss Deidamia helfen! Ich muss- Lasst mich, lasst mich ihr helfen!", rief ich und versuchte, mich zu befreien. Als das nichts brachte, rammte ich meinen Ellbogen hinter mich, doch schon blockierte Nicolas diesen.

"Victorine, hör auf! Sie rettet dir dein Leben!"

Ich sah über meine Schulter hinweg nach hinten an Nicolas vorbei. Wollte Deidamia einen letzten Blick zuwerfen, doch meine Sicht war so von Tränen verschwommen, dass ich kaum etwas erkennen konnte. Wir ritten immer weiter fort und sie wurde immer, immer kleiner. Mein ganzer Brustkorb zog sich zusammen und mein Atem war so flach, dass ich kurz das Ersticken fürchtete.

Deidamia durfte nicht sterben, das durfte alles nicht passieren. Mir schien es, als verstünde ich kaum, was gerade genau passiert war. Denn das konnte nicht möglich sein. Deidamia konnte nicht tot sein.

Ein Keuchen entkam meiner Kehle. "Nein, Nicolas, nein!" Ich hatte keine Ahnung, wie oft und lange ich schrie, aber es schien mir wie eine Unendlichkeit zu dauern, bis meine Stimme versagte und ich kopfüber gebeugt heulende, winselnde Laute ausstieß.

Irgendwann wurde ich still. Starrte auf bestimmte Blickpunkte und sah andererseits doch nichts. Hörte das Klackern von Pferdehufen und andererseits doch nicht. Spürte tiefste Trauer und andererseits doch nichts.

Ich hatte keine Ahnung wie lange wir ritten. Minuten? Stunden? Bis wir plötzlich stehen blieben und ich nach ein paar Sekunden vom Pferd stieg. Meine Beine wankten und ich fiel zu Boden. Noch immer zitterte ich.

Alles war kalt und getrocknet in meinem Gesicht, an meinem Körper. Mein Schwert fiel neben mich. Ich blieb auf dem Boden knien und starrte es an. Deidamias Blut klebte an ihm, genauso wie an meinem Körper, meinem Gesicht, meinen Händen.

"Du hast eine Wunde am Kopf", bemerkte Nicolas. Ich antwortete nicht. Wen interessierte meine Verletzung. Schweigend ließ ich zu, dass er meine Wunde reinigte, beachtete es kaum. Bemerkte am Rande, dass er zum Dutzen übergewechselt hatte. Verschaffte mir nur einen groben Überblick über die wäldliche Umgebung und den Fluss vor uns.

Ich tat alles, um nicht an diesen Albtraum zu denken. An das, was unmöglich passiert sein konnte.

Plötzlich fuhr Nicolas herum, begab sich in eine aufrechte Haltung und zog sein Schwert hervor. Langsam und vorsichtig tat ich es ihm nach. Als vier der angreifenden Wesen von vorhin aus dem Gebüsch traten, erstarrte ich.

Nicht, weil ich Angst hatte. Sondern weil Deidamia tot war.

Weil sie ihr Opfer erledigt und sich dazu entschieden hatten, die Spur der Flüchtenden zu verfolgen.

Ich betrachtete die verkohlten Körperteile der Wesen und befand mich plötzlich wie in einem Paralleluniversum, in dem ich als ein Funke von Deidamias Feuer in ihre Haut eindrang und qualvolle Schmerzen verursachte.

Nach unbestimmter Zeit hockte ich über der Leiche vom letzten getöteten Wesen und stach zu, immer und immer wieder. Ich konnte nicht einmal genau sagen, was gerade passiert war. Die Gedächtnislücke verunsicherte mich und ich stach nochmals zu. Neues, frisches Blut spritzte mir ins Gesicht.

"Victorine, es ist tot", sagte Nicolas gleichzeitig verunsichert und sanft.

"Warum mussten sie ihr Leben für mich geben?", fragte ich dann leise, ließ mich und das Schwert auf den Boden sinken. "Sie und meine Mutter, warum? Wie soll ein Mensch diese Last nur ertragen?"

Er ließ mich einige Sekunden weinen, bevor er mit vorsichtigem Ton die Stimme erhob. "Das ist keine Last. Es ist eine Ehre. Sie haben das größte und bedeutsamste überhaupt getan, um dich zu beschützen. Es ist der größte Akt der Liebe, den ein Lebewesen vollbringen kann." Er machte eine kleine Pause, doch ich nahm keinen Blickkontakt auf.

Nun sprach er ein klein wenig leiser. "Sie wollten es so. Sie haben sich bewusst dazu entschieden, Victorine. Nicht erst in diesem Moment. Du wusstest auch schon vor einer langen Zeit, dass du für Deidamia oder deine Mutter sterben würdest."

Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit sah ich ihm in die ernsten, tiefgrünen Augen. Seine Gesichtszüge waren hart. Wir sagten eine lange Zeit lang nichts, bis er seinen Blick abwandte und ihn zwischen die Bäume schweifen ließ.

"Deidamia ist nicht nur gestorben", wisperte ich. "Sie hat die Wesen so lange wie möglich aufgehalten, um uns einen Vorsprung zu geben. Hat gekämpft bis zum bitteren Ende, damit uns nicht zu viele nachkommen können. Ich hätte diese Situation nicht überlebt, wenn sie sich nicht in diese Qual und Folterei begeben hätte."

Nicolas sah noch immer tief in den Wald hinein und schien kurz nach Worten zu suchen. "Und auch das hat sie bewusst für dich getan. Du solltest dir keine Sorgen mehr darüber machen. Du trauerst, dabei trauern wir gar nicht nicht um den Verstorbenen. Das Wesen ist meiner Meinung nach weg. Nicht hier als Geist oder Seele oder übernatürliche Instanz, sondern weg. Das wohl einzige, was Magie nicht bewirken kann."

Er zögerte nachdenklich, bevor er weitersprach. "Nein, wir betrauern uns selbst, weil wir uns verloren und ins Nichts geworfen fühlen, nie die Worte gesagt haben, die wir eigentlich ausgesprochen haben sollten, nie mehr die Gelegenheit haben, Dinge zu tun, die getan werden sollten. Und ich weiß, dass dieses Gefühl nie ganz verschwinden wird. Aber denk daran, dass du dich vielleicht nicht so sehr betrauern musst. Dein Vater hätte sein Leben für dich gegeben. Deine Mutter und Deidamia haben es getan. Du hast geliebt und wurdest geliebt und das Geschehene ist der größte Beweis dafür."

Seine Worte brannten sich in mein Gedächtnis und ich wusste, dass ich diesen Moment niemals in meinem Leben vergessen würde. Der Schmerz in seiner Stimme war nicht zu überhören. Blind starrte er ins Nichts. Betroffen wandte ich den Blick ab.

Nicolas sprach aus Erfahrung. Wie viel zu selten spürte ich, dass er nicht nur ein König, sondern auch ein Mann mit Gefühlen war. Der den Thron seiner Eltern viel zu früh besteigen musste.

Man konnte den Verlauf des Schicksals nicht rückgängig machen, jedoch konnte man die Zukunft beeinflussen. Ich sollte mich darauf konzentrieren, diese Welt sicherer zu machen. Meine Schwester zu befreien.

Mein Herz schlug etwas schneller und es fühlte sich gut an, den wiederkehrenden Druck gegen meinen Brustkorb zu spüren. Nicolas hatte Recht und ich fragte mich, wie ich mir überhaupt eine Sekunde Selbstmitleid hatte erlauben können.

Er hatte Recht, denn natürlich geschahen Dinge willkürlich und bedeutungslos in dieser Welt, doch der Tod meiner Eltern und meiner ältesten, einzigen Freundin nicht. Sie starben für etwas, starben für mich, und das gab ihrem Tod eine Bedeutung.

Ich konnte den Verlauf unseres Schicksals ändern. Ich würde meine Schwester und das gesamte Land retten und die pure Boshaftigkeit von ihrer Herrschaft stürzen.

Wir ritten durch die Dämmerung. Die Hufe des Schattenpferdes schlugen rhythmisch auf dem Boden auf, seine langen und kräftigen Schritte brachten uns mit jeder Sekunde näher an unser Ziel.

Nicolas und ich sprachen nicht miteinander und doch verstanden wir uns so gut wie nie. Ich war wild entschlossen, Cephas zu Fall zu bringen. Es war blind zu spüren, dass Nicolas das Gleiche fühlte. In seinen Augen sah ich mehr als Entschlossenheit, sondern eine unheimliche Art von Gewissheit. Als würde er alles erdenkliche tun, um seinen Todfeind aufzuhalten.

Es wurde immer dunkler und kälter. Ich sah nach oben. Die funkelnden Sterne dort fern am Himmelszelt schienen mir wie geheime Verbündete.

Nicolas und ich waren klein im Vergleich zu dieser Welt. Klein im Vergleich zu Cephas' Königreich oder seiner unüberwindbaren Armee. Aber unser Mut war viel stärker als zuvor, unsere Entschlossenheit größer wie noch nie. Nicht die Größe eines Körpers zählte, sondern die Größe seines Herzens. Das Vertrauen in sich und seine noch so wenigen Verbündeten. Vertrauen in die Taten liebender Verstorbener.

Ich machte diese Reise nicht nur, um mich zu rächen, sondern um meine geliebte Schwester zu befreien. Um alle zu befreien, die in Angst lebten und Verlust erleiden mussten. Um die Welt wieder zu einem Ort zu machen, wo Familien zusammen leben können. Wo Freunde gemeinsam sorglos sein können. Wo alle Wesen existieren und leben können und Herzen haben, die diese Welt mit Leben und Wundern füllen.

Ich tat es für meine Mutter und meinen Vater, für meinen Bruder, für Crescentia und Deidamia. Für Nicolas und Tryhopsa und Orestes und den Rest der mutigen Truppe. Für Nicolas' Eltern. Für alle Drachen und gutherzigen Wesen dieser Welt. Für Vindicta und alle Hexen, die für ihre Freiheit mit Narben bezahlen mussten. Für die Urhexe und ihr gestohlenes Herz. Für Archelaus und Andaus, die sich vor Angst in ihren neu erbauten Königreich versteckten. Für den Schiffskapitän Vane und seine Crew. Für die gefolterten Meerfrauen und die Opfer unseres miterlebten Wendigo-Angriffes. Für alle, die durch Cephas schreckliche Verluste erleiden mussten.

Weil ich es für all diese Menschen und Lebewesen tat, erfüllte mich das mit Kraft. Genug Kraft, selbst die stärksten Armeen zu bekämpfen und die unüberwindbarsten Mauern zu überwinden.

Ich schloss die Augen und als ich die kalte Luft dieser Nacht einatmen wollte, war diese plötzlich nicht mehr kalt, sondern heiß wie Feuer. Ich fühlte, wie das Feuer meinen Geist und meine Seele mit unerschütterlichem Vertrauen erfüllte. Ich öffnete die Augenlider und sah nach oben in den Himmel hinauf. Jemand hatte mir ein Geschenk gemacht.

Deidamia vertraute mir.

Ich vertraute mir.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top