1. Erste Warnung
Die Welt fühlte sich so an, wie man es sich vorstellte, auf einer steilen Sinuswelle mit 350 Stundenkilometern zu gleiten. Kurz gesagt, einigermaßen miserabel. Der Tinnitus war nicht verschwunden, das Rauschen war auch noch da, und zusätzlich hatte sich Übelkeit in meinem Magen breitgemacht. Alles drehte sich. Wenigstens befand ich mich anscheinend auf vertrautem Terrain, denn als ich die Augen öffnete, was mich so viel Kraft kostete, wie es sonst nur ein zweistündiges Workout würde, blickte ich aus meinem Fenster. Draußen war es stockdunkel und die Sterne schienen blass am schwarzen Nachthimmel. Ich war sicher, dass Aranka mich ins Bett gebracht hatte, wie sie es auch geschafft haben mochte. Ein Bild zwang sich wieder in meinen schmerzenden Kopf. Zwei Männer, die genau wussten, dass ich nur 17 gewesen war und sich hungrigen Blickes über mich beugten. Aranka. Meine kleine Schwester. Sie hatte alles gesehen. Sie war 14, zu jung, um auch nur eine Sekunde der Aufnahmen gesehen zu haben. Ich drehte mich hastig in Richtung Tür. „Ari!", versuchte ich zu rufen, aber alles, was aus meinem Mund kam, war ein heiseres Keuchen. „Fuck", flüsterte ich und versuchte, aus meinem Bett aufzustehen, doch dabei fiel etwas von meinen Beinen auf den Boden. Ich bückte mich mühsam nach unten und hob den Papierfetzen auf.
„Ruf mich an, wenn du wach bist. Handy liegt auf deinem Nachttisch, wir warten unten auf deinen Anruf. –Ben"
Mir lief es eisig den Rücken hinab. Ben, einer meiner engsten Freunde und mein platonischer großer Bruder, würde nicht begeistert sein, dass ich mich um das Bewusstsein getrunken hatte. Wenigstens hatte der Alkohol mich betäubt und mir die Qual der Entscheidung, wie ich nun fortfahren sollte, kurz abgenommen. Ich las den Zettel nochmal. Wer war wir? Ben und Aranka? Es konnte nicht schon so spät sein, dass mein kleiner Bruder schon zurück war. Wer ließ sich denn mitten in der Nacht von der Geburtstagsfeier der Freundin nach Hause fahren? Nicht Lajos. Sicher nicht Lajos. Ausgelaugt griff ich nach meinem Handy, das tatsächlich auf dem Nachttisch lag. Ich rief Ben an, der unmittelbar nach dem ersten Klingeln den Anruf entgegennahm. „Hey, wir kommen hoch", sagte er kurz angebunden. „Ben?", krächzte ich. Ich klang erbärmlich. Er brummte fragend und ich hörte seine Schritte auf der Treppe. „Sei nicht sauer."
Die Tür wurde aufgestoßen und die vertraute, große Gestalt Bens trat ein. Ich legte auf und das Handy zur Seite. „Wer ist das?", fragte ich erschrocken, als eine noch einen Kopf größere Person mein Schlafzimmer betrat. Blondes Haar fiel ihm in die Stirn, verdeckten beinahe ein Paar eisig blauer Augen, die trotz ihrer Helligkeit etwas Düsteres ausstrahlten. Beinahe wie Ben, wenn er den Morgenkaffee ausließ. „Ich bin Riko, dir auch einen schönen Abend." Riko. Bens bester Freund, von dem er mir unzählige Male erzählt hatte. Na sicher. Der Automechaniker, wenn ich mich richtig erinnerte. „Oh. Hi." Ich starrte ihn an und er starrte mindestens genauso entfremdet wieder zurück. Nach einigen langen Sekunden wandte er den Blick ab und sah aus dem Fenster. Ben hob die Stimme. „Was ist dir dieses Mal durch den Kopf gegangen, als du spontan den Beschluss gefasst hast, dich zulaufen zu lassen?" Ich presste die Lippen so fest aufeinander, dass es wehtat. „Ich will nicht darüber reden", brummte ich irgendwann und wich jeglichem Augenkontakt aus, indem ich den Blick fest auf der Tür verharren ließ. „Ach, komm schon." Ben setzte sich an meinen Bettrand. „Du weißt doch, dass ich mir nur Sorgen mache, Levi." Ja, das wusste ich. Streng genommen hatte er den peinlichen Teil des Geschehnisses sowieso schon mitbekommen – dass ich zu weinen begann und zum Alkohol griff, statt aktiv an der Problemlösung zu arbeiten. Der Rest war nicht meine Schuld. „Dexter." Das war das Einzige, was ich sagte, doch es reichte aus, um Bens Ausdruck von Sorge und Entnervtheit in Schock zu verwandeln. „Was ist mit Dexter? War er hier?!" Bens Stimme sprach von Angst und ich atmete zittrig durch. Mein Blick richtete sich auf Riko, der stumm wie ein Fisch hinter Ben stand und aus müden Augen zu mir hinabblickte. „Nichts für ungut, aber ich fühle mich erst recht nicht wohl, es zu sagen, wenn..." Riko hob die Augenbrauen und die Hände. „Schon okay, ich warte unten. Sag Bescheid, wenn ihr fertig seid", sagte er zu Ben. „Danke", erwiderte ich und er nickte mir zu, bevor er zur Tür ging und sie hinter sich schloss. „Nett von ihm", kommentierte ich und Ben meinte: „So ist er. Jetzt rück schon raus damit, du beruhigst mich nicht, indem du einen von denen erwähnst und dann nichts mehr sagst." Ich nickte. „Würdest du mir meinen Laptop geben?" Er lag auf dem Schreibtisch, Aranka hatte ihn vom Bett genommen. Aranka? Das hatte ich völlig vergessen. „Ben?", fragte ich, als er mir meinen Laptop reichte. „Wo ist Ari?" Er zuckte mit den Schultern. „Die ist ins Bett gegangen, als wir kamen." Gut. Ich fasste einen Plan, sie morgen darauf anzusprechen. Vielleicht würde ich es schaffen, sie davon zu überzeugen, dass die Aufnahmen tatsächlich nicht mich zeigten – je nachdem, wie viel sie gesehen hatte. Ben rutschte näher zu Kopfseite meines Bettes, um einen guten Blick auf den Laptop zu haben. Ich strich mir die Haare hinter das Ohr, dann schaltete ich das Gerät an. Es befand sich im Energiesparmodus, und so war das Erste, was uns entgegensprang, das Standbild der Aufnahme, die ich aufgerufen hatte. Ben sah überrascht grinsend auf. „Wie ich sehe, warst du noch...beschäftigt, bevor du getrunken hast." Ich schüttelte den Kopf und schlug ihm so unabsichtlich mit den Locken ins Gesicht. „Das ist kein Porno. Das bin ich, Ben." Er zog verwirrt die Brauen zusammen, in der Erwartung, dass ich gleich über meinen grandiosen Witz lachen würde, aber ich wandte den Blick ab und schloss die Aufnahme. Es zeigte sich eine anonyme Nachrichtenkette. „Hier, das hat Dexter mir geschickt." Ich scrollte bis an den Anfang des Chats. Sätze wie „Hey, nur dass du weißt, dass du nicht so einfach davonkommst. Das hier ist die erste Warnung", „Du wirst sehen, was Nathan von Ausreißern hält" und „Was für eine Schande, wenn die an die Öffentlichkeit geraten würden, richtig?" fielen. Darunter hatte er mir die Aufnahmen mit dem Kommentar „Ein kleiner Vorgeschmack, mein Liebster" geschickt.
AN: Die Originalkapitel sind natürlich länger, etwa dreifach so lang. Ich finde nur kürzere (~1000 Wörter) Kapitel auf Watty charmanter, deshalb kürze ich sie. :D
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