𝐗𝐈

Mittlerweile war die Sonne vollständig vom Himmelszelt verschwunden.

Beinahe neckisch vernahm man die ersten schemenhaften Umrisse des schimmernden Mondes, der alles um einen herum in ein kaltes, blaues Licht tauchte.

Spielerisch brach sich das kühle Mondlicht an der unruhigen Wasseroberfläche des kleinen Teiches, die glitschigen Schuppenleiber der großen Kois funkelten in ihren eigenen Farben, sanfte Wellen gingen von den, den Wasserspiegel streifenden, Blättern aus.

Zwei Jahre waren bereits vergangen.
Zwei Jahre war Yoongi bereits allein.

Stumm betrachtete er die zitternde Wasseroberfläche.

Es war März und trotz der anhaltend hohen Temperaturen, die recht ungewöhnlich für die den dritten Monat im Jahr waren, war der März nicht so schön wie vor zwei Jahren.

Denn so sehr die Sonne auch ihr Bestes tat, mit ihren wärmenden Strahlen alles zu erreichen, sie erreichte nicht mehr Yoongis schmerzendes Herz.

Es war kalt geworden.

Was nützen ihm die poetischen Worte des Jüngeren jetzt?

Was für einen Sinn hatte der Schwur der beiden Männer nur gehabt, jetzt wo Jimin nicht mehr da war, jetzt wo Jimin fehlte und das Loch in Yoongis Herzen sich selbst nach all der Zeit, die bereits verstrichen war, noch anfühlte, wie gestern zugefügt.

Schmerzhaft und pulsierend begleitete ihn diese Leere auf Schritt und Tritt.

Es fehlte einfach ein Stück seiner Selbst.

Taehyung hatte es auf der Beerdigung in guten, treffenden Worten formuliert.

Aber er war ja auch Arzt, zeitlebens war er von Tod und Trauer umgeben, wenn jemand wusste, wie man eine feurige Grabrede hielt, dann doch wohl der mittlerweile ergraute Mediziner.

Er hatte sowas in seinen bis dahin zehn Jahren Berufserfahrung noch nicht erlebt und er hätte es auch in den darauffolgenden 40 nicht mehr getan.

Yoongi und Jimin – sie wären einfach füreinander bestimmt gewesen.

Das oder so ähnlich hatte er gesagt und Yoongi hatte die Beschreibung durchaus treffend gefunden.

50 Jahre.
Über 50 Jahre war Jimin an seiner Seite gewesen.

Doch jetzt war Yoongi allein.

Und doch musste er weitermachen.
Wie sie es immer taten.
Nur, dass es nun kein ›wir‹ mehr gab.
Yoongi war nur noch ein ›ich‹ und er wusste gar nicht mehr, wie das einmal gewesen war.
Nur ein ›ich‹ zu sein.

Mit Tränen in den Augen dachte der alte Mann an seine eigene Grabrede. Sie war weder so schön, noch so hoffnungsvoll wie die des alten Arztes gewesen. Sie war - einfach gewesen:

»Gerne würde ich sagen können, er hätte seinen letzten Atemzug bei klarem Verstand getan. Gerne würde ich sagen, wir hätten noch große Reden geschwungen, von wegen, dass der Tod nicht das Ende, sondern lediglich der Beginn von etwas Neuem sei. Gerne hätte ich uns mit diesen süßen Lügen getröstet, doch die letzten Stunden haben wir lediglich dagelegen und gewartet. Irgendwie wussten wir beide, dass die Zeit gekommen war. Die Zeit war schon immer unser Feind gewesen. Eigentlich dachte ich, damals im Krankenhaus, als Jimin die Lider aufgeschlagen und mich angesehen hatte mit seinen wunderschönen, strahlenden Augen, dass wir gewonnen hätten. Dass wir die Zeit abgehängt hatten. Doch die Zeit kann man nicht überlisten. Man kann vor ihr fliehen, man kann sie verleugnen, doch trotzdem ist sie da. Unablässig und unbarmherzig heftet sie sich an deine Fersen, bis sie dich schließlich niederstreckt.« Ein Raunen ging durch die Menge, doch ich fuhr unbeeindruckt fort.

»Jimin verlor das Bewusstsein einige Stunden, bevor sein Herz seinen letzten Schlag tat. Doch es war in Ordnung. Stumm hatte ich dagelegen und seinem Atem gelauscht,um mir jede Falte, jeden Fleck auf seiner noch immer makellos, perfekten Haut einzuprägen. Ich hatte ihn an meine Brust gezogen, wie ich es immer tat und hatte beruhigend über sein Haar gestrichen. Damals im Koma hatte er meine Berührungen spüren können, also warum jetzt nicht auch? Die Geräte kündigten bald darauf bereits die verminderte Herztätigkeit an, leise begann ich auf ihn einzureden, dass es okay sei, dass er jetzt loslassen könne. Aber er war schon immer ein ziemlicher Dickkopf gewesen.« Ich spürte, wie eine heiße Träne meinen Augenwinkel verließ und über meine erhitzte Wange kullerte.

»Immer schneller begannen die vielen Monitore und Geräte zu piepen und zu blinken, doch lauter als sie schlug nur mein eigenes Herz. Liebevoll drückte ich ihm einen letzten, innigen Kuss auf die Lippen, ehe die Geräte verstummten und man nichts außer dem langgezogenen, monotonen Piepen des EKGs vernehmen konnte.« Man hörte das leise Schluchzen und den Gebrauch von Taschentüchern, als ich eine kleine Pause einlegte, um mich selbst wieder zu fassen.

Mit zitternder Stimme fuhr ich leise fort, das Mikrophon, welches an dem abgegriffenen Eichenholzpodium befestigt war, knackte einige Male, bevor es meine Stimme wieder klar übertrug: »Jimin, du warst mein Leben. I-ich, ich-« Es fühlte sich an, als würde mir etwas die Luft abschnüren, unbarmherzig zog es sich immer enger um meine Kehle, ich wandte mich von der trauernden Menschenmenge ab, um mich einige Male schmerzhaft zu räuspern, ehe ich fortfahren konnte: »Du warst mehr als lediglich einige Kapitel, Jimin. Du bist der Leim, der die Seiten überhaupt erst zusammengehalten hat.« Schluchzend presste ich die letzten Worte hervor, ehe mich eine erneute Welle der Traurigkeit und Panik erfasste.

Die Welt verschwamm vor meinen Augen und sogleich waren Taehyung und Jeongguk zu Stelle, sanft packten mich ihre kühlen Hände und ich wurde hinaus begleitet.

Stumm rannen nun ebenfalls dem alten Mann einige heiße Tränen die ausgekühlten Wangen hinunter.

Schnell wischte er sie beiseite, funkelnd brachen sie auf seiner faltigen Hand das einfallende Mondlicht und glitzerten ihn herausfordernd an.

Genau konnte Yoongi sich noch an das Bild erinnern, welches sie vor der Kapelle aufgestellt hatten, damals, während der Beerdigung.

Eigentlich sei es nicht üblich, hätte man ihm gesagt, aber auf Drängen Taehyungs und noch weiterer Freunde und Verwandter hatte man es doch gestattet: Es war ein wunderschönes Porträt der Beiden gewesen, noch heute stand es eingerahmt auf dem Nachttisch des alten Mannes, jeden Abend vorm Schlafengehen konnte er nicht anders, als es einmal in die Hand zu nehmen und es einfach nur zu betrachten.

Es war ein Foto, welches auf ihrer Hochzeitsreise entstanden war. Rund 85 Kilometer südlich der koreanischen Halbinsel am Ausgang der Koreastraße zum Ostchinesischen mehr erstreckt sich das tropische kleine Paradies, welches jährlich viele Touristen und Frischverheiratete anzieht: Jeju-Do.

Auch Jimin und Yoongi waren kurz nach ihrem improvisierten Jawort auf die vulkanische Halbinsel gereist und hatten sich den süßen Qualen des Verheiratet-seins hingegeben.

Ein trauriges Lächeln huschte über das Gesicht des alten Mannes, genau hatte er den Moment der Aufnahme noch vor Augen.

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