𝐈𝐕
Tick Tack. Tick Tack.
Beinahe unbarmherzig erinnerte mich das monotone Ticken der schweren Zeiger der sterilen Uhr, welche akkurat mittig über dem Krankenbett befestigt worden war, schmerzhaft an das unabdingbare Fortschreiten der Zeit.
Zeit.
Es war schon eine komische Sache mit der Zeit.
Wenn man denkt, man brauche sie, bekommt man sie nicht und wenn man sich nichts sehnlicher wünscht, als dass sie verstreicht, zieht sie sich zäher als jedes Kaugummi unter dem schmutzigen, bekritzeln Schultisch einer Mittelschule.
Die Zeit ist grausam, dachte ich abwesend, während ich mit einem zerknickten, alten Block neben dem modernen Krankenhausbett saß und nachdenklich auf dem stumpfen Ende meines Bleistifts herumkaute, ehe ich mir einige weitere Noten notierte.
Seit nunmehr fast einem Jahr kam ich jeden Tag, um Jimin zu sehen. Unmittelbar nach meinem Unterricht trugen mich meine Beine zu ihm, mein Herz beschleunigte sich jedes Mal aufs Neue, je näher ich dem großen, schmutzig weißen Gebäude kam und schien erst wieder Ruhe in dem schlafenden Gesicht des Jüngeren zu finden.
Zumindest hoffte ich, dass er schlief.
Die Ärzte machten sich mittlerweile nicht mehr viel Hoffnung, die gemessenen Hirnströme ließen zwar noch auf ein lebensfähiges Bewusstsein schließen, doch brachte uns das herzlich wenig, denn die lebenserhaltenden Maßnahmen, die seinen Körper unterstützen, solange sein Geist noch nicht in der Lage war, das Steuer erneut zu übernehmen, würden bald durch die laxe Absicherung seiner Krankenkasse abgestellt.
Uns fehlte einfach die Zeit.
Gedankenverloren ließ ich meinen abgenutzten Bleistift in dem bauchigen Körper der zuletzt gekritzelten Note kreisen, immer mehr Lagen hinterließ die bleierne Mine auf dem ausgeblichenen Papier, bis lediglich nur noch ein große graue Kringel auf dem Notenheft, welches locker auf meinem Schoß ruhte, zu erkennen war.
Frustriert stieß ich etwas Luft zwischen den Zähnen hervor.
Wie gewinne ich mehr Zeit?
Leise vernahm ich hinter meinem Rücken vereinzelte Schritte, gefolgt von einem geflüsterten Tuscheln. Abrupt wandte ich mich um und sah die beiden zierlichen Krankenschwester mit vorgehaltener Hand im Türrahmen stehen, während sie mich abschätzig mustern.
Unmittelbar nachdem ich mich umgedreht hatte, konnte ich beobachten, wie ihre Gesichter sich in dunkles Rot tauchten, ehe sie auf dem Absatz kehrtmachten und mit schnellen Schritten, die immer leiser auf dem gebohnerten Linoleumboden widerhallten, bis sie schließlich gänzlich verstummten, verschwanden.
Seufzend richtete ich mich in dem unbequemen hölzernen Stuhl auf und rückte etwas näher an das Bett heran, um behutsam Jimins Hand in meine zu nehmen.
Langsam ließ ich meinen Blick über sein nach wie vor wunderschönes Gesicht schweifen: Im Gegensatz zu den tiefen Schürfwunden an meinen Unterarmen, war seine Wange fast gänzlich perfekt verheilt, die Wundversorgung war aufwendig und wäre, wenn der Blonde währenddessen bei Bewusstsein gewesen wäre, sicherlich um einiges schwieriger und schmerzhafter gewesen, jedoch ließ mittlerweile lediglich ein leichtes Schimmern auf seiner Wange noch daran erinnern, welch große Verletzung vor nichtmal einem Jahr noch auf ihr geprangt hatte.
Schnell griff ich, ohne mich umzudrehen, nach der Wundcreme, die neben den frischen Schnittblumen, die ich ihm vor einigen Tagen mitgebracht hatte, stand, entfernte behände den kleinen, blauen Deckel und begann vorsichtig, die noch leicht gespannte Haut in seinem Gesicht mit der kühlenden Paste einzureiben.
Nicht mehr lange und es wäre auch der letzte Hinweis auf den Unfall an seinem Körper zumindest äußerlich verschwunden.
Obwohl - Das stimmte nicht zu hundert Prozent, korrigierte ich mich selbst stumm.
Meine Stirn in tiefe Falten gelegt, wanderten meine Augen hinunter zu dem, sich immer noch in einem, angsteinflößend aussehenden, Fixateur befindlichen, Bein des Jüngeren.
Durch die Abwesenheit sämtlicher Verwandter und anderen nahestehenden Personen, die für Jimin in seiner Unfähigkeit hätten entscheiden können, wurde nur das Nötigste getan, um sein Bein zu versorgen.
In einer achtstündigen Operation wurde der Knochen notgedrungen einige weitere Male gebrochen, ehe er, so gut es den Ärzten möglich war, mit vielen kleinen Nägeln und Klemmen notdürftig wieder zusammengesetzt, und das umliegende Gewebe entsprechend behandelt wurde.
Eine lange Zeit lang führten unzählige Schläuche heraus aus den getackerten Wunden, die aussahen wie eine geräucherte Wurst in einem zu engen Netz aus Eigenhaut, die zum Trocknen aufgehängt wurde, straff und, an den metallenen Klemmen immer wieder von leichten Entzündungen betroffen, quoll das geschundene Fleisch zwischen ihnen hervor.
Regelmäßig mussten die Sekretionsbeutel gewechselt werden, in denen sich unablässig neues, rotwässriges Wundwasser sammelte; nach einer Zeit übernahm ich diesen Job.
Je weniger Kontakt ich zu den Schwestern haben musste, desto besser.
Nach den einigen Malen, die ich sie durch die gläserne Front beobachtet hatte, wie lieblos und kurz sie die Übungen erledigten, die verhindern sollten, dass das restliche Muskelgewebe seines Körpers in der Zeit des Komas gänzlich atrophierte, verpfiff ich sie bei ihrem Vorgesetzten, ehe ich auch diese Aufgabe selbst übernahm.
Nachdem ich den blauen Deckel mit leisen schabenden Geräusch wieder auf der Cremetube festdreht und weggestellt hatte, nahm ich vorsichtig erneut die blasse Hand des Jüngeren, umfasste sie gänzlich mit meinen langen Fingern, ehe ich mich nach vorn beugte, meine schier glühende Stirn zaghaft an seine kühle Haut drückte und ein leises Brummen ausstieß.
»Was sollen wir nur tun, Jimin?«, flüsterte ich, die Augen geschlossen, meine Stirn weiterhin an seinen zierlichen Fingerknöcheln ruhend.
Die Stille, die in dem winzigen Krankenzimmer herrschte, schien an Tagen wie diesen beinahe noch erdrückender als sonst.
Gerade, als ich mich gänzlich meiner beginnenden Lethargie hingeben wollte, durchschnitt eine klare Stimme die umfassende Ruhe: »Herr Min, wie ich sehe sind sie heute auch wieder sehr früh dran.«
Erschrocken hob ich den Kopf, entspannte mich jedoch sogleich wieder, als ich den hochgewachsenen, hageren Arzt, dessen Gesicht mir in den letzten Monaten nur allzu bekannt geworden war, im Türrahmen stehend, erblickte.
»Guten Tag, Dr. Kim.« Respektvoll erhob ich mich kurz und verbeugte mich tief.
Zwar wäre das bei unserem Verhältnis mittlerweile nicht mehr unbedingt nötig gewesen, jedoch war ich diesem Mann so unglaublich dankbar für alles, was er bisher in diesem Krankenhaus für uns erreicht hatte, dass es in meinen Augen das Mindeste war, was ich ihm bei jeder unserer Begegnungen zuteil werden lassen konnte.
Er war der einzige Mensch in diesem verdammten Kasten, der gefühlt nur aus massivem Beton und rauen Mengen Desinfektionsmittel bestand, der sich wirklich in meine Situation hineinzuversetzen versucht hatte und mich von Beginn an nicht wie einen Aussätzigen behandelt hatte.
Dieser Mann hatte für Jimin gekämpft, sodass ihm überhaupt eine Rekonstruktion des verletzten Beines gewährt wurde, wäre es nach sämtlichen anderen Ärzten und Gutachtern der Krankenkasse gegangen, hätten sie das Bein ohne Umschweife amputiert.
Ich hatte ihn unter Tränen angefleht, mir zu helfen.
Er ist doch Tänzer, hatte ich geschluchzt.
Was wäre ein Tänzer denn ohne sein wichtigstes Werkzeug, seine Beine?
Und tatsächlich hatte mir der Arzt, nachdem er mich eine kurze Zeit lang mit seinen mandelförmigen, gütigen Augen gemustert hatte, versprochen, sein Bestes zu versuchen, um dieses Anliegen bei der Kommission vorzubringen.
Und es war uns tatsächlich geglückt.
»Wie fühlen Sie sich heute?«, riss mich der großgewachsene Mann mit seiner warmen, tiefen Stimme aus meinen Gedanken. Bedächtig tat er einige große Schritte in den Raum hinein, ehe er unmittelbar vor Jimins Bett mir gegenüber zum Stehen kam.
Ich runzelte lediglich die Stirn. »Spielt das eine Rolle? Sagen Sie mir lieber, wie es ihm geht.« Unwirsch strich ich mir die abstehenden Haare etwas glatt, um vor dem Arzt nicht allzu verwahrlost auszusehen.
Es wäre nicht das erste Mal, dass er sich mehr um den meinen, gesundheitlichen Status sorgte, als um Jimins, doch das war nicht richtig.
Immerhin war ich nicht der Patient, ich war wach, konnte durch die Gegend laufen und aus eigener Kraft atmen.
Ich war es nicht, der die Hilfe benötigte.
»Herr Min.« Der Arzt räusperte sich leise, ehe er erneut ansetzte: »Yoongi. Wir kennen uns mittlerweile bereits eine ganze Weile.« Ernst fixierten mich seine großen Augen. »Findest du nicht, dass es langsam Zeit wird.. naja, dein Leben weiterzuleben?« Besorgt bildeten sich einige Falten auf seiner sonst makellosen Stirn. »Nicht mehr lange und-«
Bevor er den Satz, bei dem ich bereits wusste, wie er enden würde, weiterführen konnte, fiel ich ihm mit ruhig ins Wort: »Doktor. Ich weiß ihre Sorgen wirklich zu schätzen, aber mir geht es gut! Bitte sagen Sie mir nur, was ich tun kann, um ihm zu helfen.« Meine Stimme wurde weich, sobald ich meinen Blick auf den schlafenden Jimin zwischen uns richtete.
Bei jeder anderen Person wäre ich wahrscheinlich vollkommen ausgerastet, wie ich es unter anderem bei meiner Familie schon einige Male war, wenn er dieses Thema so direkt angesprochen hätte, jedoch wusste ich, dass Taehyung stets nur das Beste für jeden wollte, wie auch hier.
Er wollte mich lediglich vor noch größerem Leid bewahren, was ich zwar dankend anerkannte, jedoch nicht in Anspruch nehmen wollte.
Jimin war das erste Licht, welches mich in den letzten über 20 Jahren meines Lebens gestreift hatte, ich hatte es in seinen Augen gesehen, er war das personifizierte Gute.
Und wenn mein jämmerliches Leben zu sonst nichts Nutze gewesen sein würde, als zur Rettung dieses Mannes, dann hatte ich trotzdem einen großen Dienst erwiesen, dessen war ich mir sicher.
Ein tiefer Seufzer entfuhr dem Arzt mir gegenüber. »Aber bitte geben Sie trotzdem auch sich Acht. Auch ihr Leben ist wertvoll«, entgegnete er beinahe tadelnd, ehe er resignierend das Zimmer verließ.
Schon oft hatten wir Gespräche wie diese geführt, doch dieses Mal schien Dr. Kim gemerkt zu haben, dass er gegen meinen Willen nicht ankam.
Ein sanftes Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, als ich abermals Jimins zierliche Hände mit meinen warmen Fingern umschloss und sie so versuchte, zumindest ein bisschen zu wärmen.
»Sie werden es nicht mehr verstehen, Jimin«, flüsterte ich kaum hörbar, »aber das ist auch nicht schlimm, solange du es tust.«
Natürlich war mir bereits vermehrt in den Sinn gekommen, dass der Blonde, dessen Haare mittlerweile jedoch eher wieder fast gänzlich schwarz waren, lediglich blonde Spitzen waren noch von dem ehemals hellen Haarschopf geblieben, vermutlich nichts von mir wissen wollte, sollte er irgendwann erwachen.
Doch auch das wäre in Ordnung. Dann würde ich gehen und ihn nicht weiter belästigen.
Selbstredend würde es mir innerlich das Herz zerreißen, doch ich hätte es nur allzu gut verstehen können, wenn es Jimin nicht behagt hätte.
Aber wenigstens wüsste ich dann, dass er lebt.
Das würde mir reichen, um mich weiter durchzuschlagen.
Behutsam ließ ich meinen Daumen auf der durchscheinenden Haut seines Handrückens kreisen, ehe ich erneut die Stimme erhob: »Jimin, du musst dich langsam beeilen, die Zeit läuft uns davon.« Fest drückte ich daraufhin seine Hand und heftete meinen Blick auf sein friedlich, schlafendes Gesicht.
Zeit.
Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, strenggenommen, dachte ich stumm. Sondern es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen, führte ich meinen Gedanken zu Ende, ehe ich einen federleichten Kuss auf die Hand des Blondhaarigen drückte, die vereinzelte Träne, die meinem Augenwinkel entfleucht war, hastig wegwischte, bevor ich mich schließlich wieder zurück in meinen unbequemen Stuhl fallen ließ und weiter an meiner Abgabe für den nächsten Tag in der Universität zu arbeiten begann.
__
Schrill riss mich das ohrenbetäubende Klingeln des Mobiltelefons aus meinem ohnehin schon unruhigen, traumlosen Schlaf.
Unwirsch wischte ich mir mit dem Handrücken einige Schlafkörnchen aus den zusammengekniffenen Augen, ehe ich ungläubig auf den alten Wecker, der unmittelbar neben meinem Bett mir mit leuchtenden Ziffern der unchristlichen Stunde, zu der mein Handy soeben ertönt war, anzeigte.
Grummelnd ergriff ich das kleine, elektronische Gerät und wollte es sogleich ausschalten, da stockte ich noch in meiner Bewegung.
Diese Nummer.
Das war die Nummer des Krankenhauses.
Mit einem Schlag war ich hellwach. Hastig drückte ich auf dem winzigen Display auf ›Annehmen‹ , bevor ich mich krampfhaft mehrere Male räusperte und mich mit kratziger Stimme zu Wort meldete.
»H-hallo? Spricht da ein gewisser-«, die kaum vernehmbare Stimme am anderen Ende der Leitung machte eine kurze Pause, »Min Yoon-«
»Min Yoongi, das ist richtig«, fiel ich ihr sogleich ins Wort. »Worum geht es, ist etwas mit Jimin?«, erwiderte ich so schnell, dass ich mich im Verlaufe des Satzes mehrere Male verhaspelte.
Erneut war für einen kurzen Moment nichts weiter zu vernehmen, als das leise Knacken der gehaltenen Leitung, sowie das Rascheln von Papier. »Es geht um Herrn Park Jimin, genau«, entgegnete sie daraufhin, ihre Stimme zitterte jedoch leicht und die gute Dame schien sichtlich verwirrt.
»Worum geht es denn?«, erwiderte ich unruhig. Mein Herz pochte schmerzhaft in meiner Brust, in meinem Kopf schwirrten dutzende, durcheinanderwirbelnde Gedanken.
»Ja also-«, die Frau am Telefon räusperte sich, »ich sehe, sie sind hier als einziger Notfallkontakt für Herrn Park hinterlegt, ist das richtig?«
»Das ist richtig, aber worum geht es denn nun genau?«, erwiderte ich aufgeregt.
»Das-«, erneut vernahm ich das Rascheln von Papier, »kann ich ihnen leider nicht einfach so sagen, wir würden Sie bitten, herzukommen.«
Stille.
»Wie bitte?« Meine Stimme überschlug sich. »Sie sagen mir jetzt sofort, was los ist«, donnerte ich durch den Hörer.
Gestresst fuhr ich mir durch die zerzausten Haare, währenddessen war ich bereits aufgesprungen und hatte begonnen, mir wahllos Kleidung, die wild auf dem Boden verstreut lag, zusammenzusuchen.
»Ich bin leider nicht befugt dazu, Ihnen-«
»Na dann geben Sie mir jemanden, der befugt dazu ist, ich möchte jetzt sofort wissen, was Sache ist«, zischte ich aufgebracht, während ich umständlich den Knopf der dunkelblauen Jeans versuchte, mit einer Hand zu schließen, mit der anderen Hand hielt ich weiterhin mein Telefon fest umklammert.
»Ich glaube nicht, dass das so einfach möglich ist, wenn-«
Abermals ließ ich sie nicht ausreden. »Glaube ist die Abwesenheit von Wissen. Ich möchte jetzt sofort mit ihrem Vorgesetzten sprechen«, wetterte ich, doch statt einer Antwort, vernahm ich auf der anderen Seite der Leitung lediglich ein aufgebrachtes Schnauben, bevor der langgezogene Signalton das Ende unseres kurzen wie uninformativen Gespräches besiegelte.
Wutentbrannt wählte ich die Nummer der Station, die mich soeben jäh meines Schlafes beraubt hatte, doch es hob niemand mehr ab.
Ungeduldig wartete ich, mir dabei die letzten Anziehsachen zusammensuchend, und als nach einigen Minuten immer noch lediglich das monotone Tuten durch mein Zimmer hallte, legte ich stürmisch auf, ehe ich mir unachtsam ein altes T-Shirt über den Kopf streifte, in meine Schuhe schlüpfte und, ohne weitere Zeit zu verlieren, mein winziges Appartement verließ.
Die kühle Nachtluft schlug mir beinahe entgegen wie eine massive Betonwand. Unbarmherzig peitschte sie mir entgegen, vermischt mit dicken, aufdringlichen Regentropfen, drang sie durch meine Kleidung und ließ mich frösteln.
Eiskalt kleidete die Brise meine Lunge aus, ehe sie unangenehm an den Schleimhäuten meiner Nasenflügel zu kribbeln begann.
Unbeirrt beschleunigte ich jedoch meinen Schritt, meine Gedanken schienen immer weiter zu entgleisen, achtlos überquerte ich den überfüllten Highway unmittelbar vor meiner Wohnung, währenddessen fingen einige Autofahrer alsbald an, mich wüst zu beschimpfen und wilde Handgestiken an mich zu richten, doch das kümmerte mich alles nicht.
Rastlos rannte ich weiter durch das neonbelichtete Chaos der niemals schlafenden Stadt, die unzähligen grellen Neonschilder- und reklamen brannten unangenehm in meinen müden Augen, meine steifen Glieder waren bereits kurz davor, ihren Dienst zu quittieren, als ich schließlich atemlos vor dem grauen Krankenhauskomplex, welcher des nachts von großen, runden Scheinwerfern, die direkt vor der tristen Fassade in den Boden eingelassen waren, hell beleuchtet wurde, zum Stehen kam, beinahe, als wäre es ein Opernhaus oder ein Theater und kein Ort der Krankheit und des Todes.
Keuchend betrat ich die große Eingangshalle, die zu dieser Stunde wie leergefegt war.
Lediglich vereinzelt saßen oder lagen Menschen auf den unbequemen Holzstühlen des kleinen Wartebereichs, unruhig flackernd tauchten die grellen Argonröhren, die den beengten Abschnitt säumten, in ein unangenehmes Licht, und schienen gleichzeitig stumm etwas zu der ohnehin schon bedrückenden Atmosphäre beizusteuern.
Der schmierige Linoleumboden war feucht und von schlammig braunen Schlieren überzogen, kalt rann mir das dreckige Regenwasser in kleinen Rinnsalen mein gerötetes Gesicht herunter, sammelte sich in meiner Halsbeuge und kam schließlich gedämpft in winzigen Tropfen auf der, das Neonlicht reflektierenden, Oberfläche des Schmutzwassers zu Boden, auf.
Mir die feuchten Haare aus der Stirn streichend, eilte ich sogleich zu der, an der Rezeption sitzenden, Dame, deren Gesicht ich aufgrund einer bunten Zeitung mit reißerischen Überschriften, die einem sofort ins Auge sprangen, nicht sehen konnte; ohne aufzuschauen, brummte sie eine genervte Grußformel, ehe ich auch schon zu sprechen begann.
»Ich wurde von Ihnen kontaktiert, ich möchte bitte zu Herrn Park Jimin«, flüsterte ich atemlos.
Geräuschlos tropfte die verdreckte Flüssigkeit von meinen Haarspitzen aus dramatisch auf die weiße, sterile Holztheke zwischen uns und es bildete sich eine kleine Pfütze aus bräunlichem Wasser.
Mit großen Augen starrte ich die korpulente Frau in ihrer weißen Schwesterntracht an, welche seufzend und dabei gleichzeitig betont langsam ihre Klatschzeitschrift schloss, ehe sie mir ihr rundes, aufgedunsenes Gesicht offenbarte und mit einer Stimme, die tiefer war als meine, erwiderte: »Und Sie sind? Es ist außerhalb der regulären Besuchszeit, kommen sie morgen zwischen vierzehn und achtzehn Uhr wieder.« Genervt wandte sie ihren Blick wieder ab.
Gab es denn keine einzige kompetente Person in dieser Anstalt?
Aufgebracht räusperte ich mich laut, bevor ich erneut die Stimme erhob. »Ich bin angerufen worden«, entgegnete ich mit Nachdruck. »Mir wurde gesagt, ich solle kommen, ich bin der Notfallkontakt für Park Jimin«, wiederholte ich mit ruhiger Stimme.
Einen Streit war das Letzte, was ich in diesem Moment anzetteln wollte, das kostete mich alles nur Zeit, die ich unter Umständen noch weniger als sonst zur Verfügung hatte.
Skeptisch beäugte mich die unfreundliche Person ein weiteres Mal, ehe sie wortlos begann, etwas mit der alten, mechanischen Tastatur ihres Computers zu tippen; eine Zeit lang war das sachte Klacken der eierschalenfarbenen Tasten das einzige Geräusch, welches den leeren Saal erfüllte.
»Herr Park Jimin«, setzte sie nach einer quälenden Ewigkeit mit nasaler Stimme an. »Gehen Sie bitte auf Station 1, Raum 310, das ist einmal die Treppe hoch und dann links-«
»Ich weiß, wo das ist«, unterbrach ich sie eilig, bevor ich auch schon Richtung Treppenhaus rannte.
Dieses Gespräch war ja unheimlich zielführend gewesen, dachte ich stumm.
Mit großen Schritten nahm ich abwechselnd zwei und drei Stufen auf einmal, schnell bog ich um die Ecke und raste über den frisch gewischten Flur vorbei an den immer gleich aussehenden Zimmertüren, bis ich schließlich vor der Tür mit einem Schildchen mit der schwarzen ausgeblichenen Ziffer ›310‹, die in einem zerkratzen Plastikschild unmittelbar neben ihr befestigt war, direkt gegenüber des Schwesternzimmers, welches eine komplette gläserne Front besaß, zum Stehen kam.
Gerade war ich im Begriff meine zitternde Hand auf die angelaufene Klinke zu legen, da hielt mich die schrille Stimme einer Person hinter meinem Rücken von meinem Vorhaben ab.
»Was gedenken Sie, was Sie da tun?«, erklang die Stimme schnippisch. Abrupt drehte ich mich um und sah der zierlichen Schwester unmittelbar in ihr ausdrucksloses Gesicht.
»Ich bin der Notfallkontakt von Herrn Park Jimin, ich wurde telefonisch benachrichtigt«, ratterte ich abermals genervt herunter. Unruhig trat ich auf der Stelle, ich wollte jetzt endlich wissen, was los war.
»Park Jimin ist nicht hier«, erwiderte die Krankenschwester hingegen unmittelbar, nachdem ich ausgesprochen hatte.
Mir gefror das Blut in den Adern.
»W-wo ist er denn?«, stammelte ich kaum hörbar. Meine Stimme zitterte und ich hatte das Gefühl, dass mich mit einem Mal sämtliche Kräfte zu verlassen schienen.
Kraftlos lehnte ich mich an den beigen Türrahmen seines Zimmers.
»Der wurde gerade bereits abgeholt, da kommen Sie etwas zu spät.« Ihre Augen fixierten mich, doch ihr Blick war leer. Unbeteiligt biss sie auf einem bunten Kaugummi herum,welches immer wieder leicht durch ihre geraden Zahnreihen blitzte, wie eine Kuh, die Gras wiederkäute.
Es fühlte sich an, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen.
Stumm rannen die ersten Tränen meine Wangen hinab und vermischten sich sogleich mit dem letzten Regenwasser, welches noch meine erhitzte Haut benetzte.
Als wäre ich zuvor an dünnen, durchsichtigen Drahtseilen befestigt, die man nun mit einem Ruck durchtrennt hatte, sackte ich in mir zusammen und hauchte fassungslos: »W-wie? Zu spät?«
Durch einen dichten Tränenschleier hindurch blickte ich auf, da sah ich am Ende des Ganges den behandelnden Arzt Jimins schnellen Schrittes den Flur entlanggehen.
Augenblicklich setzte ich mich in Bewegung und schnitt ihm flink den Weg ab.
»Taehyung«, brachte ich mit zitternder Stimme leise hervor und vergas für einen kurzen Moment die Kluft, die aufgrund des Patient-Arzt-Verhältnisses zwischen uns verlief.
Gerade brauchte ich einfach nur einen Freund.
»Yoongi, ich meine Herr Min«, korrigierte sich der junge Mediziner mit einem raschen Seitenblick auf die Krankenschwester hinter uns. »Was machen Sie denn schon hier, ich wollte Sie gerade benachrichtigen.«
»Ich weiß es schon«, murmelte ich tonlos, meine Tränen krampfhaft unterdrückend. »Es ist okay.«
Verwundert blickte Taehyung auf mich herab. »Ich wollte ihn gerade holen, warte doch einen Moment hier.« Kurz verbeugte sich der Arzt vor mir und ließ mich mit unzähligen Fragen, die meinen Kopf überschwemmten, allein zurück.
Kurz darauf öffnete sich erneut die schwere Metalltür, durch die der junge Arzt zuvor verschwunden war und heraus traten eine weitere Krankenschwester, die zusammen mit Taehyung ein schweres Bettgestell herausschob, in welchem, zwischen den zerwühlten Laken, der ausgemergelte Körper der Blondhaarigen lag.
Sekundenschnell trat ich heran an das metallene Bett und schaute direkt in sein Gesicht.
Seine Augen waren müde und abwesend in die Ferne gerichtet.
Aber sie waren offen.
Eine Welle der Erleichterung übermannte mich. Ich vergas die unfreundlichen Schwestern, die letzten Monate voller Bangen und Tränen sowie meinen Berg an übrigen Problemen, der sich über die Zeit angesammelt hatte, mit einem Schlag waren sie wie aus meinem Gedächtnis radiert, gerade zählte nur er: Mein Jimin.
Doch was dachte ich da?
Er wusste doch bestimmt gar nicht, wer ich bin.
Entgegen dem starken Bedürfnis, meine Hand auszustrecken und, wie es im letzten Jahr vollkommen natürlich für mich geworden war, über seine weiche Gesichtshaut zu streichen, wich ich einige Schritte zurück und starrte ihn lediglich mit großen Augen scheu an.
Jimin, dessen letzten, blonde Strähnen ihm platt die Stirn herunter halb über die Augen fielen, drehte kraftlos seinen Kopf zur Seite und schaute mir direkt in die Augen, da erkannte ich, dass auch die seinigen mit Tränen gefühlt waren »Y-yoongi«, krächzte er tonlos, doch schloss den Mund sogleich wieder, als er bemerkte, dass nicht mehr als gequälte Laute seiner Kehle entfleuchten.
Liebevoll funkelte er mich mit seinen wunderschönen Augen an.
Wie ich diesen Anblick vermisst hatte.
Obwohl mir ihre Schönheit damals nicht länger als einige Stunden zuteil geworden war, fühlte es sich an, als sei etwas, was mir schon immer gefehlt hätte, endlich zurückgekehrt.
Langsam schritt ich erneut an das glänzende Bettgestell heran, ehe ich, mit kurzem Seitenblick auf den Arzt, welcher mir darauf nur aufmunternd zunickte, zögerlich meine Hand hob und sie sacht, als könnte ich den Jüngeren zerbrechen, auf seine ausgeblichenen Fingerknöchel legte.
Augenblicklich drehte Jimin seine Handfläche nach oben und vereinte unsere Finger miteinander, welches mein Körper lediglich mit dem Ausschütten einer unsagbar großen Menge Endorphine quittierte.
Von meinen Fingerspitzen ausgehend durchströmte mich eine angenehme Wärme, die sich bis in die letze Faser meines Körpers auszubreiten schien.
Freudestrahlend erwiderte ich fest den Blick der blassen, ans Bett gefesselten Gestalt, während ich sanft seine Hand drückte und dabei hoffte, sie nie wieder loslassen zu müssen, ehe ich den Mund öffnete und mit heiserer Stimme flüsterte: »Hallo Jimin.«
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