4.- Der (sehr) verwirrte Engel
Clary P.o.V.
„Und er hat keine Ahnung wer er ist?" Simon sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, während er lustlos in seinem Buch blätterte. Über die letzten Monate waren seine Haare wieder länger geworden, sodass sie ihm in die Augen fielen, wenn er sich so über seine Lektüre beugte.
„Er sagt sein Name sei Percy", murmelte Jace vom Boden aus, wo er es sich bequem gemacht hatte. Er lag auf dem Rücken, seine goldenen Haare wie ein Heiligenschein um seinen Kopf, ein Bein angewinkelt und las in einem kleinen Büchlein, das so alt war, dass ich den Titel nicht erkennen konnte. Zu seiner Rechten stand ein gut einen halben Meter hoher Stapel Bücher, während auf der anderen Seite etliche Bücher verteilt lagen, die sich als nutzlos erwiesen hatten.
Es war noch nicht einmal acht Uhr morgens, trotzdem waren wir schon seit Stunden in der Bibliothek. Keiner hatte nach den Ereignissen letzter Nacht an Schlaf denken können und so hatten wir uns wortlos darauf geeinigt, die Zeit zu nutzen um etwas über unseren Gast und seine Situation herauszufinden. Bis jetzt erfolglos. Scheinbar gab es keine bekannten Fälle von Engeln mit Gedächtnisverlust.
„Percy? Das klingt nicht wirklich wie der Name eines Engels", warf Simon ein, schlug sein Buch zu, schob es zur Seite und nahm sich ein neues. Da er die Nacht bei seiner Mum verbracht hatte, war Simon im Moment der Ausgeschlafenste von uns.
„Das liegt daran, dass ich kein Engel bin." Percys Stimme ließ mich herumfahren. Ich hatte nicht gehört wie er den Raum betreten hatte und ich realisierte jetzt, dass er sich lautlos bewegte, obwohl in der Bibliothek sonst jeder noch so leise Ton widerhallte.
Es war irritierend. Im Tageslicht wirkte er menschlicher, seine riesigen Schwingen waren verschwunden und die Luft um ihn schien nicht länger mit Energie zu summen. Trotzdem war es offensichtlich, dass dieser junge Mann alles andere als normal war. Die Art wie er sich bewegte, fließend, mit einer Eleganz, die nicht einmal Jace beherrschte. Er war gutaussehend und nicht nur das. Perfektion hüllte ihn ein, Schönheit wie nur die Engel sie besaßen.
Mir fiel auf, dass ich ihn gerne zeichnen würde. In Gedanken konnte ich schon die Linien vor mir sehen, die zarten Pinselstriche um sein Gesicht zu definieren und welche Farben ich wohl vermischen müsste um die Färbung seiner Augen richtig einzufangen.
„Wie hast du uns gefunden?", wollte Jace wissen und richtete sich langsam auf.
„Instinkt, sechster Sinn, Magie – nenn es wie du willst." Der Engel zuckte mit den Schultern und ließ sich geschmeidig in einen der Sessel sinken. Dann fiel sein Blick auf Simon. „Ich denke nicht, dass wir uns vorgestellt wurden. Mein Name ist Percy und ich bin kein Engel."
„Simon Lovelace, Nephilim", erwiderte mein Parabatai etwas verwirrt.
„Sehr erfreut." Erst jetzt fiel mir auf, dass Percy nicht mehr dasselbe wie gestern trug. Anstatt der halbversengten und mit Dämonenüberresten verschmutzen Kleidung hatte er eine dunkle Jeans und ein einfaches schwarzes T-Shirt an. Woher er diese hatte, konnte ich beim besten Willen nicht sagen.
„Du denkst also immer noch, dass du ein Gott bist?", Isabelle sah ihn fragend an, woraufhin Percy lächelte.
„Ich weiß es sogar. Mit hundertprozentiger Sicherheit."
„Und warum würde ein Gott in New York leben?" Jace sah Percy mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Weil der Olymp, entgegen allgemeiner Annahmen, eine recht langweilige Nachbarschaft ist. Außerdem macht meine Mum die besten Kekse."
„Deine Mum? Wie alt bist du?", wollte Jace wissen und ich fragte mich das Gleiche.
„19. Ich verstehe eure Verwirrung, aber ich bin offensichtlich noch nicht sehr lange ein Gott. Seit nicht einmal drei Jahren, aber wer ist schon so genau."
„Und davor?" Langsam kamen wir weiter. Wenn Percy dachte, dass er seit etwa drei Jahren göttlich war, dann hatte er vielleicht damals seine Erinnerungen verloren. Im Laufe unserer Nachforschungen waren wir nämlich zu dem Entschluss gekommen, dass Jace' Schlag auf den Hinterkopf nicht die Ursache für Percys Situation sein konnte. Jetzt stellte sich nur noch die Frage, wenn er tatsächlich schon seit drei Jahren so war, warum wir erst jetzt von Percy gehört hatten. Engel wurden normalerweise recht zügig bemerkt.
„Ich war... anders. Es ist kompliziert. Hört zu, ich habe wenig Lust euch hier meine Lebensgeschichte aufzutischen, nicht nur weil es etwas dauern würde, sondern auch weil es euch nichts angeht. Mein Leben, meine Erinnerungen - nicht euer Problem. Alles was ihr wissen müsst, ist dass ich kein Engel bin, dass ich keine Gefahr für die Stadt oder die Welt darstelle und dass ich einer von den Guten bin", um seine Aussage zu unterstreichen, zeigte Percy zwei Daumenhoch.
„Percy, wir denken, dass jemand deine Erinnerungen verändert hat", versuchte Izzy vorsichtig, unsicher wie er reagieren würde.
„Glaub mir, das hätte ich bemerkt. Seid ihr deshalb hier? Um Wege zu finden mein Gedächtnis zu reparieren? In diesem Fall könnt ihr euch die Mühe sparen. Keine losen Schrauben in meinem Kopf und erst recht keine falschen Erinnerungen."
„Du würdest genau das sagen, wenn jemand etwas verändert hätte. Du würdest es nämlich nicht bemerken. Geh es einmal so an: Wenn du ein Gott bist, warum gibt es dann Dämonen, wie den, den du gestern getötet hast?", meinte ich und verschränkte die Arme.
„Offensichtlich gibt es verschiedene Götter aus verschiedenen Kulturen. Und jede Kultur hat Monster, egal ob ägyptisch, griechisch oder nordisch. Ihr habt Dämonen und eure ‚Götter' sind Engel – unsterbliche Wesen mit großer Macht. Das Ganze ist recht verwirrend und ehrlich gesagt bereitet es mir Kopfschmerzen darüber nachzudenken", Percy fuhr sich mit der Hand durch die Haare und schüttelte den Kopf, bevor er fortfuhr, „Wegen den Dämonen... Das Teil von gestern, dieses Vermi-Dings - "
„Vermithaldämon", warf Jace ein.
„Genau. Gehe ich richtig in der Annahme, dass es aus Würmern besteht?"
„Genaugenommen sind die Würmer die Dämonen, sie verbinden sich zu großen Gruppen, bevor sie angreifen, aber ja", erklärte mein Freund und Percy nickte.
„Wie auch immer. Es gibt mehrere dieser Dämonen, richtig? Aber woher kommen sie? Wohin gehen sie, wenn sie getötet werden? Wie kommen sie hierher? Wie viele gibt es?"
„Richtig. Aus verschiedenen Dimensionen. Zurück in ihre eigenen Dimensionen. Interdimensionale Reisen. Unsicher, Millionen, Milliarden - kann man schwer sagen, nur ein Bruchteil schafft es in unsere Welt", erwiderte Jace nach einem kurzen Moment der Überlegung. Dann wühlte er für einen Moment in dem riesigen Stapel an Büchern, den wir angehäuft hatten, bevor er Percy eine Ausgabe des Schattenjägercodex zuwarf. „Das sollte den Großteil deiner Fragen beantworten. Vielleicht hilft es deinem Gedächtnis auf die Sprünge."
Percy verdrehte die Augen und murmelte etwas davon, dass sein Gedächtnis in bester Ordnung sei, nahm das Buch aber trotzdem. Er blätterte es kurz durch und studierte einige der Skizzen von Dämonen, bevor er das Buch zuschlug und auf seinen Schoß legte.
„Und?", wollte Simon wissen und sah Percy erwartungsvoll an.
„Und was?"
„Klingelt es? Kommt dir irgendetwas bekannt vor?" Anstatt zu antworten stöhnte Percy und ließ seinen Kopf nah hinten rollen.
„Es ist zu früh für solche Konversationen. Ich habe Hunger", das Buch nehmend stand er auf, „Wenn mich jemand in die Richtung der Küche weisen könnte, dann könnte ich mich selbst versorgen. Ich habe unglaubliche Lust auf Pfannkuchen."
***
Wie sich herausstellte, war Percy in der Lage fantastische Pfannkuchen zuzubereiten, eine Fähigkeit, die im Institut nicht wirklich jemand besaß. Denn obwohl Schattenjäger die perfekten Krieger waren, konnten die wenigsten von ihnen kochen. Nachdem wir also ein außergewöhnlich gutes Frühstück zu uns genommen hatten, beschloss Jace, dass es eine gute Idee wäre Percy zu einem Schwertkampf herauszufordern.
Was uns zurück zur Gegenwart brachte. Jace und Percy standen in der Mitte des Trainingsraums, beide mit Schwertern bewaffnet. Sonnenlicht drang durch die hohen Fenster, sodass man die feinen Staubteilchen sehen konnte, die durch die Luft schwebten.
Gemeinsam mit Izzy und Simon saß ich am Rand des Raumes und wartete darauf, dass der Kampf begann. Es war schwer zu sagen wie er ausgehen würde. Natürlich, Percy war ein Engel, aber er schien nicht bei vollen Kräften zu sein und außerdem war Jace mit Abstand der beste Schwertkämpfer, den ich je gesehen hatte. Er war praktisch zum Krieger erzogen worden und das Engelsblut in seinen Adern gab ihm Fähigkeiten von denen andere Schattenjäger nicht zu träumen wagten.
Anstatt direkt zu beginnen, fingen die zwei damit an sich langsam gegenseitig zu umkreisen. Sie erinnerten mich an Raubkatzen, die sich bereitmachten ihr Opfer anzugreifen.
Jace griff zuerst an. Eine Bewegung so schnell, dass ich kaum folgen konnte, aber Percy wandte sich mit Leichtigkeit zur Seite. Seine Klinge leuchtete in seiner Hand als er zum Gegenangriff ansetzte. Das Klirren von Metall auf Metall hallte durch den Raum, als die Schwerter sich immer und immer wieder trafen.
Ich hatte Jace unzählige Male kämpfen sehen, war von ihm mindestens genauso oft besiegt worden und vor meinem inneren Auge konnte ich seine Bewegungen sehen, bevor sie geschahen. Sein Kampfstil war mir bekannt, nicht aber so mit Percy. Noch nie hatte ich jemanden auf diese Weise kämpfen sehen. Er führte sein Schwert nicht wie die Nephilim es taten, ich konnte seinen Stil nicht identifizieren. Die Hiebe waren nicht von Kraft geprägt, auch wenn ich annahm, dass jemand wie Percy eine ordentliche Menge an Kraft in seine Angriffe legen konnte, sondern von Präzision und Schnelligkeit. Das Schwert, Springflut hatte er es genannt, schien zu glühen. Seine Beine berührten den Boden kaum, es war als würde man einen Tänzer beobachten.
Und irgendwie schaffte Jace es mitzuhalten. Desto länger sie kämpften, desto besser war er in der Lage sich an seinen Gegner anzupassen. Percy bewegte sich schnell, unglaublich geschickt und grazil, aber Jace hatte jahrelange Erfahrung und wusste sich in einem Kampf zu halten. Er galt nicht umsonst als der beste Schattenjäger seiner Generation.
„Griechisch", erklärte Jace schließlich, während er Springflut abwehrte, „Aber nicht nur..."
„Schuldig", lachte Percy und tänzelte zur Seite, „Griechisch, etwas römisch, was man so aufliest wenn man um sein Überleben kämpft. Du bist gut."
„Gleichfalls", erwiderte Jace und konnte nur knapp ausweichen. Es sah aus als würden beide den Kampf genießen, auf eine Art wie nur geborene Krieger Schwertkämpfe genossen. Sie wurden immer schneller und mehr als nur einmal schafften sie es sich gegenseitig leicht zu verwunden, aber soweit ich es beurteilen konnte, würde aus diesem Kampf kein Sieger hervorgehen. Zumindest solange Percy nicht beschloss, dass es ihm zu langweilig wurde und er seine Fähigkeiten einsetzte um die ganze Sache etwas spannender zu machen. Jedoch vermutete ich, dass er es auf einen fairen Kampf abgesehen hatte.
Am Ende war es Izzy, die das Gefecht schließlich beendete.
„Okay, Jungs, ihr seid offensichtlich beide äußerst talentiert und niemand von uns würde es jemals mit einem von euch aufnehmen können, aber wenn es auch noch so schön ist euch zuzusehen, manche von uns haben heute noch etwas vor, wenn wir uns also auf ein Unentschieden einigen könnten...", Izzy war aufgestanden und sah die Zwei nun erwartungsvoll an, die Hände in die Hüfte gestemmt.
Augenblicke später entfernten sich die Kämpfenden von einander und ließen die Waffen sinken. Nun fiel mir etwas auf, dass ich in all der Bewegung zuerst nicht bemerkt hatte: Jace war offensichtlich erschöpft, Schweiß glitzerte auf seiner Stirn und er atmete schwer, während Percy aussah, als könnte er einen Marathon laufen. Mir wurde bewusst wieviel Mühe es Jace gekostet haben musste mit dem Tempo des Engels mitzuhalten und dass er es wohl nicht mehr viel länger gepackt hätte. Denn wo Percy unsterblich war und offensichtlich keine Probleme hatte sich so schnell zu bewegen, war Jace, wenn auch schnell und ausdauernd für Schattenjägerstandards, irdisch. Es war sein Engelsblut, das es ihm erlaubte sich so schnell zu bewegen, aber auf die Dauer war sein sterblicher Körper nicht fähig die Leistung aufrecht zu erhalten.
„Guter Kampf", gab Jace zu und strich sich mit dem Handrücken über die Stirn.
„Das kannst du laut sagen", grinste Percy, ließ sein Schwert wieder verschwinden und hielt Jace die Hand hin, „Es ist lange her, dass ich mit jemanden gekämpft habe, der so gut ist wie du."
Jace sah ihn für einen Moment zweifelnd an, schüttelte die Hand aber. Percy klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter, bevor er mit einer Handbewegung eine Wasserflasche erscheinen ließ und sie Jace reichte. Nach kurzem Untersuchen der Flasche, trank dieser sie in einem Zug aus.
„Wow", wisperte Simon neben mir und rieb sich den Nacken. Ich konnte nicht anders als zuzustimmen. Gemeinsam standen wir auf und gesellten uns zu den Anderen in der Mitte des Raumes.
„Percy?", der Engel drehte sich zu mir, als wir uns näherten und hob fragend eine Augenbraue, „Wegen deinen Erinnerungen..."
„Nicht schon wieder", seufzte Percy.
„Ich weiß ich weiß, du denkst es ist nichts verdreht worden, aber glaub mir, wenn ich dir sage, dass Erinnerungszauber sehr machtvoll und kompliziert sind. Soviel zumindest kann ich aus eigenen Erfahrungen bestätigen. Offensichtlich blieb unsere Recherche in der Bibliothek erfolglos, aber wir kennen jemanden, der vielleicht in der Lage ist dir zu helfen." Ich sah ihn hoffnungsvoll an.
„Okay. Wir besuchen also diesen geheimnisvollen Typen, der dann in meinem Kopf herumwühlt um festzustellen, ob etwas nicht stimmt?", wiederholte Percy und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, „Angenommen er findet nichts, können wir uns dann darauf einigen, dass ich von bester mentaler Gesundheit bin?"
„Falls dem wirklich so ist", begann Jace, auch wenn klar war, dass er stark daran zweifelte, „Dann können wir uns noch einmal über diese Göttersache unterhalten."
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