Rauch und Traum

James P. o. V.

Ich nahm einen tiefen Zug und blies langsam den Rauch in die kühle Nachtluft.

Mit einem Blick über den Rücken betrachtete ich mein provisorisches Nachtlager und wurde angesichts des fast leeren Raums ganz traurig. Vor etwas mehr als zwei Jahren hatten hier überall Möbel gestanden. An der Stelle, wo ich mich befand, war das grüne Soja gewesen, das immer so lustig geknautscht hatte, wenn man sich darauf fallen ließ.

Dort, wo meine Matratze auf dem Boden lag, hatte sich früher der Tepppich gefunden, von dem Mum jeden Sonntag fluchend die Flusen und den Staub abgesammelt hatte. Ich hatte ihn nie leiden können.

Meine Augen wanderten weiter und ich schwelgte in Erinnerung an die edlen Diamanten im Kronleuchter an der Decke. Wenn ich jetzt nach oben sah, traf mein suchender Blick nur auf ein kleines schwarzes Loch, das die Lampe dort hinterlassen hatte.

Nachdenklich spielte ich mit der Zigarette in meiner Hand und ließ sie mit flinken Bewegungen von einem Finger zum nächsten wandern.

Mum wäre vermutlich ausgerastet, wenn sie mich jetzt gesehen hätte: Unachtsam rauchend, und das in ihrem schönen und liebevoll eingerichtetem Wohnzimmer!

Doch von ihrer tollen Einrichtung war auch nichts mehr übrig.

Das Haus meiner Kindheit stand leer.

Eine lange Zeit hatte ich mich erfolgreich dagegen gewehrt, die Möbel ausräumen zu lassen. Alles war so geblieben, wie ich es kannte, die Reinigungskraft hatte wöchentlich geputzt und den Staub von unseren - meinen - Sachen gehalten.

Allerdings hatte Sirius mich irgendwann davon überzeugen können, dass das sinnlos war und ich mich nur an längst vergangene Zeiten klammerte. Das musste er gerade sagen! Sirius, der noch immer Marys Foto unter seinem Kopfkissen versteckte. Sirius, der sich nicht von dem Laken trennen konnte, auf dem er und Marys in der letzten Nacht vor dem Anschlag geschlafen hatten. Sirius, der sich hoffnungsvoll nach jedem blonden Mädchen umdrehte, wenn wir auf Londons Straßen unterwegs waren.

Jaja, vergessen war schwerer, als er es mir einzureden versuchte.

Ich wusste nicht, was ich nun mit diesem Haus anfangen sollte. Verkaufen kam gar nicht in Frage, das würde mir das Herz brechen. Außerdem konnte ich mit dem Geld sowieso nichts anfangen - das Erbe war mehr als genug.

Wenn Geld glücklich machen könnte, wäre ich der glücklichste Zauberer überhaupt.

Nun, leider verfügte Geld nicht über die Möglichkeit, Menschen glücklich zu machen.

Pech gehabt.

Bald würde mein letztes Jahr in Hogwarts beginnen. Ich fragte mich, ob Mum und Dad stolz auf mich wären. Ich fragte mich, ob sie mir wohl von oben zusahen.

Der Schmerz war nicht mehr frisch, mein Herz blutete nicht länger.

Die Tränen waren versiegt, die Hilfeschreie verklungen, die Wunden verblasst.

Doch die Narben reichten tief und bei ungünstigen Bewegungen tat es noch immer verdammt weh.

Mit unergründlicher Miene packte ich meine wenigen Sachen zusammen und apparierte zurück nach London.

Meine Wohnung lag nicht weit vom Zentrum entfernt. Ich hatte sie mir für die Ferien gemietet, da ich es in unserem alten Haus nicht aushielt. Ohne Möbel war es sowieso nicht bewohnbar.

London hatte mein Herz für sich eingenommen, ich genoß die Anonymität zwischen all den Touristen und Büromenschen. Alles Muggel. Es war wunderbar, sie zu beobachten, wenn sie unwissend ihren Tätigkeiten nachgingen. Sie ahnten ja gar nicht, was es noch alles da draußen gab, abgesehen von ihren unbezahlten Rechnungen, den vollen Windeln ihres Babys und dem Reuma ihrer Großmutter.

Wahrscheinlich war es besser so.

Mit einem leichten Seufzer ließ ich mich auf meine Couch fallen. Für einen winzigen Moment war ich überrascht, weil es nicht wie unser altes grünes Sofa knautschte. Dann holte mich die Gegenwart unwiderruflich wieder ein.

Das war einer dieser Augenblicke, in denen die Narben sich meldeten und mich daran erinnerte, was alles geschehen war.

Seit diesem Sommer vor zwei Jahren war viel Zeit vergangen. Ich hatte günstige Gelegenheiten verstreichen lassen, mein Leben verändert und getan, was getan werden musste.

Ich würde niemals behaupten, dass mein Leben nicht aufregend wäre.

Oh nein.

Seit Ferienbeginn war ich nahezu jede Nacht unterwegs, spendierte hübschen Frauen teure Drinks, nahm die Einladung in ihre Wohnung dankend an, vergnügte mich und war bemüht, das warme Bett am nächsten Morgen rasch und lautlos zu verlassen.

Wenn sie doch mal aufwachte, war es notwendig, ihr nicht in die Augen zu sehen. Wir beide vermieden Blickkontakt und speisten einander mit der Ausrede ab, zur Arbeit zu müssen.

All diese One-Night-Stands gaben mir den nötigen Kick, die Lebensenergie, die ich so dringend brauchte. Es brachte mich nicht weiter, aber es machte Spaß. Das Erobern. Es half mir, all meine Zweifel und fragenden Gedanken zu verdrängen.

Doch es konnte nichts gegen Lilys Gesicht ausrichten, das stets neben dem Gesicht der fremden Frau auftauchte und danach schrie, mit ihr verglichen zu werden.

Fuck.

Das Grübeln führte zu nichts. Vermisste ich Lily? Manchmal. War es möglich, eine neue Beziehung zu ihr aufzubauen? Nein. Niemals.

Wir hatten uns noch mehr verändert seit unserer Trennung, hatten uns in Schubladen zwängen lassen. Sie war eine noch größere, bravere Streberin geworden. Regeln brechen war wieder ein absolutes Tabu geworden. Ich war noch verwegener und selbstbewusster geworden, und - naja - beliebter. Noch beliebter. Bei den Mädchen.

Meine Schultern waren breiter geworden, meine Muskeln waren deutlich sichtbar, die wenigen Pubertätspickel hatten sich verabschiedet.

Wahrscheinlich machte es mich auch attraktiv, dass ich häufig viel schweigsamer war. Klar, der Unsinn und der Hang zu Streichen war noch da! Allerdings hatten sie mir ein gewisses Image als Bad Boy verschafft und ihr könnt mir glauben, wenn ich sage, dass die Frauen darauf flogen.

Doch niemand schien auf die Idee zu kommen, dass ich wirklich schweigsam war und gerne mal die Ruhe um mich genoß. Keiner glaubte mir, dass ich in solchen Momenten tatsächlich nachdachte und nicht nur so tat, um mich begehrt zu machen.

Nun, ich wollte mich nicht beschweren . . .

Vor den Ferien hatte ich meine Beziehung mit Emmeline Vance, einer recht hübschen Sechstklässlerin aus Gryffindor. Sie war ein freundliches, selbstbewusstes Mädchen. Das Problem? Emmeline hatte mich zu sehr an Lily erinnert.

Das war unerträglich.

Ich ging lieber mit Mädchen aus, die das komplette Gegenteil von ihr waren: unfassbar scharf, freizügig gekleidet, gekünstelt lustig, wild, ungehemmt und entgegenkommend. Leicht zu beeindrucken. Leicht zu erobern.

Irgendwie stimmte mich der Gedanke noch immer traurig, mein erstes Mal nicht mit Lily gehabt zu haben, sondern stattdessen mit irgendeiner Ravenclaw, an deren Namen ich mich nicht einmal erinnern konnte.

Hätte ich es doch damals mit Lily getan, als ich noch die Möglichkeit dazu gehabt hatte. Verdammt, ich hatte so vieles nicht getan, was ich nun bereute. Aus Angst.

Ich! James Potter! Angst!

Ähm, ja. Klingt absurd, nicht? Traurig, aber wahr.

Ich spielte mit dem Gedanken, mir eine neue Zigarette anzuzünden. Es war erst früh am Morgen, die Sonne war gerade über den Dächern Londons aufgegangen und die ersten Muggel kamen aus ihren Höhlen gekrochen.

In dieser Sekunde flog eine riesige Schneeeule zum offenen Fenster herein, was mich unwillkürlich zusammenzucken ließ.

Der Vogel flatterte einmal im Zimmer herum, bis der Brief sich aus seinen Krallen löste und auf den winzigen Wohnzimmertisch fiel.

"Na endlich", murmelte ich und verzog spöttisch die Mundwinkel. "Wie hätte ich es nur länger ohne die Listen mit den Büchern für das nächste Schuljahr ausgehalten?" Kopfschüttelnd griff ich zu dem bräunlichen Umschlag und riss ihn unachtsam auf. Laut knallte etwas auf meinem Holzboden auf, woraufhin prompt der Nachbarshund bellte, dessen ebenso missgelaunter Mieter eine Wohnung unter mir hatte.

"Klappe, du dumme Töle", knurrte ich. Wie durch Zauberhand verstummte der Hund. Selbstzufrieden beugte ich mich vor, um das Abzeichen aufzuheben, was mir gerade aus der Hand gefallen war.

Mein Verstand realisierte nicht, warum auf dem Abzeichen ein großes "S" abgebildet war. Da hätte ein "Q" stehen müssen, für Quidditchkapitän.

S . . . S für Schleimbeutel, Streichespieler, Stinkefuß . . .

Aber doch nicht für . . . Schulsprecher? Mein Lachen klang viel zu laut in der Stille. In diesem Moment wünschte ich mir, der blöde Hund würde wieder bellen.

Skeptisch strich ich mit dem Finger über das "S", das sich ganz deutlich vom Rest des Abzeichens abhob. Das war doch absurd!

Gerne hätte ich höhnisch gegrinst und es nicht ernst genommen. Spielte etwa jemand mir - Streichelönig Nummer 1 - einen Streich? Aber nein, es musste wohl stimmen. Das offizielle und unfälschbare Hogwartssiegel war auf dem Brief abgebildet, McGonsgalls Unterschrift ganz ordentlich unter das Schreiben gesetzt.

Ich, James Potter, war zum Schulsprecher ernannt worden?

Ich wusste nicht, wie ich das finden sollte. Allerdings wurde mein Herz bei dem Gedanken an Mums und Dads stolze Gesichter ganz warm und unwillkürlich musste ich breit strahlen. Ein altes, längst vergessenes Gefühl.

Doch dann verblasste mein Lächeln und eine steile Sorgenfalte bildete sich auf meiner Stirn. Ich war nicht alleine Schulsprecher. Wer würde meine Partnerin sein? So eine bescheuerte Frage. Ich kannte die Antwort bereits: Lily Evans.

Lily Evans, deren Name mein Herz zum Bluten brachte.

Lily Evans, deren grüne Augen meine Narben schmerzen ließ.

Lily Evans, deren Stimme den Schmerz in meiner Brust erneut entfachte.

Aber daswar nicht möglich! Panisch raufte ich mir das schwarze Haar und atmete mehrmals tief durch. Sinnlos, da mein Atem sich einfach nicht beruihehn wollte. Vor wenigen Jahren hätte ich alles darum gegeben, mit Lily Evans zusammenarbeiten zu dürfen. Zeit mit ihr zu verbringen, mit ihr zu reden. Und das Beste: Sie durfte nicht weglaufen.

Oh ja, das hätte meinem früherem Ich gefallen. Sehr sogar.

Doch in meinem heutigen Ich sträubte sich allesdagegen. Ich würde es nicht ertragen, so lange und so oft mit ihr in einem Raum zu sein, ohne sie berühren zu dürfen. Ohne meine alte, verblasste Liebe zeigen zu dürfen.

Hörte man je auf, jemanden wirklich zu lieben?

Nein. Ich für meinen Teil zumindest nicht.

Aber es war die alte Lily, die ich zu lieben glaubte. Die neue Lily war mir unbekannt, merkwürdig fremd.

Allerdings waren es noch immer die selben grünen Augen, die mich böse anfunkeln würden. Es wäre noch immer das gleiche melodische Lachen, das nach einem meiner Wotze versucht unterdrückt erklingen würde. Es wären noch immer die gleichen Lippen, die vorwurfsvoll meinen Namen sagen würden. Es wären noch immer die selben Brüste, die sich so deutlich unter ihrem Umhang abbilden würden . . .

Okay, stopp! Meine Gedanken gingen eindeutig zu weit. Ich sollte so nicht denken. Ich durfte so nicht denken.

Es war vorbei und tief in meinem Inneren wusste ich das auch. Wer hätte gedacht, dass James Potter so anhänglich war?

Außerdem wusste ich ja gar nicht mit Sicherheit, ob Lily Schulsprecherin geworden war. Es könnte genauso gut jedes andere Mädchen aus unserem Jahrgang sein! Alice, zum Beispiel! Oder diese eine Ravenclaw mit dem langen schwarzem Haar und dem überheblichen Blick! Oder diese wichtigtuerische Hufflepuff, die immer alle jüngeren Schüler auf dem Gang zurechtwies. Oder diese Slytherin, deren Vorname sich auf ihren Nachnamen reichte und die so verdammt gut in Zauberkunst war. Mary hätte es ebenfalls sein können, diese Aufgabe hätte so wunderbar zu ihr gepasst. Doch diesen Gedanken führte ich besser nicht zu Ende, das hätte mich zu sehr betrübt.

Es wäre mir so viel lieber, wenn es eins dieser Mädchen wäre. Nicht Lily. Diese Mädchen konnte ich nämlich leicht beeindrucken und ihnen so schmeicheln, dass sie glaubten, in mich verliebt zu sein und mir die Arbeit des Schulsprechers um einiges erleichtern würden. All die Arbeit könnte ich auf sie abwälzen und ihnen unbewusst meine Ideen aufzwingen.

Doch mit Lily wäre das völlig unmöglich. Sie kannte mich viel zu gut und würde meine Masche sofort durschauen, sie war zu schlau um auf einen solch billigen, veralteten Trick hereinzufallen.

Etwas verwundert darüber, dass nicht Moony zum Schulsprecher ernannt worden war, wandte ich mich der großen Menge an braunen Kartons zu, die seit Wochen im Flur auf mich warteten. Es handelte sich um die paar Möbel und Habseligkeiten, die ich nicht hatte verkaufen können. Ich hatte es lediglich nicht über das Herz gebracht.

Den Rest des Tages verbrachte ich damit, einen Karton nach dem anderen auszupacken, die Sachen einzusortieren und regelmäßig in Tränen auszubrechen.

Es war bereits spät am Abend, als ich in einem der letzten von Mums Bücherstapel auf einen Roman stieß, der ganz sicher nicht zu ihrer Sammlung gehört hatte. Es handelte sich um keinen schwedischen Kriminalroman, und auch nicht um einen historischen Schinken, der Dad hätte gehören können.

Nein.

In meinen bebenden Händen hielt ich "Stolz und Vorurteil" von Jane Austen.

Ich fragte mich nicht, wie es in diese Kiste gelangt war. Ich fragte mich nicht, ob Mum und Dad gewusst hatten, dass es mir gehörte. Ich fragte mich nicht, wieso ich seine Existenz verdrängt hatte.

Ich stand lediglich da und starrte auf den eingestaubten Buchdeckel herab. Beinahe liebevoll pustete ich die grauen Flusen fort und strich sanft über das Bild von Elizabeth und Mr Darcy. Nur zu gut erinnerte ich mich daran, wie ich es damals nach unserer ersten Trennung im Schlafsaal angesehen hatte. Heimlich hatte ich unter der Bettdecke diese Liebesromane verschlungen, bei dem freudigen Gedanken, dass Lily diese Geschichten vergötterte.

Es schien mir eine Ewigkeit herzusein.

Verbittert warf ich das Buch wieder in den Karton. Es hatte Erinnerungen geweckt, die besser tief in meinem Unterbewusstsein verborgen geblieben wären.

Ich schnappte mir meine schwarze Lederjacke und vergrub die Hände darin, dann verließ ich mit dem Schlüssel zwischen den zitternden Fingern meine Wohnung. Die Tür knarrte, als ich sie hinter mir zuzog.

Gegenüber von meiner Wohnung schloss gerade meine junge, attraktive Nachbarin Louisa Williams ihre Tür auf.  Doch heute begrüßte ich sie nicht mit einem charmanten Lächeln wie sonst, sondern stürmte nur an ihr vorbei die Treppe herunter.

Sobald ich draußen die kühle Nachtluft atmete, verschwand ich mit schnellen Schritten in der Dunkelheit, die mich rasch umhüllte und mich vor meinen bohrenden Gedanken versteckte.


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