Es geht mir gut

Lily P. o. V.

Es gab bestimmte Personen im Leben, die konnte man einfach nicht anlügen. Das hatte rein gar nichts mit der Liebe zu tun, die man ihnen gegenüber verspürte. Es gab auch eine Menge Menschen, die ich von ganzem Herzen liebte, wirklich abgöttisch liebte, denen ich aber trotzdem ins Gesicht lügen konnte.

Besonders, wenn sie mich fragten, wie es mir ging.

Dann konnte ich einfach sagen "Es geht mir gut", ohne mit dem Wimper zu zucken. Bei Mama klappte das super, bei Papa auch. Auch mit Marlene hatte ich keine Probleme, ihr etwas vorzuspielen, Mary zuliebe hatte ich es damals auch stets gekonnt.

Bei Alice nicht, nur war das nicht weiter wichtig, denn Alice fragte mich nicht mehr, wie es mir ging. Eigentlich fragte sie mich gar nichts mehr.

In letzter Zeit hatte sich so viel in mir angestaut, so viel Verzweiflung, so viel Frust, so viel Unsicherheit. Ich war mit mir selbst so im Unreinen wie noch nie, statt abzunehmen hatte mich die letzten Ferientage eine Fressattacke nach der anderen geplagt. Ohne Sinn und Verstand hatte ich in mich reingestopft, Vernunft war nicht in Sicht. Die regelmäßigen Mahlzeiten waren für mich außer Kraft und ohne jede Bedeutung, ich hatte gefressen, bis ich nicht mehr konnte. "Satt" traf es nicht mal, das war eine reine Untertreibung des Gefühls, was sich dann in meinem Bauch breit machte.

Gefressen.

Das klang grausam, entsprach aber leider der Wahrheit. Ich hatte mich hingesetzt, in die Küche, wenn niemand zu Hause war. Nur ich und die Vorratskammer. Heimlich hatte ich alles geplündert, was wir da hatten. Man konnte sich wohl denken, dass ich kein Obst und Gemüse aß, sondern eher ungesunde, kalorienhaltige Sachen. Genau das, was ich doch eigentlich vermeiden wollte.

Schokocreme, Kekse, Gummibärchen, Chips, Pizza, gebratene Nudeln, Eier auf Toast, Pudding, Jogurth . . .

Das volle Programm. Es waren regelrechte Fressattacken, die mich da heimsuchten, und danach fühlte ich mich voll. Und schuldig, so unendlich schuldig.

Was ich nicht verstand, war, warum ich nicht aus meinen Fehlern lernte und am nächsten Tag wieder genau das gleiche machte: Essen, essen, essen. Mit Hunger hatte das nichts mehr zu tun.

Auch heute Morgen, am 1. September, hatte ich jegliche Kontrolle verloren und rebellisch so viel gefrühstückt, dass mir kurz vor der Abfahrt kotzübel war und ich mich am liebsten übergeben hätte. Warum bei Merlins Barte hatte es nicht gereicht, ein Brötchen mit Honig essen zu können? Wieso auch noch die bombastische Portion Rührei, die Crepes vom Vortag, die vier Toasts mit fetter Schokocreme und das Basismüsli meiner Schwester?

Ich konnte es mir nicht erklären, es war mir einfach unbegreiflich.

Jetzt würde ich eine Diät machen, jetzt aber wirklich!

Ein Vorsatz, der nur wenige Stunden halten sollte. Sobald meine Eltern mich zu Kings Cross fuhren und Papa an der Tankstelle anhielt, sah ich im Shop so viele leckere Sachen, die eine solche Leidenschaft und Lust in mir entfachten, wie ich sie seit Monaten nicht mehr verspürt hatte. Es war doch sowieso egal, was ich heute noch aß, der Tag war bereits gelaufen. Wenig essen konnte ich heute vergessen, diese Chance hatte ich schon mit meinem blöden Frühstück verspielt.

So lebendig  und aufgeregt hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt, als ich schließlich heimlich hinter dem Raststättenklo eine ganze, frisch gekaufte Packung Kekse verzehrte. Die leere Packung landete im Anschluss sofort im Mülleimer, der nur wenige Meter neben mir stand und nach verfaultem Essen stank.

Damit Mum und Dad auch ja nichts merkten. Natürlich war es ihnen bereits aufgefallen, dass ziemlich viel Nahrung in letzter Zeit auf ganz rätselhafte Weise verschwand, doch ich hatte es fieserweise einfach auf den dicken Vernon geschoben. Klang logisch, zumindest schluckten sie diese Lüge.

Mein schlechtes Gewissen war noch größer und fetter als mein Bauch, als wir schließlich weiterfuhren, außerdem hatte meine Laune ihren Tiefpunkt erreicht. Ich ließ meine Eltern mal in dem Irrglauben, es sei lediglich weil die Schule wieder anfing.

Gestern Abend hatte ich mich nach den unzähligen Fressattacken gar nicht getraut, meinen blassen, dicken Körper auf die Waage zu stellen. Gut, so dick war ich nicht.

Noch nicht.

Doch es schwabbelte überall, an meinen Armen, meinem Bauch, meinen Oberschenkeln . . . Ich bildete mir sogar ein, dass mein Gesicht runder geworden war.

So hatte ich mir das echt nicht vorgestellt. Ich hatte immer gedacht, dass ich wenn ich in die 7. Klasse kommen würde, hübsch, klug und beliebt wäre. Eine junge Frau in der Blütezeit ihrer Jahre, die hochmotiviert ihren UTZ-Prüfungen entgegen sah, viele Freundinnen hatte, vielleicht einen süßen Verehrer. Ich war der festen Überzeugung gewesen, auf mich wartete ein Abschlussjahr voller Spaß und schöner Momente.

Tatsächlich fühlte ich mich so unattraktiv wie noch nie, war schlecht gelaunt, hochemotional, hatte gerade mal eine beste Freundin und einen guten Kumpel und war - wie ich mir zähneknirschend eingestehen musste - noch lange nicht raus aus der Pubertät.

Geil.

Kein strahlendes Lächeln zierte meine Lippen, als ich mich vor dem Bahnhofsgebäude aus dem Wagen schwang, sondern ein verkniffener Gesichtsausdruck, hin- und hergerissen zwischen wütendem Frust und krampfhaftem Unterdrücken des Kloßes in meinem Hals, der immer größer wurde.

War jetzt nicht der Zeitpunkt, an dem ich mein Fake-Lächeln aufsetzen musste?

Weshalb bekam ich nicht mal ein grimassenartiges Grinsen zu Stande?

Ich war jetzt Schulsprecherin, die jüngeren Schüler würden über uns Ältere reden, wie wir damals über die früheren Siebtklässler. Wenn ich mir Respekt und Vertrauen verschaffen wollte, musste ich mich zusammenreißen und mich so benehmen, wie man es jetzt von mir erwartete.

Traurig sein, weinen und fressen - das konnte ich später, wenn ich alleine und einsam im Schlafsaal war.

An diesen Gedanken klammerte ich mich, als ich auf meinen schwabbeligen Beinen, die in dieser kurzen Skinny Jeans einfach schrecklich aussahen, vom Kofferraum mit meinen Sachen in der Hand zu meinen Eltern ging.

Für sie zwang ich mich zu einem winzigen, unechten Lächeln.

Ich umarmte Mum und Dad rasch und versicherte halbherzig, auf mich aufzupassen und ihnen zu schreiben, dann verschwand ich mit raschen Schritten durch die Wand, die Gleis 9 von Gleis 10 trennte.

Wenige Sekunden später befand ich mich auf Gleis 9 ¾, wo wie immer ein reges Treiben herrschte, umgeben von aufgeregt erzählenden Schülern und laut quiekenden Tieren, von besorgten Eltern und ungeduldigen Schaffnern. Überall blitzten bekannte Gesichter auf, die mich alle mit einem Strahlen und kumpelhaften Worten begrüßten. Egal wo ich hin sah, jeder trug einen roten, gelben, blauen oder grünen Schal, es fanden tränenreiche Abschiede von Familien, die man ein ganzes Jahr nicht sehen würde, und freudenreiche Wiedersehen mit Freunden, die man die ganzen Ferien nicht gesehen hatte, statt.

Der Dampf des Hogwarts Expresses nahm mir für einen kurzen Moment die Sicht, doch als ich hustend die Augen wieder aufschlug, stand Remus vor mir.

Er lächelte mich verlegen an und in seinen braunen Augen lag so etwas Verständnisvolles, Wissendes, als er ganz sanft wissen wollte: "Hey, Lily. Wie geht es dir?"

Ich konnte nichts dagegen tun, die Tränen kamen einfach. So lange hatte ich sie zurückgehalten, sie hinter meinen brenennden Augenlidern verborgen. Zu ihm konnte ich nicht einfach sagen "Es geht mir gut!", nicht zu ihm!

Remus schien leicht überrumpelt, als ich mich schluchzend in seine Arme stürzte und wimmernd und schniefend das Gesicht an seiner Brust verbarg. Etwas unbeholfen strich er mir über den Rucken und forderte mich mehrmals beunruhigt auf, zu erzählen, was eigentlich los war, allerdings brauchte ich mehrere Minuten, bis ich mich endlich beruhigt hatte.

Mich plagte ein schrecklicher Schluckauf, als ich endlich unterbrochen von wenigen Schluchzern, berichtete. Wir standen etwas Abseits vom bunten Treiben, niemand achtete auf uns, als ich ihm von meinen Fressattacken beichtete.

Erst ganz am Ende fügte ich hinzu, dass ich verwirrt war. Wegen James.

Glaubt mir, das war das Schlimmste an der ganzen Sache, ihm von meinen merkwürdigen Gefühlen von James zu erzählen. Ich verstand es ja selbst nicht.

Als meine Atmung sich schließlich beruhigt hatte, trat ich einen Schritt zurück und musterte ihn prüfend. Auf seinem mageren, blassen Gesicht zeichnete sich ganz deutlich Besorgnis ab und seine braunen Augen waren noch wachsamer als sonst.

Meine hysterischen Schluchzer ebbten langsam vollständig ab und ich fuhr mir beschämt über das verweinte Gesicht. Es musste ganz rot sein von den Tränen, so vermutete ich, außerdem war mein Make Up und mein Mascara verlaufen, wie ich nach einem kurzen Blick auf meine Hand feststellte.

Jaja, so war das eben. Man konnte sich ein schönes Gesicht schminken, ein Gesicht, das all die Narben darunter verdeckte. Für eine unbefleckte Haut mit einem strahlendem Lächeln. Doch wenn die Seele zu bluten anfing und die Tränen kamen, brachte alles Make Up auf Erden nichts, um deinen Schmerz vor der restlichen Welt zu verstecken. Es wusch das falsche Gesicht fort und brachte die offenen Wunden zum Vorschein.

Ganz entblößt kam ich mir nun vor, wie ich da vor Remus stand. Zitternd zog ich meine blaue Jeansjacke enger um meinen zitternden Körper und biss die Zähne so fest zusammen, das es laut knirschte.

"Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll", meinte Remus schließlich mit halbwegs gefasster Stimme. "Es tut mir furchtbar Leid zu hören, dass es dir so scheiße geht, Lily - ehrlich - das wusste ich nicht. Wenn ich etwas geahnt hätte - Mensch - Warum hast du denn nichts gesagt?"

Schniefend zuckte ich mit den Schultern und kurz kam mir der Gedanke, dass es vielleicht ein Fehler war, sich Remus anzuvertrauen. Vielleicht verstand er es ja gar nicht, hielt mich für lächerlich, für komplett bescheuert -

Doch dann erschien die Andeutung eines flüchtigen Lächelns auf seinen Lippen. Er packte mich sanft mit beiden Händen an den Schultern und legte seine Stirn zuversichtlich an meine. "Wir schaffen das, Lily, okay? Das wird wieder, versprochen. Ich bin froh, dass du mir davon erzählt hast."

Ich konnte nur betäubt nicken.

Remus war einer dieser Menschen, denen ich einfach nichts vormachen konnte. Es war eigentlich wie bei Alice. Wenn sie mich vor zwei Jahren angesehen hatte, hatte es sich ebenfalls angefühlt, als könnte sie geradewegs durch mich hindurschschauen, als ob sie alle meine Geheimnisse und Gedanken kannte.

Lügen hatte keinen Zweck.

Vielleicht, dachte ich, lag es aber auch einfach daran, dass man diese Personen gar nicht anlügen wollte. Ich wollte nicht länger die Wahrheit verbergen, zumindest nicht vor jedem, wenn ich schon nicht zu mir selbst ehrlich sein konnte. Ich wollte mir nicht länger ein Gesicht schminken.

Jetzt, nachdem ich Remus mein ganzes Herz ausgeschüttet hatte, ging es mir besser. Ich fühlte mich so viel leichter bei der Gewissheit, dass jemand von all dem wusste. Von meinen Fressattacken, von meiner Sehnsucht zu James.

Die Last war noch nicht von meinen Schultern, aber wir teilten sie uns jetzt.

In diesem Moment war ich einfach verdammt froh, einen besten Freund wie Remus zu haben. Wahrscheinlich war es sogar besser, nur ein oder zwei Leute zu haben, mit denen man über alles reden konnre, als eine riesige Gruppe von Menschen, die einen nicht mal richtig kannte, überlegte ich.

"Danke", murmelte ich und schulterte meinen Beutel. "Sag du mal, wie geht es dir denn so?"

Zusammen schlenderten wir zurück zu der Masse, die jetzt langsam in den Zug einstieg. Er winkte schmunzelnd ab. "Alles okay bei mir, soweit."

Ich durchbohrte ihn nahezu mit meinem Blick. "Du weißt, dass du mir immer alles erzählen kannst, ja?", versicherte ich mich eindringlich.

"Weiß ich doch, Lils", gab er mit einem schweren Lächeln zurück. Doch er schwieg, also ergänzte ich kopfschüttelnd: "Ich kann immer noch nicht fassen, dass du nicht zum Schulsprecher ernannt worden bist. Das ist echt blöd, wir beide zusammen wären viel lustiger gewesen!"

Er zuckte nur grinsend mit den Schultern. "Ja, das wäre sicher toll geworden. Aber du machst das bestimmt auch so großartig. Ich glaube an dich, Lilymaus!" Er lachte und gab mir einen übermütigen Klaps auf die Schulter.

"Danke", erwiderte ich trocken. "Wir sehen uns dann später, nehme ich an."

Ich blieb stehen, während mein Blick den Gang hinunter wanderte. Hier mussten wir uns wohl trennen. Ohne einen Blick in das Abteil mit den anderen Rumtreibern zu werfen (denn dann hätte ich ja James gesehen) entfernte ich mich schnellen Schrittes.

Auf dem Weg zum Abteil der Vertrauensschüler kam ich an mehreren verschreckten Erstklässlern vorbei, die alle respektvoll zur Seite sprangen, als ich an ihnen passierte. Mir stieg sogleich die Röte ins Gesicht, es war einfach nur unangenehm.

Wahrscheinlich lag das unterwürfige Verhalten der jüngeren Schüler weniger an dem Abzeichen, das fein säuberlich an meine Brust gepinnt war, als an meinem fürchterlichen Aussehen.

Mit einem flüchtigen Blick in ein sich leicht spiegelndes Abteilfenster stellte ich fest, das meine Augen ganz geschwollen waren, außerdem konnte man meine vielen Sommersprossen kaum von den glühenden Pickeln unterscheiden, die meine Stirn zierten. Meine grünen Augen starrten mir wie zwei leblose Smaragde trüb entgegen, die ihr Funkeln verloren hatten.

Ich erkannte mich selbst kaum wieder.

Es war doch sowieso egal, dachte ich, als ich schwungvoll die Tür zum Abteil der Vertrauensschüler aufzog. Ich musste mich nur kurz mit meinem Schulsprecherpartner beschnuppern und dann die Vertrauenschüler aus den fünften Klassen einweisen.

Dafür war ein gutes Aussehen nicht zwangsläufig nötig.

Ein irrtümlicher Gedanke, den ich sofort bereute, als ich sah, wen Dumbledore zum Schulsprecher gemacht hatte.

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