8. Kapitel - Alles wird gut


Im Gegensatz zu der Parkanlage war die Dachterrasse des Rabentempels überraschend bescheiden gestaltet. Dennoch beeindruckte mich diese Art von schlichter Eleganz mehr als es all der Prunk unten im Garten vermocht hatte.
Der klare Sternenhimmel über uns und der sanft leuchtende, ungewöhnlich warme Boden unter uns, taten ihr übriges. Letzterer bog sich am Rand ein Stück nach oben und bildete eine hüfthohe Absperrung, die verhindern sollte, dass kleine Kinder und Leute, die einen über den Durst getrunken hatten, in die Tiefe stürzten. Überall standen dutzende, langgestreckte Tafeln, die mit allerlei Köstlichkeiten beladen waren.
Die anderen Leute bedienten sich schon reichlich, vor allem die Ärmeren. In meinem Viertel hatten die meisten zwar ausreichend zu Essen, aber in der Regel reichte es nur dazu nicht zu verhungern. Bei uns konnte man sich schon glücklich schätzen, wenn man auch unter der Woche richtig satt wurde. Von Luxusgütern, wie zum Beispiel Schockolade oder Mangos, ganz zu schweigen.
Allein schon der Geruch war so appetitanregend, dass mir sofort das Wasser im Munde zusammenlief. Es gab alles was das Herz begehrt. Exotische Früchte, kleine Häppchen, Kuchen, Kekse und vieles mehr, das ich nicht so recht einordnen konnte.
Mein Magen krampfte sich zusammen und erinnerte mich schmerzhaft daran, dass ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte.
Solltet ihr schon einmal in einer ähnlichen Situation gewesen sein, dann wisst ihr ja, wie es mir ging. Und für all jene, die keine Ahnung haben, wovon ich spreche: Hunger ist gewiss kein angenehmes Gefühl.
Deshalb war es auch kein Wunder, dass ich erstmal kräftig zuschlug. Aber Schlingen ist nie gut. Das Sättigungsgefühl setzt nämlich erst nach einigen Minuten ein. Deshalb soll man auch immer langsam essen und gut kauen. Aber alle, die so etwas schon einmal erlebt haben, wissen, wie schwer das ist. Vorallem, wenn das Essen einfach hervorragend mundet. Ehrlich, die Adeligen hatten diesbezüglich echt einen guten Geschmack. Das war so ganz anders als Mutters ewige Kohlsuppen und den Linseneintopf.

Es gab nicht wenige Erwachsene, die versuchten ihre Angst vor dem Flug der Raben in Alkohol zu ertränken. Davon gab es übrigens ebenfalls reichlich. Und wie alles andere auch, war er unglaublich appetitlich angerichtet.
Cocktails leuchteten in allen Regenbogenfarben. Rotwein schimmerte wunderschön im Licht der Kerzen. Funkelte in den Kristallgläsern, wie flüssiger Rubin.
Oder wie Blut.
Abwägend betrachtete ich die rot schimmernde Flüssigkeit. Sie könnte mir Vergessen schenken. Zumindest behaupteten manche Leute das. Meine älteste Cousine hatte sich vor ein paar Jahren nach einem Geburtstag mit selbsthergestelltem Alkohol die Seele aus dem Leib gekotzt und kaum Erinnerung an den ganzen Abend gehabt.
Auch Zaarah beäugte nun den Wein. Man konnte förmlich sehen, wie sie mit sich rang. Und Mark, nun ja, der stopfte immernoch wahllos Essen in sich hinein, als gäbe es kein Morgen. Ich seufzte. Mark blickte auf und seine Augen weiteten sich.

"Ihr wollt doch nicht etwa...?"

Offenbar hatte er Zaarahs Blick bemerkt. Ich selber sah wahrscheinlich keinen Deut besser aus.

"Wieso nicht?" sagte Zaarah mit betont lässigem Schulterzucken. Sie ließ ihren Zeigefinger am nächstbesten Glas entlanggleiten. "Er würde mich vergessen lassen. Den Schmerz betäuben. Mich glücklich machen."

Mark knirschte unmütig mit den Zähnen.
"Alkohol ist in unserer Stadt nicht umsonst nur zu besonderen Anlässen zugelassen, ich hoffe das ist dir bewusst!"

"Und dieses Verbot wird nicht umsonst so häufig missachtet, ich hoffe das ist dir bewusst. -Ich...ich kann einfach nicht mehr, versteh das doch!"

Ehe sie es sich anders überlegen konnte, schnappte sich Zaarah eines der Gläser und leerte es in einem Zug. Auch ich wünschte mir in diesem Moment nichts sehenlicher, als diesen ganzen verdammten Mist hier zu Vergessen. Und sei es auch nur für ein paar lächerliche Minuten.

"Ach, macht doch was ihr wollt! Glaubt ihr etwa für mich ist das einfacher?" schleuderte Mark uns entgegen, bevor er sich mit einem verachtenden Schnauben auf dem Absatz umdrehte. "Wenn ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet, ich gehe mich betrinken. Mit Mulivitaminsaft!"

Zaarah kippte noch ein Glas nach.
Sollte ich nicht auch...? Nur einen winzigen Schluck? Zaarahs Worte poppten vor meinem inneren Auge auf: Er würde mich vergessen lassen, den Schmerz betäuben, mich glücklich machen. Das alles könnte ich jetzt gut gebrauchen. Ich seufzte erneut.

Warum ist nur immer alles so kompliziert? Kann es nicht Alkohol und Drogen geben weder süchtig machen, noch gesundheitsschädlich sind? Oder Schokolade, die nicht dick macht? Oder Adelige die selbst für ihre Ziele einstehen, anstatt wehrlose Untertanen zu schicken, die für sie die Drecksarbeit erledigen?
Aber Mark hatte nicht so ganz Unrecht. Die Welt ist nun einmal kein Paradies. Auch nicht wenn wir es manchmal gerne so hätten.

Zaarah nahm sich jetzt die Cocktails vor. Wenn ich richtig mitgezählt hatte, war das jetzt schon ihr fünftes Glas. Aber glücklicher sah sie nicht aus. Im Gegenteil.
Ihr Gesicht wirkte irgendwie grünlich. Die Augen, seltsam glasig.
Plötzlich krümmte sie sich, schlug sich die Hand vor den Mund und rannte zum Geländer. Das also, war der Preis den sie für das Vergessen zahlen musste.

Nach diesem Erlebnis beschlossen wir, es mit dem Essen vorerst gut sein zu lassen. Es gab hier weisgott genug andere Aktivitäten, die man ausüben konnte. Auch wenn keinem von uns wirklich danach zu mute war, einer Musical Gruppe zuzuschauen, die alte Sagen und Legenden vortrug. Aber alles war besser als nur gelangweilt dazustehen und Zeit zu haben über die Zukunft nachzudenken. Dachten wir zumindest. Doch die Geschichten handelten allesamt vom Rabenflug und den überglücklichen Champions, die stets als ruhmreiche Sieger zurückkehrten.
In der Mitte der Dachterrasse befand sich dagegen eine freie Fläche zum Tanzen. Ein DJ sorgte für die entsprechenden Rhythmen. Das war mit Abstand der beliebteste Platz.
Hier konnte man wunderbar abschalten, sich auspowern, alles um sich herum vergessen. Und anders als in der Kino Ecke oder bei der Musical Gruppe, wurde man nicht ständig an den Flug der Raben erinnert.
Eigentlich der perfekte Ort für Realitätsflüchtlinge, wie uns. Dennoch fühlte ich mich seltsam fehl am Platz, zwischen all den fröhlichen Menschen die unglaublich Spaß zu haben schienen. Klar, ich liebe Musik. Und Tanzen auch. Trotzdem wollte sich bei mir keine Feierlaune einstellen.
Irgendwo neben mir lachte jemand, laut und schrill.
Oberflächlich betrachtet, war es eine perfekte Party mit vielen, gut gelaunten Gästen.
Doch im Nachinein ist mir klar, dass sich hinter all der übertrieben Fröhlichkeit, dem schrillen Gelächter und der ausgelassenen Feierlaune, nur Unsicherheit und Angst verbarg.
Was wenn meine Kinder verschwinden? Was wenn die Raben mich wählen?
Nicht daran denken. Alkohol nachkippen. Unsinn erzählen. Nicht daran denken. Sich ablenken. Fröhlichkeit vortäuschen. Nur nicht nachdenken. Alles wird gut.

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