53. Kapitel - Vom Himmelreich in euren Herzen
Es war ruhig im Tempel. Ein melancholisch, langweiliges Ruhig.
Langsam ließ Wendelin den Blick über die zahlreichen Köpfe der Leute wandern, die dicht gedrängt im großen Saal saßen und mehr oder weniger gelangweilt der Predigt des Priesters lauschten. Wirklich traurig schienen nur die wenigsten zu sein.
Sein Blick wanderte zurück zu den drei Särgen und der Urne, die festlich geschmückt vor dem mit Blattgold verzierten Altar standen.
Die Angehörigen der Verstorben hatten reichlich Geld fließen lassen, um ihren Lieben ein Begräbnis im Rahmen des Gottesdienstes zur Feier des ewigen Lichts zu ermöglichen.
Man munkelte, dass die Seelen der Toten, die an Tagen wie diesen beerdigt wurden, deutlich bessere Aussichten hatten, in das Paradies der Götter eingelassen zu werden. Besonders dann, wenn man einen hochrangigen Priester fand, der bereit war, ihnen seinen besten Segen für die letzte Reise mitzugeben und sie von all ihren Sünden freizusprechen.
Mit der heiligen Schrift belegen, konnte man diese Vorstellung allerdings nur sehr vage.
Wendelin seufzte leise.
Wenn es stimmte, hätte er schlechte Karten. Ein solches Begräbnis würde er sich als einfacher Priester niemals leisten können.
"Auch langweilig?" Ilija sprach leise, flüsterte jedoch nicht.
Er saß mit verschränkten Armen und demonstrativ gelangweilter Miene neben ihm auf der Bank.
Wendelin zuckte mit den Schultern. Die anderen Gottesdienste waren auch nicht wirklich spannender. Wenn es gut lief, konnte man nebenbei unauffällig ein paar Hausaufgaben abschreiben oder für eine Klausur lernen. Wenn es weniger gut lief, so wie heute, mussten sie die Predigt oder den Ablauf bestimmter Rituale analysieren.
Außerdem waren die schmalen Holzbänke, von denen jeweils drei in den Nischen beiderseits des Altars standen, dermaßen unbequem, dass einem spätestens nach einer halben Stunde der Hintern wehtat.
Er reckte sich ein wenig vor, um die reichen Leute in den vorderen Reihen besser sehen zu können. Als Angehörige der Toten hatten sie das Recht ganz vorne mit dabei zu sein. Die Frauen waren besonders hübsch hergerichtet. Für einige Augenblicke blieb sein Blick an einem schlanken jungen Mädchen in langen schwarzen Samtkleidern hängen. Sie hatte etwas elfenhaftes.
Der Priester räusperte sich. "Denn gütig ist die Göttin und ihr Licht möge leuchten den Gerechten auf ihrem Weg in die ewigen Hallen." Salbungsvoll reckte er die Hand in Richtung der Särge, während sich andächtiges Schweigen im Saal ausbreitete.
Gedenkzeit und Segen für die Toten;
üblicher Ablauf, Schema von Susanne Krotzinger,
kritzelte Wendelin auf den verschlissenen Block, der auf seinen Schenken lag.
"Aber lasst uns nun noch einmal bedenken, dass der Tod nicht das Ende unserer Existenz ist." Der Priester breitete nach Ablauf der Schweigeminuten salbungsvoll die Arme aus. "Die frohe Botschaft lautet, dass noch viele Plätze frei sind im Paradies der Göttin. Die Frage ist jedoch: Wie können wir dieses Paradies erreichen?"
Überleitung: Tod - > ewiges Leben.
Schema der direkten Ansprache von -
Wendelin stockte und ließ den abgekauten Stift reglos über dem Papier schweben. Annegret der Großen? oder doch auch Susanne Krotzinger?
Er schielte vorsichtig zu Ilija hinüber. Dessen Blatt war jungfräulich weiß.
Erstaunt runzelte Wendelin die Stirn. Die Aufgabe war doch gewesen, die Predigt zu analysieren und deren Aufbau sowie die verwendeten Schemata herauszufiltern. Aber Ilija machte keinerlei Anstalten irgendetwas mitzuschreiben. Das konnte er sich doch unmöglich alles merken. Es sei denn, er selbst hatte die Aufgabe falsch verstanden und sie sollten die blöde Predigt gar nicht analysieren.
Vorsichtig schielte Wendelin nach links. Doch dort saßen lediglich zwei ältere Novizen des achten Kreises. Der eine malte konzentriert ein Muster aus schwarzen und weißen Kästchen in sein Heft während der zweite sich eifrig Notizen machte. Die konnten ihm auch nicht wirklich weiterhelfen.
"Die Antwort ist einfach. Wir müssen gute Gläubige sein.
Doch was zeichnet einen guten Gläubigen aus?"
Wieder machte der Priester eine bedeutungsschwangere Pause.
"Auch dies ist einfach zu beantworten. Ein guter Gläubiger befolgt die Gesetze der Göttin, wie sie geschrieben stehen in der heiligen Schrift."
Wendelin stieß Ilija, der den Priester immer noch abfällig musterte, leicht mit dem Ellbogen in die Seite. Der wandte überrascht den Kopf und sah ihn fragend an. Wendelin deutete auf seinen Block.
Was war nochmal unsere Aufgabe?, schrieb er.
"Irrelevant," murmelte Ilija. "Was der da abzieht ist sowieso der größte Scheiß."
"Meinst du?" wisperte Wendelin so leise wie möglich zurück.
Ilija beugte sich minimal zu ihm hinüber und deute auf den Priester, der gerade dabei war, die Notizen für seine Predigt neu zu ordnen. "Stell dir mal vor -"
"Scht!" zischte es aufgebracht von hinten. Es war Silas. Einer ihrer Klassenkameraden und noch dazu ein sehr eifriger, wann immer es darum ging, sich im Glauben zu beweisen.
Ilija drehte sich langsam um und hob demonstrativ eine Augenbraue.
"Es kann ja sein, dass es den Horizont mancher Leute übersteigt," zischte Silas genervt, "aber ich würde wirklich gerne hören, was der Priester zu sagen hat."
Ilija starrte unverändert zurück. Das gehörte zu seinen Stärken. Leute solange in vorwurfsvollem Schweigen anzustarren, bis sie sich selbst um Kopf und Kragen redeten.
Für einige Augenblicke herrschte Stille, in der Ilija stumm dabei zusah, wie Silas zunehmend unruhiger wurde.
"Ich an deiner Stelle würde jedenfalls besser aufpassen," sagte Silas gepresst. „Du kannst es dir nicht leisten, schon wieder aus einem Kloster geschmissen zu werden."
Ilija schwieg noch immer.
"Die Priester haben dich doch sowieso schon auf dem Kieker," fügte Silas nach einer Weile gehässig hinzu. „Und wenn du im Gottesdienst die ganze Zeit redest, wird das nicht besser werden."
Ilija hob lässig eine Augenbraue und blickte Silas vorwurfsvoll an. "Wer redet hier die ganze Zeit?"
Ein tiefer Gong hallte durch den langen Saal. Die Novizen verstummten. Gleich würde der Vorhang an der Südwand zurückgezogen werden und das Licht der aufgehenden Sonne den Raum erleuchten. Es war ein Symbol für den Bund, den die Rabengöttin vor langem Jahren mit den Menschen geschlossen hatte.
"Und so sprach die Göttin: Ich will gütig sein zu jenen, die sich da halten an Recht und Gesetz und ihnen ein Leben schenken, das ewig währt. Doch nur wer reinen Herzens ist, kann Einzug halten in das Reich der Himmel und zu seiner Größe und Herrlichkeit beitragen."
Der Priester blickte prüfend auf die Gläubigen hinab. "Ihr seht, es ist der Wille der Göttin, dass wir der Obrigkeit gehorchen und uns an das geltende Recht halten."
Ilija gab ein verächtliches Schnauben von sich. "Bestechliche Wixer," murmelte er.
Jemand stieß Wendelin sanft in die Seite. Erschrocken wandte er den Kopf und sah in die kaffeebraunen Augen von Thomas, der hinter ihm neben Silas saß. Sie waren nicht direkt Freunde, aber doch so etwas wie bessere Bekannte. "Du solltest mitschreiben," sagte Thomas freundlich und deutete auf den Block auf Wendelins Schoß.
"Gar nichts muss er," sagte Ilija kalt. Sein Block lag nach wie vor unangetastet auf seinem linken Oberschenkel.
Thomas zog eine Augenbraue hoch und widmete sich wieder seinen Notizen.
Aufgewühlt drehte Wendelin den Stift in der Hand und versuchte sich daran zu erinnern, was der Priester vorhin gesagt hatte. Dass Silas immer alles so eng sehen musste...
Ein erneuter Gong hallte tief durch den Saal und das feine Rascheln von Stoff, der zurückgezogen wurde, erfüllte die Luft. Wendelin kritzelte flüchtig ein paar mehr oder weniger zusammenhängende Wörter auf sein Blatt, damit er später im Unterricht zumindest ein Bisschen etwas sagen könnte, sollte er aufgerufen werden.
Licht erfüllte den Raum und ein aufgeregtes Raunen lief durch den Saal, das auch nach einigen Herzschlägen nicht abebbte. Irritiert hob Wendelin den Kopf. Der Priester blickte erstarrt in Richtung Südwand. Seine Glatze schimmerte wächsern im Morgenlicht.
Neugierig beugte Wendelin sich ein wenig vor, um sehen zu können, wohin der Priester starrte. An der Südwand, wo bis vor wenigen Augenblicken noch der schwere Samtvorhang gehangen hatte, prangte in großen, handgeschriebenen Lettern blutrot ein Schriftzug auf dem mit sonnengelben Mustern verzierten Glas.
Fickt das System!
Aufgeregt hielt Wendelin den Atem an. Die letzten Buchstaben waren zwar etwas verwaschen, aber nichts destotrotz gut zu lesen.
Als der Priester sich zu den Gläubigen umwandte standen feine Schweißtropfen auf seiner Stirn. Die Anspannung im Raum war beinahe mit Händen greifbar.
"Es..." der Priester räusperte sich, sichtlich nervös. "Es ist die Aufgabe eines jeden Gläubigen, in frommer Demut zu warten, bis die große Göttin wiederkehrt und uns und unsere Ahnen aus dem irdischen Jammertal erlösen wird."
Enttäuscht schmierte Wendelin ein paar Stichpunkte auf seinen Block. Es waren die Standardworte, die jedes Jahr zur Tag und Nachtgleiche gesprochen wurden, wenn der große Samtvorhang nach drei Tagen Dunkelheit wieder zurückgezogen wurde.
"Und es wird ein Jauchzen sein unter ihren Anhängern nah und fern, denn sie werden gerufen in das Paradies, das ewige. So steht es geschrieben in der heiligen Aufzeichnung des Ignatius von Belm." Der alte Priester schnappte nach Luft und deutete mit der Linken fahrig in Richtung Decke, bevor er mit gepresster Stimme fortfuhr: "Von daher wendet die Augen gen Himmel und haltet euch an die Gebote der Göttin, die da sieht alles was lebt, denn der Tag wird kommen, da sie richten wird über euch und eure Kinder und Kindeskinder und entsenden -"
Eine dürre Frau mitte Vierzig in fadenscheiniger Bluse stand auf und nahm mit zornigem Gesichtsausdruck ihr Jacke. Der Priester verstummte und starrte sie entgeistert an.
Ohne ein Wort zu sagen, drängte sie sich an den anderen Gästen vorbei in Richtung Ausgang.
"Sie wird richten über euch," setzte der Priester erneut an, doch keiner beachtete ihn mehr.
Inzwischen war ein kleiner, ebenso drahtiger Herr aufgestanden und rief der Frau über die Reihen der anderen Besucher hinweg etwas zu, das Wendelin aufgrund des allgemeinen Tumults nicht verstehen konnte.
Ein erneuter Gong hallte durch den Saal. Schlagartig kehrte Stille ein.
Ruckartig hob die Frau den Blick und taxierte den Priester mit vor Wut glühenden Augen. "Ich werde mir nicht länger diesen Scheiß anhören, während ich genauso gut drüben in den Plantagen der VerticalFarmer arbeiten und etwas Geld dazu verdienen könnte. Davon, dass die Göttin angeblich all ihre folgsamen Schafe nach dem Tod in ein sagenumwobenes Himmelreich aufnimmt werden meine Kinder nicht satt."
Für einen Herzschlag herrschte Stille.
Aus dem Augenwinkel sah Wendelin, wie Ilija beifällig nickte.
Der Priester räusperte sich und blätterte hastig in dem Skript seiner Predigt, als hoffte er, dort Antworten zu finden.
Die Frau schnaubte abfällig, wandte sie sich um und schritt , ohne sich noch einmal umzusehen, in Richtung Ausgang.
Stumme Blicken folgten ihr bis zur Tür, die krachend ins Schloss fiel.
Der Priester räusperte sich, sagte jedoch nichts. Die Hand, in der er seine Notizen hielt, zitterte ein wenig. "Ich ..." er räusperte sich erneut und alle Blicke richteten sich gespannt auf ihn. "Ich ... also ... wo war ich stehen geblieben?" Er kratzte sich am Kopf. "Achso, ja die Wunderwelt des Himmelreiches und wie sie zu erreichen ist."
Beinahe Augenblicklich wurde vielstimmiges Gemurmel laut. Zwei Leute verließen ihre Plätze und weitere machten Anstalten ihnen zu folgen. Die meisten saßen jedoch still und beobachteten neugierig das Geschehen.
"Meine Frau hatte Recht," rief der Mann, der vorhin noch versucht hatte seine Gattin davon abzuhalten, den Tempel zu verlassen. "Wer sagt mir, dass es diesen Himmel wirklich gibt?"
Das Gemurmel verstummte erneut und Stille senkte sich über den Saal. Alle Augen waren auf ihn und den Priester gerichtet.
"Jetzt ist er mit seinem Latein am Ende," murmelte Ilija. Es klang fast schon schadenfroh.
"Scht!" fuhr ihn Silas von hinten an. "Ich will hören was er sagt."
"Er wird gar nichts sagen," erwiderte Ilija mit der Gewissheit, mit der andere kleinen Kindern versichert hätten, dass die Sonne am nächsten Morgen mit der selben Strahlkraft aufgehen würde, mit der sie am Abend zuvor untergegangen war. "Ich wusste schon immer, dass diese Theorie nicht haltbar ist."
"Aber so steht es doch geschrieben," warf einer der anderen Novizen ein. Auch einer der Streber.
"Zzzz," machte Ilija missbilligend und schüttelte den Kopf. "Nur, weil etwas irgendwo geschrieben steht, muss das noch lange nicht heißen, dass es wahr ist." Er schenkte ihm einen schadenfrohen Blick: „Ich könnte doch auch einfach: Du bist gut im kritisch Denken, in ein schlaues Buch schreiben. Aber deshalb wird es auch nicht wahrer.
Außerdem bezweifle ich, dass in den Aufzeichnungen wirklich das steht, was die Priester gern behaupten. Meiner Meinung nach, haben die das alle einfach nur kolossal falsch verstanden. Vielleicht auch, weil sie es falsch verstehen wollen."
Wendelin zog unwillkürlich die Schultern ein und bemühte sich, möglichst unbeteiligt dreinzuschauen. Eigentlich war es nicht wirklich verwunderlich, dass Ilija bei vielen nicht sonderlich gut gelitten war. Wieso musste er auch ständig Streit provozieren?
"Ach ja, jetzt bist du also schon gescheiter als die Priester, obwohl du noch ein einige Lehrjahre vor dir hast? Für wen hälst du dich eigentlich?" sagte Silas und klang dabei mehr verwundert als empört.
"Für durchaus kompetenter als der Großteil dieser Spaten, die sich Priester schimpfen und meinen, uns die Welt erklären zu müssen." Ilija machte eine bedeutungsschwangere Pause und tat als müsse er kurz überlegen, "Außerdem habe ich vor gut einer Woche ein Tagebuch mit sehr interessanten Denkanstößen in der Bibliothek gefunden. Blöd nur, dass es gemeinsam mit ein paar anderen alten Dokumenten im Schreibtisch des Sekretärs lag, wo es keiner so einfach finden kann."
"Und wie kommst du dann da dran?" bemerkte Silas spitz.
"Hast du wieder mal was ausgefressen um musstest putzen?" versetzte ein anderer.
Ilija lächelte hintersinnig und zuckte mit den Schultern. "Vielleicht," murmelte er, bevor er sich wieder dem Geschehen zuwandte.
"Wer sagt, dass es diesen Himmel wirklich gibt? Oder, dass sich die Göttin genug für uns interessiert, um uns Einlass in ihr kleines Paradies zu gewähren?" Wiederholte der drahtige Mann und blickte den Priester herausfordernd an.
Der holte tief Luft, sichtlich um Fassung bemüht.
Unten, auf den Kirchenbänken war es vollkommen Still. Nur ein kleines Baby weinte leise vor sich hin.
Jemand stieß Ilija von hinten in den Rücken. "Sag du doch was, wenn du alles besser weißt."
"Mach ich auch," zischte Ilija und schob die Bank beim Aufstehen so abrupt zurück, dass sie heftig gegen das Schienbein seines Hintermannes prallte.
"Er hat Recht," sagte Ilija mit fester Stimme in Richtung des drahtigen Mannes, die auch ohne Mikrofon durch den ganzen Saal trug. "Keiner kann beweisen, dass es diesen Himmel wirklich gibt."
Völlig perplex starrte der Mann zu Ilija hoch, der für ihn quasi aus dem Nichts hinter der Mauer hervorgetreten war. "Aber im Grunde kommt es darauf auch gar nicht an."
Einer der anderen Priester erhob sich ebenfalls und trat aus der gegenüberliegenden Nische heraus. Beschwichtigend ging er auf Ilija zu. Im Saal war es mittlerweile totenstill. "Danke, mein Sohn, aber ich denke, uns ist allen zur Genüge klar, dass es auch immer ein paar verwirrte Schafe unter den Menschen gibt die -"
"Nein." Mit scharfer Geste schnitt Ilija seinem Lehrer das Wort ab. "Er hat Recht." Er deutete auf den kleinen Mann, der immer noch trotzig zwischen den Kirchenbänken stand.
Für ein paar Sekunden funkelte er den Priester wütend an. Dann reckte Ilija entschlossen das Kinn, bedachte den Priester mit einem leicht ironischen Blick und wandte sich wieder dem Publikum zu. Mit ausladender Geste deutete er auf den Schriftzug an der Wand. Fickt das System.
"Vieles, was hier gepredigt wird, sind nichts als menschliche Regeln. Erdacht und über Jahrhunderte weitergetragen von Leuten, die es mal mehr und mal weniger streng genommen haben mit dem Glauben und dem Wohl dieser Welt."
Er nickte dem Mann, der nun wie versteinert vor der Kirchenbank stand aufmunternd zu. "Was wir brauchen sind Leute, die hinterfragen und sich trauen kritisch zu denken. Einiges, was einmal sinnvoll gewesen sein mag, hält uns heute nur noch vom wahren Glauben ab."
Auf den Bänken der gegenüberliegenden Nische, wo zwischen den Novizen auch einige Priester saßen, wurde wild gestikuliert. Zwei von ihnen standen auf und gesellten sich zu dem Priester, der vorhin versucht hatte, Ilija zu beschwichtigen. Nach einigem hin und her erhob sich auch einer der älteren Novizen.
"Und was ist er dann deiner Meinung nach, der wahre Glaube," fragte der Mann mit skeptisch zusammengezogenen Brauen in die Stille hinein.
Ilija sog tief die Luft ein und ließ seinen Blick für einige Momente nachdenklich über die Menge schweifen.
Er deute abermals auf die große Glasfront an der Südwand. Der Schriftzug funkelte rubinrot in den ersten Strahlen der Morgensonne. „Seht das Licht."
Er ließ die Worte für einige Sekunden wirken. „Wahrer Glaube ist wie dieses Licht. Er kann unsere Welt erhellen."
Er macht ein paar Schritte nach vorne, auf das Publikum zu und breitete einladend die Arme aus, während sich die drei Priester und der Novize leise berieten.
„Das Himmelreich ist kein fernes Wolkenkuckucksheim, in das wir vielleicht irgendwann einmal Einzug halten werden, wenn es der Göttin beliebt.
Im Gegenteil. Es ist hier und jetzt und es ist an uns, es zu gestalten.
Das ist die frohe Botschaft. Oder unser Unglück."
Er lächelte dem Publikum aufmunternd zu.
„Jedes Mal, wenn wir etwas Gutes tun, dann beginnt ein Stück des Himmels hier auf der Erde. Und dieser Traum vom Himmelreich, die Entschlossenheit, eine Bessere Welt für uns alle zu erstreiten, das ist es, was waren Glauben ausmacht."
Ilija blickte dem kleinen drahtigen Mann fest in die Augen. „Du hast mich gefragt, was wahrer Glaube ist." Er legte beide Hände auf die Brust. Es war die Stelle, an der auch das Herz saß. „Wahrer Glaube beginnt nicht damit, dass ihr morgens aufsteht und andächtig den Kopf geneigt in drei verschiedene Richtungen betet. Wahrer Glaube beginnt hier drinnen. Es ist eine Haltung. Kein Ding, das man hat oder nicht hat."
Ein seliges Lächeln lag auf seinem Gesicht. So zufrieden hatte Wendelin ihn noch nie gesehen. Ilija stand völlig ruhig und gleichzeitige war da eine Ausstrahlung von ungeheurer Kraft, die Wendelin nur schwer greifen konnte.
„Es..." Ilija machte eine unbestimmte Geste und blickte verträumt ins Leere. Die Priester hatten ihn nun fast erreicht. Der Novize hielt sich einige Schritt im Hintergrund.
„Dieses Himmelreich. Manchmal ist mir, als könnte ich es fast schon fühlen. Als sei es zum Greifen nah. Und manchmal denke ich mir, wenn jeder -" Ilija verstummte schlagartig als der kleinere der beiden Priester ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter legte und machte erschrocken einen Satz zur Seite. Der kleinere Priester sagte leise etwas zu Ilija, das dieser nur mit einem vehementen Kopfschütteln quittierte.
Mit entschuldigender Mine ergriff der Priester ihn beherzt am Arm und drückte ihn bestimmt in Richtung Ausgang. Der andere folgte seinem Beispiel. Nur der Novize hielt sich etwas unschlüssig im Hintergrund.
Ilija ließ alles widerstandslos mit sich geschehen.
Kurz bevor sie den Ausgang erreicht hatten reckte er ein letztes Mal den Hals und rief mit lauter Stimme: „Egal was man euch erzählen mag, vergesst nie, dass das Himmelreich in euren Herzen beginnt und ein jeder von euch die Kraft hat, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen!"
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