51. Kapitel - Das Schweigen der Sterne
Menschen vermuten immer großes hinter jeder Kleinigkeit,
einen Sinn in jeder noch so widersinnigen Begebenheit.
Was aber, wenn Spaß der Sinn ist?
Oder das Leben ansich?
Nachdenklich starrte Rabenklaue zum Nachthimmel empor und legte die Hände auf dem glattpolierten Fenstersims ab.
Der Mond hing groß und voll am Himmel über ihm.
Er hatte etwas Faszinierendes. Besonderes in Nächten wie dieser.
Wie konnte etwas, das tausende Meilen entfernt war, zugleich zum Greifen nah erscheinen?
Die großen Türme, auf denen heute die Championvorstellung stattgefunden hatte, wirkten kaum weniger weit weg. Und doch waren sie um so vieles näher als der fahle Mond und die silbrigen Sterne, die jede Nacht gleich stummen Zeugen über die Erde zu wachen schienen.
Für den, der genau hinsah, war die Welt ein Ort voller Geheimnisse.
Angenehm kühl strich die staubige Nachtluft über sein Gesicht und vertrieb die stickige Hitze aus dem Badezimmer. Hier in der Wüste konnte es verdammt heiß werden.
Schmunzelnd schwang Rabenklaue die Beine über das kaum hüfthohe Sims. Die Rabenmutter würde ihn bestimmt in Grund und Boden schimpfen, wenn sie wüsste, dass er nachts manchmal gerne bei geöffnetem Fenster auf der Fensterbank saß und entspannte.
Besonders dann, wenn er nicht schlafen konnte.
So wie heute.
Seine Gedanken keisten in einem Fort immer und immer wieder um die selben Themen.
Warum ausgerechnet musste sein Champion so unfähig sein?
Rabenklaue schnippte mit einer schnellen Bewerbung ein vertrocknetes Blatt vom Fenstersims und beobachtete, wie es sanft nach Unten segelte.
So hätte Ravenna es auch tun sollen. Stattdessen hatte sie das mit den Flügeln nicht hingekriegt.
Er wusste aus eigener Erfahrung, dass es gar nicht so einfach war, die Dinger im richtigen Moment zu entfalten und unter Kontrolle zu halten. Aber trotzdem.
Warum hatte so etwas ausgerechnet heute passieren müssen, wo doch alle wichtigen Persönlichkeiten zusahen? Und das Volk.
Das ganze Volk!
Erschöpft fuhr er sich mit der Hand über die Stirn.
Dank Ravenna hatte er hatte es schon wieder geschafft zum Gespött der Leute zu werden.
Was sollten die anderen nur von ihm denken?
Dass er ebenfalls ein unfähiger Idiot war?
Wenn das so weiterging konnte er den Thron getrost vergessen.
Dabei hatte der noch Pläne mit der Welt. Große Pläne, die er nur als König würde verwirklichen können.
Wie konnte die Rabengöttin so etwas zulassen? Dass man ihn dermaßen demütigte. Vor dem ganzen Volk.
Hatte auch sie keinen Glauben an ihn?
Wollte sie lieber einen anderen auf dem Thron sehen?
Er fuhr sich mit der Linken durch die Haare und schalt sich im selben Moment dafür. Wenn er so weitermachte, würde er morgenfrüh wieder duschen müssen.
Unwillkürlich musste er an Wolfsbraue denken. Was wenn der Herr in der Toilette heute Abend tatsächlich Recht hatte?
Wenn das mit ihrem Arm, kein Zufall gewesen war?
Wenn ihr Champion sich weiterhin widersetzte, standen die Chancen für ihn deutlich besser. Soweit er mitbekommen hatte, war der Wolfschampion jung und kräftig und machte darüber hinaus einen recht intelligenten, wenn auch sehr stillen Eindruck.
Abgesehen von der Championvorstellung hatte Rabenklaue ihn selbst erst einmal kurz auf dem Flur gesehen. Mit gerader Haltung und wachem, selbstbewusstem Blick, hatte er ihm im Vorübergehen für einige Sekunden lang direkt in die Augen geschaut. Etwas, das sich nur wenige Leute aus dem Volk bisher getraut hatten. Die meisten senkten nach wie vor ehrerbietig oder wahlweise auch schüchtern das Haupt, sobald er in Sichtweite war.
Dabei fand er die Tradition, dass man Herrschenden nicht direkt ins Gesicht sehen durfte ausgesprochen lächerlich. Doch auch wenn es schon seit ein paar Jahrzehnten nicht mehr zwingend Vorschrift war, hielt sich diese Verhaltensweise bei Hofe hartnäckig.
Wolfsbraues Champion war definitiv einer derjenigen, die er im Auge behalten sollte.
Er legte den Kopf in den Nacken und blinzelte den Sternen entgegen.
Sie betrachten hatte etwas Beruhigendes.
Ihrem kalten, klaren Licht schien nicht der Staub der Sterblichkeit anzuhaften.
Und auch wenn er wusste, dass dieser Hauch von Ewigkeit nur eine Illusion war und selbst die Sterne eines Tages vergehen würden, hatte der Gedanke, dass es auch Dinge gab, denen seine Sorgen egal waren, doch etwas Tröstliches.
Unten, zwischen den Palmen im Innenhof, raschelte es leise. Rabenklaue zuckte zusammen und beobachte einige Herzschläge lang unbewegt die Szenerie.
Nichts regte sich.
Er schnitt eine Grimasse und ärgerte sich über seine eigene Dummheit. Für einen Moment hatte ihn der Gedanke an ein Attentat durchzuckt.
Aber das war vollkommen lächerlich.
Vermutlich wurde er langsam paranoid.
Die Löwenkinder hatten bestimmt für hochgradige Sicherheitsmaßnahmen gesorgt. Einen Adeligen in Folge eines Attentats auf ihrem Terrain zu verlieren, wäre eine untragbare Schande.
Und nicht unbedingt förderlich für gute politische Beziehungen.
Er saugte leicht an seiner Unterlippe und beobachte weiterhin aufmerksam den Innenhof.
Aber wer wusste schon?
Der alte König war auch ein Kind des Löwen gewesen. Und selbst wenn die öffentliche Version lautete, dass er an einer schweren, plötzlich eingetretenen Krankheit verstorben sei, war jedem Adeligen insgeheim klar, wie sehr das nach Intrige und Mord schrie.
Er fröstelte.
Dass ihn sein Tod unmittelbar nach seiner Reise durch das Reich, deren letzte Station ausgerechnet die Stadt des Raben gewesen war, ereilt hatte, trug nicht gerade zur allgemeinen Beruhigung bei.
Er atmete tief durch. Die Dunkelheit, in der er sich vor wenigen Minuten noch so geborgen gefühlt hatte, erschien ihm mit einem Mal bedrohlich.
Darauf bedacht, kein Geräusch zu machen, ließ sich Rabenklaue langsam von der Fensterbank zurück ins Bad gleiten. Als er das Fenster schloss durchströmte ihn unmittelbare Erleichterung.
Verärgert über sich selbst ging er mit zwei großen Schritten zum Waschbecken, schaltete das kleine Licht an und drehte den Wasserhahn voll auf, nur um ihn gleich darauf wieder abzudrehen und zu lauschen.
Stille.
Da war nichts. Zumindest nichts, was sich bewegte.
Er biss verärgert die Zähne zusammen und widerstand dem Drang, sich umzusehen. Das war doch dermaßen lächerlich. Da war nichts!
Außerdem stand seine Leibwächterin vor der Tür zu seinem Gastapartment. Sie war eine der fähigsten unter seinen Wachen.
Angespannt drehte er den Hahn wieder auf. Das kühle Wasser rann angenehm plätschernd über seine schlanken Hände.
Er wollte gerade nach dem in Delfinform gepressten Seifenstück greifen, als es auf einmal kräftig in seinem Magen rumorte.
Er schluckte, atmete tief durch und versuchte die aufsteigende Übelkeit niederzukämpfen.
Langsam atmete er aus, darauf bedacht, sich möglichst wenig zu bewegen.
Bestimmt hatte er nur zu viel gegessen. Oder getrunken.
Nichts, weswegen er sich Sorgen machen sollte.
Hoffentlich.
Er bemühte sich, gleichmäßig weiterzuatmen.
Nach einer Weile besserte sich die Übelkeit ein wenig.
Rabenklaue schluckte vorsichtig und blickte auf die Uhr, die in der gegenüberliegenden Wand eingebaut war.
3:35 Uhr.
Später, als er gedacht hatte. Er sollte jetzt wirklich ins Bett gehen. Und in Zukunft weniger Alkohol trinken. Morgen, wenn es wieder hell war und er ein wenig geschlafen hatte, sähe die Welt bestimmt wieder anders aus.
Vielleicht waren es auch noch Nachwirkungen der Aufregung wegen der Championvorstellung. Oder von der Panikattacke, an der er nur haarscharf vorbeigeschrammt war als er seinen Champion auf der Herrentoilette versteckt hatte.
Doch einen letzten nagenden Zweifel konnte er nicht aus seinem Hinterkopf vertreiben.
Er atmete ein letztes Mal tief durch und benässte sich das Gesicht. Es tat gut die Kälte auf der Haut zu spüren.
Überhaupt zu spüren, dass es noch eine Welt außerhalb seines Kopfes gab. Dass er vielleicht doch nicht völlig verrückt war.
Er betrachtete sich im Spiegel während das Wasser in glitzernden Bahnen seine Haut hinabrann und im Kragen seines Hemdes verschwand. Die dichten, geraden Brauen, die ebenmäßigen Züge, der fast schon elfenbeinfarbene Teint.
Er neigte kritisch den Kopf. Er war schon ein wenig blass. Selbst für seine Verhältnisse. Aber was wollte man um diese Uhrzeit auch schon anderes erwarten?
Alles in allem gefiel ihm aber, was er sah. Er zwinkerte dem beinahe vollkommen Gesicht, das ihn aus großen, dunklen Augen nachdenklich anstarrte, spielerisch zu und es zwinkerte zurück.
Sollten die anderen doch versuchen, seinen Ansehen zu schmälern. Seinen Stolz und seine Schönheit konnten sie ihm nicht nehmen.
Auch wenn seine Nase momentan etwas unansehnlich war. Aber das würde vergehen. Prüfend drückte er mit dem Zeigefinger auf die dunkelste Stelle. Dort hatte ihn Ravenna mit dem Kopf getroffen. Es tat noch weh, wenn er den Druck ein wenig erhöhte, aber es war definitiv aushaltbar.
Mit einem Mal begann das Bild im Spiegel vor seinen Augen zu verschwimmen.
Er blinzelte, doch es wurde nicht besser. Im Gegenteil.
Panisch wischte er mit dem Ärmel über das Glas, auch wenn er schon ahnte, dass es nicht das Geringste ändern würde.
Er wollte zu dem Hocker auf der anderen Seite des Zimmers laufen, doch seine Knie schienen sich von einem Moment auf den anderen in zähes Wachs verwandelt zu haben. Alles drehte sich.
Reflexartig griff er nach dem Waschbecken und stütze sich schwer atmend darauf ab.
Sein Herz raste.
Nicht schon wieder. Bitte nicht!
Tief einatmen.
Immer mit der Ruhe.
Vorsichtig ausatmen.
Bloß keine Panik. Es würde bestimmt gleich wieder vorbei sein.
Doch in seinen Ohren begannen bereits das erbarmungsloe Rauschen, das ihn manchmal bis in seine Träume verfolgte, und der altbekannte schwarze Nebel verdunkelte sein Blickfeld.
Sein Magen krampfte sich zusammen und er konnte nur mit Mühe verhinderten, dass er sich übergab.
Das Rauschen wurde zum ohrenbetäubenden Kreischen und dann war es mit einem Mal vollkommen Still.
Er spürte wie sein Herz gegen die Rippen schlug, seine Lungen sich unaufhörlich dehnten und wieder zusammenzogen, aber er hörte es nicht!
Alles war still und dunkel.
Er schluckte und versuchte erneut gegen die aufsteigende Übelkeit anzukämpfen. Sein Magen fühlte sich an wie ein großer, schwerer Stein.
Wenn er jetzt erbrach, würde es nicht mehr so schnell aufhören. Das wusste er aus Erfahrung.
Rabenklaue taumelte und krampfte seine Finger so fest er konnte, um die Umrandung des Waschbeckens. Die goldenen Kanten schnitten unangenehm ins Fleisch. Es war als sei mit einem Schlag alle Kraft aus seinem Körper gewichen.
Keuchend rang er um sein Gleichgewicht, bemüht nebenher ruhig und gleichmäßig weiterzuatmen.
Er spürte, wie das Blut in seinen Adern pochte, aber hören konnte er es nicht.
Er wankte. Seine Ellenbogen knickten ein und schlugen auf das marmorne Sims des Waschbeckens. Am Rande seines Bewusstseins flammte dumpfer Schmerz auf.
Angestrengt versuchte er nicht seitlich wegzukippen und verlagerte so viel Gewicht wie möglich auf das Waschbecken, das er nach wie vor fest umklammert hielt.
Seine Beine, würden ihn nicht tragen.
Eine neue Welle der Übelkeit spülte über ihn hinweg.
Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach und seine Arme zu zittern begannen. Ihm war so schwindelig.
Er biss die Zähne zusammen.
Nur. Nicht. Aufgeben.
Er durfte nicht fallen. Um keinen Preis. Der Arzt hatte gesagt, unkontrolliert zu stürzen, wäre eines der schlimmsten Dinge, die er in solch einer Situation tun könnte. Wenn er bewusstlos würde und an seinem eigenen Mageninhalt erstickte...
Er schluckte und versuchte sich auf seine Atmung zu konzentrieren. Das war im Zweifel nie verkehrt.
Zitternd atmete er ein und wieder aus. Er musste bei Bewusstsein bleiben! Bloß keine Panik.
Ein- und ausatmen.
Ein- und aus.
Alles drehte sich.
Nach einer gefühlten Ewigkeit lichtete sich der Nebel ein wenig und sein eigenes, totenblasses Gesicht im Spiegel vor ihm nahm langsam wieder Konturen an.
Rabenklaue schluckte erneut, konnte aber nicht verhindern, dass sich Magen sein zusammenkrampfte. Er krümmte sich unwillkürlich und spie das gesamte Abendmahl in einem Schwall wieder aus.
Schwer atmend stütze er sich auf das zierliche Waschbecken, doch sein Magen hörte nicht auf zu rebellieren.
Er würgte erneut. Wieder und wieder. Irgendwann kam nur noch schwarze Galle. Er zitterte. Kalter Schweiß rann seinen Rücken hinab und das einzige, was er hörte, war das keuchende Geräusch seines Atems.
Erschöpft ließ er sich auf den Boden sinken. Es tat gut nicht mehr stehen zu müssen. Er lehnte seine Wange an die kalten Fliesen, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Nur eine kleine Weile...
Es war kalt und äußerst unbequem. Jeder Muskel in seinem Körper schien verspannt zu sein. Außerdem hatte er einen fürchterlichen Geschmack im Mund.
Rabenklaue blinzelte.
Grelles Neonlicht stach in seine Augen. Für einen Moment bestand die Welt nur aus verschwommenen, gleißend weißen Quadraten. Dann begann sich seine Sicht zu klären und die hellen Quadrate wurden zur gefließten Wand des Gästezimmers, hier in der Stadt des Löwen. Er lag auf dem Boden, neben dem Waschbecken.
Es klopfte.
Sein erster Instinkt war, diesen Idioten vor der Tür einfach zu ignorieren.
Er war jetzt nicht in der Verfassung für ein Gespräch. Was auch immer man von ihm wollte, sie sollten sich gefälligst gedulden.
Es hämmerte erneut gegen die Tür.
Stöhnend kam er auf die Beine und streckte sich vorsichtig, um seine Muskeln zu lockern. Sein Kopf dröhnte. Das war neu.
Es sei denn es kam vom Alkohol gestern...
Er rieb sich den Nacken. Er hasste es auf dem Boden zu schlafen.
Im Waschbecken klebten noch Blut und eingetrocknete Galle von der Nacht. Die Wand und der Spiegel hatten ein paar Spritzer abbekommen, aber ansonsten schien alles in Ordnung zu sein. Keine Flecken auf dem Boden oder in irgendwelchen Fugen und Ritzen, aus denen man das Zeug nur schwer wieder herausbekam.
Der jemand vor der Türe meldete sich wieder. Nachdrücklicher diesmal.
Prüfend blickte Rabenklaue an sich herunter. Verdammt! Einige der dunklen Spritzer waren auf dem weißen Stoff seines Hemdes gelandet. Die Hose schien aber in Ordnung zu sein.
Ohne lange zu überlegen riss er sich das Hemd von Leib und hielt seinen Kopf unter den Wasserhahn.
Er strich die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht und warf sich ein Handtuch um die nackten Schultern.
Es sollte so aussehen, als hätte er gerade geduscht.
Es hämmerte schon wieder gegen die Tür, als er schließlich die Klinke hinunterdrückte. Seine Hand zitterte ein wenig.
"Was zum Kukuk fäll euch eigentlich ein mich um-" setzte er an, verstummte jedoch sofort, als er sah, wer dort vor der Türe auf ihn wartete.
"My Lord, bitte akzeptiert meine untertänigste Entschuldigung," murmelte der junge Arzt sichtlich eingeschüchtert. "Ich-"
"Schon gut," fuhr Rabenklaue ihn ungehalten an. "Spar dir dein dämliches Gesabbel und sag mir lieber was los ist."
Der Arzt starrte ihn nur aus großen Augen an.
"Wird's bald?" raunzte er.
"Wir... wir haben die Laborwerte," stammelte der Arzt unbeholfen und betrachtete augenscheinlich interessiert seine Finger.
Rabenklaue erstarrte.
Die Art wie der Arzt das gesagt hatte hinterließ ein ungutes Gefühl in ihm. Angespannt zupfte er das Handtuch zu recht und holte tief Luft. "Welche?"
"Beide."
"Und?" flüsterte er kaum hörbar mit rauer Stimme.
Sichtlich nervös blätterte der junge Arzt den dicken Papierstapel durch. Rabenklaue spürte, wie das Herz in seiner Brust immer schneller zu schlagen begann. Er schluckte. Er war sich nicht sicher, ob ihm gerade schon wieder leicht übel wurde, oder ob er sich das angesichts der Situation nur einbildete.
"Hier," ungelenk hielt ihm der Arzt eine kleine Auswahl der Papiere hin. Mit mulmigem Gefühl nahm Rabenklaue sie entgegen und überflog mit klopfendem Herzen die Zeilen. Mit den meisten Daten könnte er nur wenig anfangen. Sein Blick blieb am letzten Absatz hängen.
Dass eine Verwandtschaft väterlicherseits vorliegt, konnte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bestätigt werden...
Vermuteter Verwandschaftsgrad zweiten Grades mit einer Wahrscheinlichkeit von 95%.
"Heilige Scheiße," murmelte er kaum hörbar und dachte an ihre von dunklen Wimpern umrahmten, rehbraunen Augen. Sie hatte Recht behalten. Und er würde es ihr sagen müssen.
Rabenklaue spürte, wie seine Hand wieder leicht zu zittern begann.
Er schluckte hart und blätterte um.
Auf den folgenden Seiten ging es um ihn. Und während er las kam er sich mehr und mehr vor wie ein Schaf, das zum Richtbock geführt wurde.
Ursache unbekannt, ...
Sehr selten... kaum bekannte Fälle in dieser Ausprägung.
... möglicherweise genetisch bedingt.
Chancen auf erfolgreiche Behandlung eher gering eingeschätzt...
Die Buchstaben verschwammen zusehens vor seinen Augen, während ein großer eisiger Klumpen in seinen Eingeweiden wuchs.
Ohne fertig gelesen zu haben drückte er dem mit der Situation völlig überforderten Arzt die Papiere wieder in die Hand. "Wie ist-" seine Stimme drohte zu versagen, während sich die eisige Kälte langsam in seinem ganz Körper ausbreitete. Er räusperte sich. "Wie ist ... die Prognose?"
Der Arzt wich weiterhin beharrlich seinem Blick aus und knetete die Finger.
"Die Prognose," seine Stimme brach.
Sein Gegenüber holte tief Luft und sagte dann wie aus der Pistole geschossen: "Das können wir leider zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sicher voraussagen, euer Ehren. Dieses Leiden ist sehr selten und kaum erforscht."
Die Worte klangen leer, ein wenig wie auswendig gelernt und halbherzig aufgesagt.
"Und das heißt?"
"Wenn ihr mir erlaubt so frei zu sprechen?"
Rabenklaue spürte, wie aufgewühlt der junge Arzt war.
Ob er sich Sorgen um seine Tochter machte?
Er dachte Margret zurück. Als vor ein paar Monaten alles angefangen hatte, hatte er das kleine Mädchen gezwungen, eine winzige Kapsel zu schlucken. Er hatte gesagt, dass sie Sprengstoff enthielt und auf sein Geheiß jederzeit ausgelöst werden konnte, sollten die falschen Informationen an die Öffentlichkeit gelangen.
Dass die Kapsel in Wahrheit nichts weiter als ein wenig Steinstaub enthalten hatte, den er wenige Stunden zuvor von einer Wand gekratzt hatte, war bis heute sein Geheimnis.
Er versuchte dem jungen Arzt aufmunternd zu zunicken.
Der blickte ihn nach wie vor Bestätigung suchend an.
"Ich will die Wahrheit wissen," sagte er mit deutlich festerer Stimme. "Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit."
"Meine Tochter?"
"Die Wahrheit!" wiederholte er, deutlich aggressiver als beabsichtigt.
Eingeschüchtert trat der Arzt von einen Fuß auf den anderen, während er angestrengt zu Boden blickte. "Es sieht nicht gut aus MyLord. Gar nicht gut..."
"Wie lange?"
Für einen Moment herrschte Stille.
"Einige Monate noch. Vielleicht ein paar Jahre, wenn ihr Glück habt," sagte der Arzt mit leise und blickte für den Bruchteil einer Sekunde zu ihm auf, wie um sich zu vergewissern, dass er das Richtige gesagt hatte. "Wenn," er räusperte sich, "wenn ich jemanden mit Erfahrung frage, vielleicht-"
"Nein!" unterbrach ihn Rabenklaue scharf. "Das bleibt unter uns! Und jetzt geh und sorg dafür, dass niemand diese Unterlagen jemals wieder zu Gesicht bekommt."
Energisch wandte er sich um und ließ die Türe mit einem lauten Knall ins Schloss fallen. Für einige Sekunden hallte das Geräusch in ihm nach.
Wie betäubt ließ er sich an der Innenseite hinabsinken und vergrub den Kopf zwischen den Armen. Er fühlte sich leer. So als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen und er fiel und fiel und fiel.
Sie war seine Schwester. Oder Cousine. Und er hatte wie es aussah, den Großteil seines Lebens schon hinter sich...
Ungelenk fuhr er sich mit der Linken durch die Haare.
Irgendwie fühlte sich das alles so unwirklich an.
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