49. Kapitel - Brandmarken der Erinnerung


Und eines Tages, dämmert
auch in der tiefsten Nacht
der Morgen herauf,

Verlass dich drauf,
mein Kind,
verlass dich drauf.

Und selbst im Herz aus Eisen
brennt ein Funken Licht.
Doch auch wenn dich seine Dunkelheit ersticht,
bringt es nichts zu rennen,
denn was leuchten will -
muss brennen.
Und Finsteres tötet man mit Licht.

Leise summte er die Verse in Gedanken vor sich her, die seine Schwester früher immer so gerne gesungen hatte. Es war ein altes Volkslied aus seiner Heimat in den schneeverhangen Bergen hoch im Norden, das auch nach Jahrhunderten nichts von seinem Zauber verloren hatte. Es sang von Leben, Hoffnung und Widerstand.
Wenn man seinem Großvater Glauben schenken konnte, war es ursprünglich als Wiegenlied gedacht gewesen, bevor die Rebellen es für sich entdeckt hatten.
Akira schluckte bitter und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an.
Vor seinem inneren Auge sah er wieder den Karton mit dem Kopf seiner Schwester. Ihre kleinen dunklen Augen starrten ihn leblos an.
Zitternd atmete er ein.
Er durfte sich nicht ablenken lassen, sonst würde ihn ihn seine Wut und seine Trauer davontragen. Langsam hob er den Kopf. Sein Blick streifte den kalten Marmorboden auf dem er im Schneidersitz saß und wanderte schließlich die im schwachen Mondlicht metallen schimmernden Beine hoch. Sie gehörten zu einem der drei Kampfroboter, mit denen Wolfsbraue ihn hier einsperrte, seitdem er ihr heute Abend das Handgelenk gebrochen hatte. Sie war sauer gewesen, sehr sauer.
Er versuchte, sich ganz und gar auf seinen Atem zu fokussieren und Wolfsbraue und die Roboter so gut es ging aus seinen Gedanken zu vebannen. Er musste seine mentale Mitte finden. Konzentration und Selbstbeherrschung waren das A und O wenn er seine inneren Drachen besiegen wollte. Sein Drache war die Angst.
Aber er war fest entschlossen ihn zu überwinden. Er würde Wolfsbraue schon noch kriegen, wenn sich die nächste Gelegenheit ergab. Doch bis dahin hieß es geduldig zu warten.
Er versuchte, seine Gefühle und Gedanken loszulassen. Einfach nur atmen, den Körper spüren und sich für eine Weile ausklinken aus der realen Welt mitsamt ihrem Irrsinn. Er spürte wie sein Herzschlag sich langsam beruhigte.
Er sog die Luft tief in seine Lungen. Da war der charakteristische Geruch verstaubter alter Möbel, sein eigener beißender Schweiß und ganz leicht ein Hauch von Plastik, den die Kampfroboter zu verströmten. Er spürte, wie seine Nackenhaare sich bei diesem Gedanken aufstellten.
Er hatte gesehen, wozu sie in der Lage waren.
Damals als er mit seiner kleinen Schwester barfuß auf kalten Holzdielen gestanden war und durch die schmale Dachluke beobachtet hatte, was unten im Dorf geschah. Aufgeregt und nicht ahnend, dass dies ihr letzter gemeinsamer Moment sein würde. Es geschah nicht oft, dass Fremde eines der abgelegen Bergdörfer besuchten. Der karge, monatelang gefrorene Boden warf nichts ab, was für Händler von Interesse hätte sein können und die Berge selbst waren schon lange jeglicher Erze beraubt.
Noch während ihr Atem dabei war auf der von den Jahren trüb geworden Scheibe zu gefrieren, hatte sich eine aufgeregt gestikulierende Menschentraube um die handvoll Neuankömmlinge gebildet, die hoch erhobenen Hauptes in Richtung Marktplatz schritten.
Es waren zwei Männer und eine Frau. Auf jeden von ihnen kamen gut drei Kampfroboter. Die Frau stellte sich auf die rostige Metallscheibe, mit der der Dorfbrunnen abgedeckt wurde, wenn keiner Wasser schöpfte, und redete mit großer Geste auf die Dorfbewohner ein. Aber leider nicht laut genug als dass er sie hätte verstehen können. Dabei besaß er sehr feine Ohren. Eines der wenigen Dinge, die er den anderen Kindern voraus hatte.
Kurz hatte er erwogen, mit hinunter zu gehen, den Gedanken jedoch schnell wieder verworfen, als sich einer der Kampfroboter eine junge Frau schnappe, sie auf den Altar der Ahnen in der Mitte des Dorfplatzes legte und gewaltsam niederdrückte. Wie paralysiert sah er zu als sich aus seiner Brust zwei feine Ärmchen lösten, die jeweils in einer langen, feinen Nadel mündeten. Wenige Zentimeter vor ihrer Brust erstarrte er plötzlich.
Als die Frau verzweifelt strampelnd den Kopf drehte, erkannte er Mija. Sie hatte letzten Sommer geheiratet und vor kurzem ihr erstes Kind zur Welt gebracht.
Für eine Weile hatten sie beide stumm zugesehen während ihr Atem begann Eisblumen an der Scheibe zu bilden und die Welt draußen zunehmend in ein Gewirr aus buntem Nebel verwandelte. Vom Marktplatz hörten sie Mija schreien.
Erst später hatte er von den anderen erfahren, dass die Handlanger der Wolfskinder ursprünglich nach seinem Vater gefragt hatten. Aber als ihnen niemand sagen konnte, wo sich der größte der vier Rebellenführer versteckte, hatten sie Mija genommen und begonnen ihr vor aller Augen weh zu tun.
Fast glaubte er wieder Simas zarte Kinderstimme zu hören, während sie auf den Zehenspitzen balancierte und sich immer größer machte, um trotz der wachsenden Eisblumen alles mitzubekommen. Akira, was passiert da?
Er hätte ihr zu gerne erklärt, dass alles gut werden würde. Oder zumindest irgendetwas beruhigendes gesagt. Wenn er denn gekonnt hätte.
Stattdessen hatten sie sich nur tief in die Augen gesehen und er hatte versucht, all die unausgesprochenen Worte, die in seinem Kopf herum spukten, in diesen einen Blick zu legen. Aber Sima hatte nicht verstanden.
In Windeseile war sie das Reisigbündel hinabgeklettert, das sie sich ans Fenster geschoben hatte, und polternd die enge Treppe hinuntergestürmt, mit dem festen Vorsatz, den Fremden zu sagen, dass Mija eine gute Frau war und nichts schlimmes getan haben konnte.
Er war Sima nachgestürmt, hatte sie eingeholt, sich ihr in den Weg gestellt und versucht ihr deutlich zu machen, dass es draußen bei den Fremden gefählich war.
Sie hatte nicht verstanden und ihn lediglich verwirrt angesehen. Den Kopf schief gelegt, den Mund leicht offen. In Momenten wie diesem tat es ihm besonders weh, dass er nicht war, wie die anderen Kinder im Dorf. Vielleicht hätte er sie warnen können.
Er ballte bei der Erinnerung daran die Hände zur Faust.
Nur wenige Augenblicke später hatten die Fremden mit lautem Krachen die Haustür eingetreten.
Mijas Mann Koru hatte verraten, wo sich das Haus des Rebellenführers befand.
Dass dieser sich eigentlich so gut wie nie dort aufhielt und die meiste Zeit über lediglich seine beiden Kinder dort wohnten, hatte die Gesandten der Wolfskinder nicht wirklich interessiert.
An seiner Statt hatten sie Sima gefangen genommen und ihm aufgetragen, seinen Vater zu suchen und ihm auszurichten, dass man seine kleine Tochter nur dann unversehrt ziehen lassen würde, wenn er sich im Austausch für ihr Leben in die Hände der Wolfskinder begab.
Er war fast dreizehn Sommer alt gewesen, Sima fünf.

Er atmete aus. Langsam und kontrolliert.
Geduld war die erste Tugend eines Jägers.
Ausdauer die Zweite.
Voraussicht die dritte und Barmherzigkeit die vierte.
Über all dem stand jedoch der Fokus.
Denn erst ein Ziel machte einen Jäger zum Rebell.

Er musste nur noch herausfinden, welches Ziel er sich am besten setzte. Was er wusste, war jedoch, dass er Simas Tod nicht ungesühnt lassen würde.
Nachdenklich betrachtete er das Mondlicht, das silbern-bläulich durch das schmale Fenster fiel und einen hellen Streifen auf den harten Marmorboden malte. Sein Vater stand jetzt sicherlich unter dem selben Mond und schmiedete weit weg im Land der Wölfe mit den anderen Rebellen Pläne für den Umsturz des Systems.
Akira schluckte schwer, legte den Kopf in den Nacken und blickte sehnsüchtig zum schmalen Streifen Himmel hoch, den er durch das Fenster erahnen konnte. Der Mond selbst war vom Boden aus nicht zu sehen.
Er dachte an all die bitterkalten Nächte, die er auf der vergeblichen Suche nach seinem Vater im Freien verbracht hatte. Der hüfthohe Schnee, die beißende Kälte und das unheimliche, tanzende Licht am Himmel, das ganze Nächte in grün und rosa tauchte. Er war weit gewandert. Bis dorthin, wo der Wald so dicht stand, dass man nicht mehr als ein paar Schritt hindurchsehen konnte.
Ein leise scharrendes Geräusch ließ ihn zusammenfahren und ein breiter Streifen goldenen Lichts durchschnitt die Dunkelheit, gefolgt von dem unsteht klackernden Geräusch harter Schuhe auf kaltem Stein.
Er zwang sich ruhig zu bleiben und langsam und kontrolliert den Kopf in Richtung der Schritte zu drehen, während er sich innerlich für die Begegnung wappnete. Wolfsbraues stechend gelbe Augen taxierten ihn von oben herab während sie mit schwingenden Hüften auf ihn zuging. Um ihren Hals hatte sie einen breiten Schal geschlungen, der ihre Schultern unnatührlich breit erscheinen ließ.
Ihm wurde unwillkürlich bewusst, dass er die Beine so verschränkt hatte, dass er nicht ohne weiteres aufstehen konnte, sollte es nötig werden.
Heute Abend, nach der Championvorstellung war Wolfsbraue mit einem Mal völlig ausgerastet. Er hatte schon den ganzen Tag über gespürt, dass eine unsichtbare Anspannung in der Luft lag, die ihr die Luft zum Atmen zu nehmen schien.
Im Turm hatte hatte sie ihn dann plötzlich angeschrien. Er wusste nicht, worum es ihr genau gegangen war. Ihre Worte hatten wenig Sinn ergeben. Irgendetwas mit einem Baby und dass es nichts dafür konnte. Sie hatte ihm mehrfach gedroht, sich zu rächen.
Als sie ihn am Kragen gepackt hatte, war er in Panik geraten und hatte ihr das Handgelenk verdreht bis es brach. Er hatte sie auf den Boden gestoßen und war völlig kopflos die Treppe hinabgestürmt. Bis die Roboter ihn aufgehalten hatten.
Er spürte erneut einen Anflug von Panik in sich aufsteigen. Gepaart mit Wut und Verzweiflung, geboren aus der Gewissheit, dass er ihr völlig ausgeliefert war.
Ob Sima sich genauso gefühlt hatte?
Er atmete tief ein und versuchte mit der ausströmenden Luft, all die negativen Gefühle gehen zu lassen. Wenn er still genug hielt, würde sie ihm voraussichtlich nichts Ernsthaftes tun. Schließlich war er noch nützlich. Er war immerhin ein Champion. Ihr Champion.
Wieso sonst hätte sie ihn hier einsperren und bewachen lassen sollen?
Sie hätte ihn schließlich auch umbringen können.
So, wie seine Schwester.

Bemüht keine Regung zu zeigen starrte er in ihr schmales, blasses Gesicht. Mit zusamengekniffenen gelben Augen starrte sie zurück. Ihre Nasenflügel bebten als sie langsam vor ihm auf die Knie ging. "Wo ist dein Vater?"
Sie sprach langsam und es klang als presste sie jedes ihrer Worte mit mühsamer Beherrschung heraus.
Mit pochendem Herzen starrte er zurück.
Wolfsbraue holte aus und ein harter Schlag traf den Bereich knapp über seinem Schlüsselbein. Er wurde nach hinter geschleudert und landete unsanft auf dem Boden. Er wollte sich aufrichten, doch ihre schlanke, helle Hand legte sich auf seine Brust und drückte ihn entschlossen zurück.
"Wo versteckt sich dein Vater!"
Ein erneuter Schlag traf ihn. Diesmal gegen die kurzen Rippen. Schmerz durchzuckte seine Seite. Keuchend rang er um Atem.
Wolfsbraues Gewicht lastete schwer auf seinem Brustkorb. Er konnte ihre linke Hand deutlich auf die Gegend über seinem Herzen drücken spüren, während die Rechte erneut zum Schlag ausholte.
So wie Wolfsbraue über ihm kniete, wäre es ein Leichtes gewesen, ihre Hüfte mit beiden Beinen zu umklammern, zur Seite wegzudrücken und zu entkommen.
Hätte er die drei Kampfroboter nicht in ihrem Rücken gewusst, wäre er vermutlich erneut versucht gewesen erneut einen Fluchtversuch zu starten. Auch wenn er aller Voraussicht nach nicht viel weiter gekommen wärde als beim letzten Mal.
Flach atmend versuchte er seine Muskeln anzuspannen. Auf diese Weise konnte er seinen Körper bis zu einem gewissen Grad vor weiteren Schlägen schützen. Die beiden Rippen, die sie vorhin getroffen hatte, strahlten immernoch einen dumpfen Schmerz aus, der mit seinem Atem auf und ab ebbte.
"Was muss ich noch tun, damit du endlich deinen Vater verrätst, du widerlicher kleiner Bastard," zischte Wolfsbraue ihm ins Ohr. "Ich werde nicht zulassen, dass so etwas nochmals geschieht!"
Er presste die Kiefer fest aufeinander. Niemals würde er Wolfsbraue verraten, wo sich sein Vater befand. Er wusste es nicht einmal selbst.
Nachdem die Wolfskinder seine Schwester mitgenommen hatten, war er hinaus in die Wildnis gelaufen, um seinen Vater zu suchen. Er hatte mehrere Vermutungen gehabt, wohin er könnte, wenn er wieder einmal für Monate verschwand. Tagelang war er unterwegs gewesen, doch nirgends hatte er nennenswerte Spuren gefunden.
Als er eines Abends völlig erschöpft von einer weiteren erfolglosen Suche heimgekehert war, hatte ein zugeschneiter, in etwa kniehoher Karton vor der Haustüre gestanden. Etwas verwundet hatte er ihn mit hinein genommen, jedoch gleich darauf wieder abgestellt. Im Inneren hatte jemand das ganze Haus verwüstet.
Er schluckte hart und starrte grimmig in Wolfsbraues leuchtend gelbe Augen.
Am Tag der Wolfsnacht, als er von den Wölfen zum Champion bestimmt worden war, hatte er gesehen, wie die riesigen, grauen Tiere zwischen den Leuten umhergestrichen waren und ab und an an verschiedenen Füßen geschnüffelt hatten. Als einer von ihnen schließlich ein lautes Geheul ausstieß, nachdem er an seinem Schuh gerochen hatte, war ihm bewusst geworden, dass die Götter ihn nicht zufällig ausgewählt hatten.
Wenige Tage zuvor war erneut jemand in sein Haus eingeberochen und hatte wie damals alles verwüstet.
Gefehlt hatte nichts, abgesehen von seinem linken Hausschuh, der seit diesem Tag unauffindbar gewesen war.
Die Wolfskinder hatten seinen Vater nicht vergessen.
Genauso wenig wie er den mit Metall ausgekleideten Karton vergessen würde, in dem in einer Lache aus gefrohrenem Blut, der Kopf seiner Schwester gelegen hatte.
Er würde Wolfsbraue niemals verraten, wo sich sein Vater befand.
"Deinen Willen werde ich schon noch brechen," sagte sie leise. "Glaub mir, ich habe Erfahrung mit bockigen kleinen Kindern."
Ihre letzten Worte klangen seltsam erstickt. Für einen Augenblick schien sie durch ihn hindurchzublicken. Dann wandte sie sich ab und verließ zügigen Schrittes den Raum.
Als die Tür zuschlug umfing ihn erneut Dunkelheit.
Erleichterung durchstömte ihn und mit ihr ein ganzes Chaos an Gedanken.
Er hatte das Gefühl, dass es den Wolfskindern nicht wirklich um den Thron ging.
Ob sie seinen Kopf nach dem Wettlauf auch in einem Karton an seinen Vater zurück schicken würden?
Und würde sein Vater überhaupt darauf reagieren? Er hatte Sima schließlich auch nicht geholfen.
Eine erneute Schmerzwelle ging von seinen Rippen aus, als er reflexartig um Atem rang.
Er versuchte still zu halten, ruhig zu werden und den Schmerz fließen zu lassen.
Selbst wenn Wolfsbraue es tatsächlich schaffen sollte, seinen Willen zu berechen hatte er einen entscheidenden Vorteil auf seiner Seite.
Er konnte ihr nichts von seinem Vater erzählen.
Er war stumm.

***

Wolfsbraue lag im Bett und weinte. Sie hätte nicht die Beherrschung verlieren dürfen. Das schickte sich nicht für eine Herrscherin.
Sie zog die Decke enger umsich.
Eigentlich hatte sie gedacht, dass sie sich zumindest besser fühlen würde, jetzt wo ihre Wut über die Ungerechtigkeit der Welt herausgebrochen war.
Aber diese unendliche Leere, die sie stattdessen erfüllte, war beinahe noch schlimmer.
Fest drückte sie Gretel, das Lieblingkuscheltier ihres Sohnes, an die Brust und berührte mit den Lippen zärtlich das flauschige Fell der rotbraunen Giraffenmähne.
"Ich liebe dich," flüsterte sie mit rauer Stimme in die Stille hinein. "Wo auch immer du jetzt bist."
Vor wenigen Stunden hatte sie den Befehl herausgeschickt, alle Kinder der Bergdörfer im Norden öffentlich hinrichten zu lassen. Die Rebellen wurden immer unverschämter.
Doch der Tod ihres Sohnes würde nicht ungesühnt bleiben.

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