46. Kapitel - Frieden

Wendelin schreckte auf als der durchdringende Schlag großer Glocken dumpf durch das Gemäuer des Klosters der aufrechten Diener der Rabengöttin hallte.
Hastig klappte er das Abendblatt zu und schob es zwischen seine Hausaufgaben, die überall verstreut auf dem Schreibtisch herumfuhren. Irgendwie hatte er völlig die Zeit vergessen.
Er blickte sich in dem kleinen Zimmer um, das ihm und seinem Klassenkameraden Ilija als Arbeits- und Schlafraum diente. Abgesehen von einem hohen, aber schmalen Schrank, ihren Betten und zwei dazugehörigen Schreibtischen, war der Raum leer.
Erleichtert atmete Wendelin aus. Ilija hatte sich also doch nicht unbemerkt hereingeschlichen, wie er insgeheim befürchtet hatte.
Er fuhr sich mit der linken Hand durch die kurzen, braunen Locken und betrachtete nachdenklich die vollgekritzelten Blätter.
Eigentlich hätte er den Aufsatz über die Heilige Susanne längst fertig haben sollen.
Und Lernen wäre wohl auch ganz gut gewesen. Morgen war Rechtskunde, gleich nach dem Gottesdienst. Da wurde häufig abgefragt.
Er seufzte. Die Ausbildung zum Priester war wirklich nichts, was man nebenbei erledigte.
Vielleicht war das auch ganz gut so. Es sollte schließlich nicht jeder Idiot Unsinn über die Rabengöttin im Volk verbreiten oder Recht sprechen, wie es ihm gerade in den Kram passte. Die Priesterschaft musste sich schon penibel an das Gesetzeswerk der Rabenkinder halten.
Auch wenn das hieß, dass sie sich nicht eigenständig in weltliche Dinge einmischen sollten. Religion war schließlich nichts, womit man Politik machte.
Das galt gerade für Novizen wie ihn. Er durfte keinen engeren Kontakt zur Außenwelt pflegen, um sich ganz auf die heilige Lehre konzentrieren zu können. Wenn er ehrlich war, hätte er die Zeitschrift, die er sich heute Abend heimlich besorgt hatte, nicht einmal besitzen dürfen.
Aber die Neuigkeiten ließen ihm keine Ruhe.

Er massierte sich die Schläfe und blickte aus dem Fenster.
Ein letzter Hauch von Lila lag auf den grauen Wolken, die über den tristen Bergen am Horizont dahinzogen. Die akkurat in Form gestutzten Sträucher im Innenhof waren kaum mehr als blasse Silhouetten im schwindenden Sonnenlicht.

Vor wenigen Tagen erst war Wendelin dem alten König persönlich begegnet.
Wenn er die Augen schloss, sah er das dickliche lächelnde Gesicht noch vor sich. Fast so, als wäre er noch da.
Wendelin schüttelte melancholisch den Kopf. Der alten König.
Jetzt dachte er auch schon so.
Eben noch war er quietschlebendig auf seinem Thron gehockt und hatte sich die Anliegen der Priesterschaft angehört. Jetzt, kaum eine Woche später, war er tot.
Und alle Welt sprach nur vom alten König. Wenn überhaupt.
Seine Beerdigung, kaum mehr als eine Notiz am Rande.
Vergessen war sein Leben, seine Werke, seine Ziele. Alles, was zählte, war scheinbar das, was kommen würde. Rabenklaue. Möglicherweise. Oder einer der anderen.

War das immer so?
Dass sich die Menschen nur für die Zukunft interessierten und nicht für die Vergangenheit?
Und was war eigentlich mit der Gegenwart?

Er nahm einen Stift in die Hand und trommelte abwesend auf dem Tisch herum. Das Abendblatt lag noch immer gut versteckt zwischen seinen Notizen zum Regelwerk des Frank Lulle über das Leben eines göttingefälligen Priesters und wie die Thesen der Heiligen Susanne ihn inspiriert hatten.
Wobei ... wenn man genau darauf achtgab, konnte man erahnen, dass sich etwas darunter verbarg.
Nervös blickte er zur Tür.
Sein Zimmernachbar müsste jeden Augenblick hereingestürmt kommen. Das erste Abendgeläut war das unmissverständliche Signal, sich unverzüglich auf sein Zimmer zu begeben. Wenn die zweite Abendglocke erklang, hatte sich ein jeder auf seinem Zimmer zu befinden und es war an der Zeit, ein kurzes Nachtgebet zu sprechen, bevor man sich zu Bett begab. So war es Vorschrift. Priester sollten ruhen, wenn es Nacht war und rührig sein am Tage.
Kurz überlegte er, ob es nicht klüger wäre, die Zeitschrift unter seiner Matratze zu verstecken. Aber was, wenn Ilija genau in diesem Moment die Tür aufriss?
Wendelin blickte zu den zwei schmalen Pritschen, die sich kaum einen Schritt entfernt gegenüberstanden. Seine auf der Ostseite, Ilijas an der Westwand.
Sie wirkten kalt und leer. Die, seiner Meinung nach, viel zu dünne, schwarze Bettdecke mit dem silbernen Rabenlogo lag ordentlich gefaltet am Fußende.
Vielleicht wäre das ein ganz geschickter Ort. Die meiste Zeit wurde der Spalt zwischen Matratze und Lattenrost von der Decke verdeckt.
Andererseits war das Fußende am weitesten vom Schreibtisch entfernt und wenn Ilija ihn erwischte, bevor er wieder am Schreibtisch saß, würde er wirklich ein gute Erklärung dafür abliefern müssen, was genau er da machte.
Und Ilija fragte immer nach. Er gehörte nicht zu den Menschen, die Dinge einfach so hinnahmen.
Vielleicht könnte er behaupten, dass er versehentlich die Bettdecke hinuntergeschmissen hatte. Das würde zumindest erklären, warum er an seinem Bett herumfurwerkelte.
Andererseits konnte er förmlich Ilijas feixende Stimme hören: "Und wie genau hast du das jetzt schon wieder angestellt? Normalerweise läuft man ja nicht einfach so am Bett vorbei und schwupps liegt die Decke unten."
Aber selbst wenn er sich eine halbwegs passable Antwort zurechtlegte, würde das alles nichts bringen, wenn Ilija ihn erwischte, bevor er die Zeitschrift in Sicherheit gebracht hatte.
Vermutlich würde sein Zimmernachbar zwar den Priestern gegenüber die Klappe halten, aber was die anderen Novizen anging, war Wendelin sich nicht so sicher.
Und sollte ihn jemand tatsächlich verpetzen, hätte er ganz sicher ein Problem. Und zwar ein gewaltiges. Der Erhalt von Informationen, die nicht unmittelbar mit der Ausbildung zum Priester zu tun hatten, war bei Strafe verboten. Auch wenn es sich dabei um Nachrichten von den eigenen Eltern handelte.
Die Priester drückten zwar ab und an ein zwei Augen zu, aber wenn jemand so offensichtlich gegen die Regeln verstieß wie er mit dem Kauf der Zeitschrift, verstanden sie keinen Spaß mehr.

Andererseits ... sein Blick blieb am Regelwerk des Frank Lulle hängen. Nachdenklich nahm er es zur Hand und platzierte es vorsichtig über seinen Aufzeichnungen, zwischen denen das Abendblatt lag.
Er lehnte sich ein wenig zurück und betrachtete es prüfend.
Wenn man genau hinsah und hinterfragte, würde man vielleicht zu dem Entschluss gelangen, dass der Stapel mit seinen Hausaufgaben viel zu dick war, dafür, dass er nur ein paar Stunden daran gearbeitet hatte.
Aber wieso sollte Ilija sich so sehr für seine Hausaufgaben interessieren?

In diesem Moment hallten die Glocken erneut durch die langen, kalten Flure der altehrwürdigen Abtei.
Das hektische Patschen kleiner Füße auf hartem Stein und unterdrücktes Keuchen drang vom Gang zu ihm hinein. Mit einem dumpfen Platschen schlug etwas auf dem Boden auf. Eine helle Kinderstimme sagte ein paar aufgeregte Worte, aber zu leise als dass Wendelin sie hätte verstehen können.
Kurz darauf ertönte das Fußgetrappel erneut und entfernte sich zügig in Richtung der Kammern für die jüngsten unter den Novizen.
Vermutlich hatten sich einige der neuen in der Zeit vertan. Ihm war das in seinem ersten Jahr auch öfters passiert. Besonders, wenn er mit den anderen Jungs heimlich Unsinn getrieben hatte oder vor lauter Lernaufgaben kaum dazugekommen war, regelmäßig auf die Uhr zu schauen.
Das dunkle Knallen einer schweren Türe, die ins Schloss schlug, hallte durch den Flur.
Wendelin schüttelte lächelnd den Kopf. Unauffällig im Zimmer verschwinden sah definitiv anders aus. Aber mit den Neuen waren die Priester auch etwas nachsichtiger. Zumindest am Anfang.

Er atmete tief durch und blickte sich ein letztes Mal prüfend im Zimmer um.
Wenn einer der Priester seinen Kumpel jetzt noch draußen erwischte, würde das definitiv Ärger geben.
Langsam schob er den Stuhl zurück und stellte sich in den schmalen Gang zwischen den beiden Schreibtischen, die jeweils seitlich des Fensters standen.
In diesem Fall würde er das Abendgebet wohl alleine beginnen müssen.
Er faltete die Hände, den Blick starr auf die dunkle Silhouette eines Busches gerichtet, der im Innenhof stand.
Zum Beten blickte man am besten auf ein Stück Natur. So hatte die heilige Hilde einst gesprochen und an ihrem Vorbild sollte ein guter Priester sich orientieren. Das hatte schon Frank Lulle erkannt.
"Oh heilige Göttin, Herrin der Raben und Gebieterin des Schicksals, die du all unsere Leben in Händen hälst,
ich danke dir voll Demut für diesen Tag und bitte um ruhigen Schlaf für die kommende Nacht. Und segne auch alle jene, die nicht in der Lage sind, selbst darum zu bitten.
Ich -"
Er hielt inne und lauschte. War da eben ein Geräusch gewesen?
Konnte es sein, dass Ilija ...?
Kuck-Kuck.
Wendelin atmete langsam aus. Nur ein Vogel, der sich hierher verirrt hatte.
"Ich bitte um Verzeihung für all meine Sünden. Ich," er schluckte. Kuck-Kuck. "ich habe Nachrichten von außerhalb gelesen. Es ... tut mir ja leid und ... eigentlich will ich wirklich nicht unartig sein, aber ich muss einfach wissen, was draußen passiert.
Kannst du das verstehen?"
Kuck-Kuck.
Wendelin räusperte sich ein wenig verlegen und blickte sich suchend im Zimmer um, ohne wirklich zu wissen, wonach er überhaupt Ausschau hielt. Auch nach all den Jahren kam er sich immer noch ein wenig komisch vor, wenn er einfach so ins Nichts sprach.
Das war der Grund, weshalb er sich in aller Regel an die Standardworte hielt, wenn andere beim Beten anwesend waren.
Aber vielleicht war die Göttin ja nachsichtiger, wenn sie wusste, warum er besagte Verfehlungen begangen hatte.
Wendelin schluckte trocken und wisperte leise:
"Ich habe heimlich von Ilija die Hausaufgaben abgeschrieben. Weil ich sie selber nicht mehr geschafft hätte. Und wirklich verstanden habe ich sie auch nicht. Aber ich habe es versucht. Wirklich.
Und Tom hat dann auch von meinem Blatt abgeschrieben, weil der es auch nicht verstanden hat. Du weißt ja sicherlich, wie streng-"

Plong.

Wendelin zuckte überrascht zusammen.

War da eben eine Faust gegen die Fensterscheibe geschlagen?

Für einige Wimpernschläge blieb alles ruhig.
Mit klopfendem Herzen trat Wendelin näher und spähte in den Garten hinaus.
Keine zwei Meter unterhalb stand eine kleine, dunkle Gestalt auf dem Kies und starrte zu ihm empor.

Vorsichtig öffnete Wendelin das Fenster einen winzigen Spalt breit.
"Ilija?" murmelte er ungläubig in die beginnende Nacht hinein.

"Ja, wer denn sonst," kam es prompt zurück und obwohl es inzwischen zu dunkel war, um Einzelheiten zu erkennen, hätte Wendelin schwören können, dass Ilija ihn schelmisch angrinste. "Könntest du vielleicht etwas aus dem Weg gehen und das Fester gescheit aufmachen?"

"Warum?" fragte Wendelin skeptisch, erhielt aber keine Antwort.
Seufzend gab er dem Fenster einen Schubs und trat einige Schritte zurück.

Es knirschte leise. Dann schlug Ilija unsanft mit dem Brustkorb auf dem Fenstersims auf. "Verdammte Kacke," grummelte er und zog sich hoch. Für einige Herzschläge blieb er auf der Fensterbank sitzen und betastete seinen Oberkörper.

"Alles in Ordnung?" flüsterte Wendelin besorgt.

Statt einer Antwort rutschte Ilija ein Stückchen nach vorne und ließ sich zu Boden sinken. "Scheiße," keuchte er. "Warum bin ich auch so klein."

"Hast du dir weh getan?"

"Nein, ... glaube nicht." Er legte eine Hand auf seine rechte Seite, erhob sich langsam und schloss in leicht gekrümmter Haltung das Fenster. "Zumindest nicht ernsthaft."

Für eine Weile sahen sie sich schweigend an.
Wendelin sog scharf die Luft ein. Ilija roch wieder leicht nach Heu und Moder. Eine blonde Strähne hing ihm in die Stirn, aber im Gegensatz zu sonst, mache er keinerlei Anstalten, sie aus dem Gesicht zu pusten.

"Danke übrigens," Ilija legte Wendelin einen Arm um den Rücken und klopfte sanft auf seine Schulter. Die andere Hand hielt er nach wie vor an seine Seite gedrückt.

Wendelin blickte stumm aus dem Fenster. Ilijas gedankenverloren vor sich hinlächelnde Mine spiegelte sich in der Scheibe. "Was genau hast du dir eigentlich dabei gedacht?"

"Wobei?" fragte Ilija gedehnt.

"Dabei, einfach so über den Innenhof zu spazieren, obwohl die zweite Abendglocke längst geläutet hat?"
Sein Kamerad hatte wirklich schon oft genug Ärger von den Priestern bekommen. Und langsam begann dessen Image auch auf ihn abzufärben.
"Warum kannst du nicht einfach rechtzeitig zur Tür hereinkommen, wie alle anderen auch?
Dir ist schon bewusst, dass gerade die gesamte Priesterschaft in den Innenhof schaut."

"Wegen dem Abendgebet?" Ilija betrachtete kritisch Wendelins dunkles Profil vor dem immer violetter werdenden Himmel.
Ihre Blicke begegneten sich im Fenster.
Nach einer gefühlten Ewigkeit nickte Wendelin wie in Zeitlupe und starrte Ilija vorwurfsvoll an. "Weißt du eigentlich, was los ist wenn die Priester dich erwischen?
Oder wenn herauskommt, dass ich dir gerade geholfen habe?"

Ilija schürzte nachdenklich die Lippen. "Woher willst du eigentlich wissen, dass ich tatsächlich einmal quer über den Innenhof spaziert bin?"

"Ja, also, ... "

"Also, was?" Ilija zog langsam eine Augenbraue hoch. "Hast du es gesehen?"

"Äh ... nein," murmelte Wendelin etwas verwirrt.

"Eben," meinte Ilija mit der Ruhe eines alten Lehrmeisters. "Pass mit vorschnellen Urteilen auf."
Er zupfte nachdenklich an seiner Unterlippe herum. "Ich könnte schließlich genauso gut schon die ganze Zeit vor unserem Fenster gesessen und leise Kuck-Kuck gerufen haben." Er zuckte mit den Schultern. "Natürlich in der Hoffnung, dass du realisierst, wie untypisch es ist, dass sich solch ein Vogel hier in einem Innenhof voller zurechtgestutzter Buchsbäume und halb vertrocknetem Gras aufhält."

"Hast du?"

"Was?"

"Die ganze Zeit über vor dem Fenster gesessen?"

"Nein," Ilija schüttelte belustigt den Kopf. "Das nicht. Aber es hätte ja sein können."

"So oder so, wenn du schon unbedingt mit dem Kopf durch dir Wand musst, dann zieh mich nicht mit rein!" Aufgebracht schüttelte Wendelin Ilijas Arm ab, der noch immer auf seinem Rücken lag, wusste danach allerdings nicht so wirklich, was er nun tun sollte.
Mit verschränkten Armen starrte er aus dem Fenster, aber dieses Mal kam es ihm falsch vor. Dort draußen gab es nichts Interessantes, das man hätte beobachten können.

Die Stille zwischen ihnen zog sich.

Unschlüssig ließ Wendelin die Arme sinken und legte die Hände auf dem Fenstersims ab. Eigentlich hätte er sich gerne zu Ilija umgedreht, um zu sehen, ob ihm die Stille auch so zusetzte, aber sein Stolz verbot es.

"Jetzt mach dir nicht ins Hemd, okay?" murmelte Ilija ein wenig zerknirscht. Er legte seinen Arm erneut um Wendelin und deutete mit der anderen Hand in den Hof. "Ist dir schon mal aufgefallen, dass unser Zimmer das Eckzimmer ist? Auf der Westseite gibt es nur die Kleinen. Vom Portal der untergehenden Sonne bis hier haben mich also höchstens die Novizen in den Stufen unter uns sehen können."
Ilija gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter.
"Und die trauen sich bestimmt nicht, ältere Schüler zu verpetzen. Sofern sie mich überhaupt erkannt haben."

"Moment mal," wisperte Wendelin und dreht sich nun doch zu Ilija um. "Wo genau warst du eigentlich?
Beim Tor der untergehenden Sonne gibt es doch nichts."

Ilija zog eine Augenbraue hoch und schwieg. Das konnte er gut.

"Also du weißt schon, nichts Interessantes," murmelte Wendelin und ärgerte sich im gleichen Moment, dass er sich so leicht unterkriegen ließ.

"Ansichtssache," sagte Ilija gedehnt und blickte nach Westen, wo der letzte Hauch von Blau inzwischen einem dunklen Violett gewichen war.

Wendelin versuchte nun seinerseits eine Augenbraue hoch zu ziehen. Aber irgendwie war das gar nicht so einfach.

Ilija sah ihn an und stieß ein belustigtes Schnauben aus. "Du solltest vielleicht mal vor dem Spiegel üben."

Wendelin gab auf und verschränkte die Arme vor der Brust, bemüht die Oberhand im Gespräch zurückzugewinnen.
"Wo. Warst. Du?"

Ilija seufzte, starrte wieder gen Westen und schwieg.
Gerade als er erneut nachhaken wollte, sagte Ilija leise: "Versprichst du, dass du mich nicht auslachst?"

Wendelin nickte steif. Ihm war gerade sowieso nicht nach Lachen zu Mute.

"Ich -" Ilija sog hörbar die Luft ein und musterte ihn aufmerksam, ehe er schnell fortfuhr: "Ich war auf dem Friedhof."

"Auf dem ... ?" fragte Wendelin ungläubig.

"Ja," murmelte Ilija leise und wich unbehaglich seinem Blick aus.
Mit einem Mal tat er Wendelin Leid.
Das hatte er nicht erwartet. Vielleicht waren die Gerüchte doch war und Ilija war vom angesehensten Kloster der Stadt verstoßen worden, weil ein privater Todesfall ihn so sehr mitgenommen hatte, dass er Ansprüchen dort nicht mehr genügen konnte.

"Hast du dort jemanden besucht?" fragte er vorsichtig.
Obwohl sie beide Freunde waren, wusste Wendelin nicht allzu viel über Ilija. Er war vor drei Jahren plötzlich in seiner Klasse aufgetaucht und quasi über Nacht in sein Zimmer einquartiert worden, das er bis dato für sich alleine gehabt hatte.
Er selbst war zwar nie wirklich unbeliebt gewesen, aber auch niemand von den Leuten, bei denen sich andere darum rissen, mit ihnen ein Zimmer teilen zu dürfen. Und da sein Jahrgang vor Ilijas Ankunft keine gerade Anzahl an Novizen gehabt hatte, war Wendelin an Ende alleine übrig geblieben.
Warum genau Ilija mitten im Jahr das Kloster gewechselt hatte, war bis heute ein Geheimnis.
Er selbst erzählte nicht viel von sich.
Umso mehr erstaunte es Wendelin, dass er jetzt bereit schien, ein paar ensthaftere Worte zu wechseln.

"Du meinst, ob ich jemand von den Toten besucht habe?"

Wendelin nickte ernst.

Ilija biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. "Ich bin dort, weil ich Frieden finden will." Langsam hob er den Kopf und sah Wendelin direkt in die Augen. Sein Gesicht hatte einen schwärmerischen Ausdruck, den Wendelin bisher nur sehr selten an ihm gesehen hatte. "Du hast vermutlich noch nie in einem Baum gesessen und dabei zugesehen, wie sich die Sonne in einem Feuerwerk aus Rot und Gold vom Tag verabschiedet und die tristen Berge am Horizont in zartes Lila taucht?" Ilija sprach sehr leise. Fast so, als wäre es ein Geheimnis.
"Wenn ihre goldenen Strahlen durch das Laub brechen, wie ein letzter warmer Gruß, bevor die Welt von der Nacht endgültig in sanfte Dunkelheit gehüllt wird, dann..." Ilija brach ab und bewegte seine freie Hand in einer unbestimmten Geste durch die Luft.
"Manchmal, da ist mir als würde die Natur in Momenten wie diesen für einen Augenblick den Atem anhalten."
Er stockte und schnitt eine Grimasse. "Das ... ist natürlich Irrsinn."
Ilija atmete geräuschvoll aus.
"Aber die Ruhe ist trotzdem da.
Und der Frieden.
Nirgends ist es so still, wie bei den Toten. Und doch ist alles voller Leben."

Abwartend blickte Ilija ihn aus seinen großen, haselnussbraunen Augen an. Wendelin jedoch schwieg. Unsicher, was er davon halten sollte.

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