43. Kapitel - Alte Bekannte
"Hübsch," murmelte Mark, um die unangenehme Stille zu durchbrechen. Und sei es auch nur für den Moment.
Zweifelnd musterte er das großzügige Himmelbett in der Mitte des fliederfarben gestrichenen Zimmers. Es war so breit, dass mühelos drei Leute hineingepasst hätten. Wenn nicht sogar vier.
Derzeit lag jedoch nur das sturzbetrunkene Freudenmädchen in den lila Kissen.
Gemeinsam mit Larissa hatte er sie hergebracht. Sie hieß Xantje. Zumindest hatte Larissa sie so genannt als Mark sie um Hilfe gebeten hatte. Ob das ihr wirklicher Name war oder nur ein Pseudonym, wusste er nicht.
Für viel mehr als das Bett und eine schmale Kommode bot der kleine Raum keinen Platz.
Dafür hatte man durch die großen Fenster im Westen einen guten Blick auf die Dächer der Stadt und die karge Landschaft die dahinter begann. Es hieß, dass dort früher einmal Wald gewachsen war. Inzwischen gab es jedoch nichts als Steine, Staub und einige zähe Sträucher.
Larissa zog die Decke zurecht, die Xantje mehr schlecht als recht über sich gelegt hatte.
"Könntest du bitte deine Schuhe ausziehen? Ich habe keinen Bock, dass mein Raum hinterher nach Kotze stinkt," sagte sie leise, ohne aufzusehen.
Als sie fertig war, hob sie langsam dem Kopf und musterte seine nur mäßig trockene Kleidung.
Mark machte sich innerlich schon darauf gefasst, dass sie ihn bitten würden auch das auszuziehen.
Tat sie aber nicht.
Stattdessen reichte sie ihm wortlos eine Handvoll Taschentücher, mit deren Hilfe er seine Füße säubern sollte.
Als seine nackten Sohlen das Parkett berührten, registrierte er überrascht, dass es sich ungewöhnlich warm anfühlte.
"Ist der Boden geheizt?"
"Das -" sie seufzte, "... das muss er. Wenn man ... also bei gewissen Dingen ... ist das von Vorteil."
Larissa atmete aus und ging zu der schmalen Kommode an der Wand. Dort öffnete sie eine der Schubladen und holte Feuerzeug und Zigaretten hervor.
"Du rauchst?" fragte Mark, ehe ihm bewusst wurde, dass diese Frage möglicherweise nicht unbedingt die klügste war.
"Ja," gab sie provokativ zurück. "Was dagegen?"
Er schwieg.
Xantje murmelte irgendetwas unverständliches in ihre Kissen.
Eigentlich hatte er sehr wohl etwas dagegen. Sowas war einfach nur dumm.
Aber er wollte Larissa nicht unnötig verärgern.
Immerhin hatte sie ihre Entscheidung, nicht mit ihm zu reden, noch einmal überdacht. Zumindest hoffte er das.
Larissa stellte sich ans Fenster und bließ grauweiße Rauchfäden über die Dächer der Stadt.
Von hier oben hatte man tatsächlich eine fantastische Aussicht.
Und niemand musste Angst vor ungebetenen Blicken haben, weil die umliegenden Häuser alle kleiner waren. Vielleicht war das der Grund, warum die Preise mit jedem Stockwerk höher wurden.
"Was genau willst du jetzt eigentlich von mir?" fragte Larissa.
Ihr Gesicht schien rötlich im Licht der sterbenden Sonne.
Dennoch wirkte sie ein wenig blass.
Vorhin, als er sie nur flüchtig betrachtet hatte, war ihm das gar nicht aufgefallen.
Dunkle Augenringe malten trotz Schminke gräuliche Schatten unter die bernsteinfarbenen Rehaugen mit den langen schwarzen Wimpern, die ziemlich sicher nicht echt waren.
Sie hatte augenscheinlich auch einen anstrengenden Tag gehabt.
So wie er.
Die Live-Übertragung der Championvorstellung hatte zwar für eine willkommene Arbeitspause gesorgt, aber hinterher hatte man sie nur noch mehr angetrieben, um den dadurch entstandenen Verlust auszugleichen.
Mark hatte das Gefühl jeden Muskel in seinem Körper zu spüren und sein Kopf dröhnte noch immer ein wenig vom Hämmern der Maschinen.
Sehnsüchtig schielte er zum Himmelbett hinüber, in dem Xantje nun seelenruhig schlief.
Die dicke Matratze sah so weich und bequem aus. Am liebsten hätte er sich auch einfach daraufgelegt und geschlafen bis zum nächsten Morgen.
Er seufzte.
Einschlafen und am nächsten Morgen frisch und ausgeruht erwachen, war ein Luxus, den er sich schon lange nicht mehr leisten konnte.
Ebenso wie er die Illusion hatte aufgeben müssen, dass alles wieder gut sein würde, wenn er erwachte. Probleme lösten sich in aller Regel nicht einfach in Luft auf, wenn man sie ignorierte.
Eher im Gegenteil.
Wenn er das wieder glattbügeln wollte, was das Schicksal verbockt hatte, dann musste er sich schon selbst ins Zeug legen.
Er hatte immerhin eine Mission zu erfüllen.
Entschlossen straffe Mark die Schultern. "Ich möchte, dass du mir dabei hilfst ins Farmerviertel zu gelangen. Möglichst vor acht Uhr. Leonardo meinte, das würde für dich kein Problem -" er unterbrach sich schnell, als er sah, wie Larissa sich bei Erwähnung ihres Bruders abrupt umdrehte und ihn misstrauisch musterte.
"Wieso willst du ins Farmerviertel?"
"Ich will Mia helfen," sagte er.
Larissa schnaubte durch die Nase und wandte sich wieder dem Fenster zu. "Wie willst du das anstellen? Deine Schwester ist jetzt bei den Rabenkindern. Besser du findest dich damit ab."
Die Art, wie sie von Mia sprach versetzte ihm einen Stich.
Larissa nahm einen tiefen Zug, hustete graue Schwaden in den Abend und wedelte anschließend mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. Die vom Rauch gereizten Augen tränten leicht.
"Außerdem verstehe ich nicht, wieso du deshalb ins Farmerviertel musst," sagte sie mit kratziger Stimme.
"Das hat dich nichts anzugehen," murmelte er und verschränkte die Arme vor der Brust.
Eigentlich war es war es angenehm warm hier drinnen, doch der Wind, der durch das offene Fenster hereinwehte, ließ ihn in seinen feuchten Kleidern unangenehm frösteln.
Eigentlich hatte er ja auch selbst keine Ahnung, warum Zaarah ihn ins Farmerviertel schickte. Hoffentlich funktionierte ihr wie auch immer gearteter Plan, Mia aus den Klauen der Rabenkinder zu befreien.
Larissa warf ihm über die Schulter einen vorwurfsvollen Blick zu. "War klar."
"Was?"
"Na, dass du nicht darüber nachdenkst, was das für mich bedeutet. Ihr Männer seid doch eh alle gleich. Immerzu geht es nur um euch. Glaubst du etwa, es ist einfach jemanden illegal in ein Stadtviertel zu schmuggeln?
Wenn ich das Risiko eingehen soll, dann wüsste ich gerne wofür."
"Na, für meine Schwester und mich."
"Das habe ich schon verstanden. Aber ich bin nicht gewillt nur für eine Wunschvorstellung von einem alten Bekannten, mit dem ich schon seit Ewigkeiten nichts mehr zu tun habe, ein solches Opfer zu bringen."
"Welches Opfer?"
"Tzz," sie blickte ihn prüfend an und schüttelte anschließend den Kopf. "Du lebst echt hinterm Mond. Wie stellst du dir denn das vor? Ich schwinge meinen Zauberstab und schwupp die wupp stehst du im Farmerviertel?"
"Ähm..." machte Mark langgezogen.
"Siehst du," sagte Larissa vorwurfsvoll, "du hast noch nicht mal drüber nachgedacht."
Sie nahm einen letzten Zug und schnippte den Zigarettenstummel in die Tiefe.
Mark verzog das Gesicht.
Kein Wunder, dass die Straßen hier nie wirklich sauber waren. Und dann beschwerten sich alle darüber, dass die Rabenkinder es nicht geregelt bekamen, in den äußeren Stadtvierteln eine zuverlässige Müllentsorgung auf die Beine zu stellen.
Larissa kam langsam auf Mark zu, baute sich vor ihm auf und stipfte ihren Zeigefinger in seine Brust, so wie seine Mutter es früher getan hatte, wenn sie ihm einbläuen wollte, sich nächstes Mal an die Regeln zu halten.
"Falls ich dich ins Farmerviertel begleite, dann bedeutet das für mich genau drei Dinge," zischte sie. "Erstens, ich kann mich in dieser Zeit nicht um die Bedürfnisse unserer Kunden kümmern. Das heißt, ich verdiene nichts.
Und du weißt, dass ich viele Geschwister habe."
Er nickte wenig beeindruckt. "Du hast auch einen Bruder, dem man nachsagt, nicht unbedingt schlecht mit krummen Geschäften zu verdienen."
"Ja," sagte Larissa eisig und funkelte ihn an, "Aber glaubst du es interessiert ihn sonderlich, was aus mir wird, seit ich mit ihm und seiner Bande gebrochen habe?
Meine Mutter ist inzwischen viel zu alt, um hier zu arbeiten. Die Zwillinge sind noch zu klein, um ernsthaft Geld zu verdienen und Cara hat genug damit zu tun sich und ihren Sohn über Wasser zu halten. Und Rick," sie seufzte, "er konnte dem Angebot von Leonardo nicht widerstehen, seine rechte Hand in der Gang zu werden. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört. Aber ich finde es ist pervers, schon Zwölfjährige, so für seine Zwecke einzuspannen. Vor allem, wenn es der eigene Bruder ist."
Mark senkte den Blick und schluckte.
Früher hatten sich Leonardo und Larissa einmal sehr nahegestanden. Soweit er wusste, war sie einst seine rechte Hand in der Gang gewesen. Irgendetwas musste zwischen den Beiden vorgefallen sein.
So oder so, er würde Mia nicht so im Stich lassen wie Leonardo es angeblich mit seiner Familie getan hatte.
"Zweitens, kann ich, wie gesagt, nicht einfach so ins Farmerviertel hereinspazieren. Ich habe zwar gewisse Möglichkeiten, aber sonderlich toll, sind die für mich alle nicht.
Im Wesentlichen läuft es immer darauf hinaus, dass ich den Security-Leuten gewisse Gefälligkeiten erweise und die im Gegenzug ein, zwei Augen zudrücken.
Und ich denke, du weißt, um welche Sorte Gefälligkeit es sich dabei handelt."
Sie tippte klackend mit der Fußspitze auf den Boden.
Ihre Füße steckten in zierlichen, roten High-heels, die nicht gerade bequem aussahen.
"Könntest du mich bitte anschauen, während ich mit dir rede?"
Mark hob langsam den Kopf und blickte sie trotzig an.
Irgendwo konnte er sie ja verstehen. Aber das war noch lange kein Grund Mia deshalb dermaßen im Stich zu lassen.
Eine Weile maßen sie sich stumm mit Blicken.
"Drittens," sagte sie schließlich scharf, "werde ich gefeuert, wenn der Chef mitkriegt, dass ich auch nur das kleinste Bisschen mit zwielichtigen Geschäften zu tun haben könnte. Ich wäre deshalb schon einmal fast rausgeflogen. Hätte ich zu der Zeit nicht gewisse Beziehungen zu einem Herrn aus dem Geschlecht der Rabenkinder gehabt, wäre das Übel ausgegangen."
"Duuu? ... hascht ... schoon mal ..." lallte Xantje und brach daraufhin in unkontrolliertes Glucksen aus.
Anscheinend war sie betrunkener, als Mark zuerst angenommenen hatte.
Wie viel hatte sie von seinem Gespräch mit Larissa mitbekommen?
Hatte sie am Ende gar nicht geschlafen?
Aber selbst wenn, würde sie sich morgen überhaupt noch daran erinnern?
Larissa ging zu Xantje und murmelte ihr sanft einige Worte ins Ohr, die Mark nicht verstehen konnte. Daraufhin sank Xantje lächelnd in die Kissen zurück und starrte verzückt an die Decke. Nach einer gefühlten Ewigkeit schloss sie langsam die Augen.
Für einige Herzschläge lang betrachten beide das schlafende Mädchen.
"Du wirst also nicht mit mir ins Farmerviertel gehen?" flüsterte Mark resigniert. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen. Das kleine Päckchen mit dem weißen Pulver knisterte leise.
Dann würde er es also allein versuchen müssen.
"Das habe ich so nicht gesagt." Larissa lächelte ihn entschuldigend an. "Ich meinte lediglich, dass ich nicht ganz einsehe, dass ich all die Unannehmlichkeiten auf mich nehmen soll, nur um dich ins Farmerviertel zu bringen, damit du dort einer längst verlorenen Sache nachjagen kannst. Aber wenn etwas mehr als eine Gefälligkeit dabei für mich herausspringen sollte, würde ich mir die ganze Sache vielleicht noch einmal überlegen."
"Ist das hier genug?" fragte Mark und zog einem inneren Impuls folgend das kleine Päckchen aus seiner Tasche.
Larissas Augen weiteten sich kurz, nur, um sich danach zu schmalen Schlitzen zu verengen. "Wo hast du das her?"
"Leonardo hat es mir gegeben. Ich sollte es für ihn ins Farmerviertel schmuggeln. Sozusagen als Austausch dafür, dass er mich dort hinbringt."
"Dass er dich dort hin bringt?" sagte Larissa verächtlich. "Sieht ihm mal wieder ähnlich."
Sie nahm ihm das Päckchen aus der Hand und musterte es prüfend.
"Wenn es ist, was ich denke, dann könnte ich es in der Tat gut gebrauchen. Dir sollte nur bewusst sein, dass Leonardo es nicht gerne sieht, wenn man ihn betrügt."
Mark blickte unschlüssig aus dem Fenster.
Als könnte er dort eine Antwort finden.
Über den von Baggern zerklüfteten, grauen Bergen am Horizont war gerade noch ein winziger Streifen der rotglühenden Sonne zu sehen.
Nur die höchsten Dächer glänzten noch golden im letzten Abendlicht.
Es hatte etwas sehr majestätisches an sich, wie sie hoch über den mittlerweile finsteren Gassen thronten. Ein Hauch von Ewigkeit schien sie zu umspielen.
Und doch war es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Dunkelheit auch über sie senken würde.
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