4. Kapitel
Das rhythmische Quatschen unserer Stiefel, begleitete mich den ganzen Heimweg über.
Plitsch-Platsch, Plitsch-Platsch, Plitsch-Platsch.
Eine zerlumpte Frau zerrte ihr Kind in die Wohnung, ein alter Herr hockte am Straßenrand und wartete auf Almosen und irgendwo in einem Hinterhof kreischten Hähne um die Wette. Ich hatte keinen Blick dafür.
Obwohl ich es besser wusste, konnte ich das Gefühl, dass das alles nur ein böser Traum war und meine Mutter mich jeden Moment aus dem Schlaf reißen würde, nicht vollends abschütteln. Wie betäubt wandelte ich durch die dreckigen Straßen. Das alles kam mir so unwirklich vor.
Kennt ihr das Gefühl, wenn ihr zwar wisst was vorgefallen ist, es aber noch nicht wirklich realisiert habt? Wenn ja, dann wisst ihr ziemlich genau wie es mir in diesem Moment ging. Ich dümpelte irgendwo zwischen Wissen und Erkenntnis dahin und fürchtete mich vor dem Moment indem es Klick machen würde.
Fürchtete den Moment indem ich vollendens realisieren würde, dass Morgen schon einer aus unserer Mitte gerissen werden würde.
Es könnte theoretisch jeder grob zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig sein;
der verdreckte Junge von nebenan, die garstige kleine Achtklässlerin, die ständig ihre Mitschüler tyrannisierte, jemand aus meiner Klasse, mein großer Bruder Mark-Marvolo, vielleicht sogar Zaarah - oder ich?
Der Gedanke verursachte mir einen Kloß im Hals.
Plitsch-Platsch, Plitsch-Platsch, Plitsch-Platsch.
Zaarah ging schweigend neben mir her. Sie war ganz in ihre eigenen Grübeleien versunken. Was ihr wohl so durch den Kopf ging?
Okay, dumme Frage. Ich glaube es braucht nicht sonderlich viel Fantasie, um sich das auszumalen.
Plitsch-Platsch, Plitsch-Platsch, Plitsch-Platsch.
Inzwischen hatten wir die Seitengasse erreicht, in die Zaarah abbiegen musste. Statt dem üblichen "Tschüss, bis Morgen" sah sie mich nur aus großen, feuchten Augen an.
Dieser Blick sagte mehr als tausend Worte. Spiegelte ihre Innerstes wieder.
In diesem Moment wurde mir bewusst, dass Zaarah im Gegensatz zu mir, sehr wohl realisiert hatte welch weitreichende Konsequenzen der Rabenflug für uns haben könnte, oder auch nicht. Und sie hatte Angst, schreckliche Angst, so viel ist klar.
Ich hätte ihr gerne etwas Tröstendes gesagt, aber was?
Alles wird gut?
Es wird schon niemanden treffen den wir kennen?
Was ich auch gesagt hätte, es hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Und so sah ich nur stumm und hilflos zurück.
Ich zögerte vor unserer Haustür, traute mich nicht sie zu öffnen. Mir graute vor dem Moment in dem ich meiner Mutter würde erzählen müssen, was uns erwartete.
Ich hasse es schlechte Nachrichten zu überbringen.
Und so zog ich mir erst langsam die Stiefel aus, strich über meine Schuluniform, in dem vergeblichen Versuch sie doch noch von dem Deck zu reinigen.
Übrigens, ich war gemeinsam mit Zaarah zu dem Entschluss gekommen, dass es besser war unseren Eltern nichts von dem Zusammentreffen mit dem Adelssohn zu erzählen. Wir hatten ohnehin schon genug andere Sorgen.
Den Rabenflug zum Beispiel.
Ich holte tief Luft und trat ein.
Meine Mutter war gerade vollauf damit beschäftigt ein halbes Dutzend quirlige Kinder im Zaum zu halten. Ich öffnete meinen Mund, um ihr vom Tod des Königs zu erzählen, aber sie kam mir zuvor:
"Da bist du ja endlich", sagte sie. Dann entdeckte sie den Dreck auf meiner Schuluniform.
"Mia-Maria, was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?"
"Nichts, ich... äh,... bin gestolpert und in eine Pfütze gefallen," sagte ich schnell.
Halb erwartete ich, dass sie ausrasten würde, aber sie sagte nur:
"Könntest du vielleicht auf die Bande hier aufpassen, während ich mich um das Abendessen kümmere?"
Ohne meine Antwort abzuwarten stand sie auf und ging in die Küche. Oder besser gesagt, in die Ecke des Zimmers die zum Kochen diente. Eine wirkliche Küche hatten wir nicht. Dazu war unsere Behausung viel zu klein. Dennoch wirkte es, als wäre meine Mutter in einen anderen Raum getreten. Sie wandte mir den Rücken zu und schnibbelte, ganz in ihre Welt versunken, die Kartoffeln für das Abendessen. Dabei würdigte sie mich und die krakeelende Kinderschar keines Blickes.
Irgendwie war das nicht der richtige Moment für ein ernsthaftes Gespräch. Ich beschloss, das Ganze noch ein wenig aufzuschieben.
Doch der richtige Moment wollte einfach nicht kommen und je länger man etwas hinauszögert desto schlimmer er wird es.
Das Kreischen der Kinder riss mich aus meinen Gedanken. Zwei von ihnen hatten es irgendwie geschafft, sich in wilder Rauferei ganze Haarbüschel auszureißen. Ich hatte alle Mühe die beiden Raufbolde wieder auseinander zu kriegen und verfluche stumm die Tatsache, dass meine Mutter keine andere Arbeit gefunden hatte.
In der Näherei hatte man sie nicht haben wollen, weil ihre Augen in der Nähe nicht richtig funktionierten, die Adeligen wollten sie nicht als Dienerin, weil sie nicht hübsch genug war und um in einem der Bordelle zu arbeiten war sie viel zu anständig. Sogar in der Fabrik, in der auch mein Vater und mein großer Bruder arbeiteten, hatte sie es versucht. Doch auch dort hatte man meine Mutter abgewiesen, weil sie als Frau zu schwächlich für die harte Arbeit war.
Deshalb hütete sie jetzt die Kinder anderer Leute. Kinder von Eltern, die den ganzen Tag arbeiteten und selbst keine Zeit dazu hatten auf ihren Nachwuchs auf zu passen.
Eigentlich hätte ich meiner Mutter dankbar dafür sein sollen, anstatt die ganze Zeit nur über diese nervtötende Arbeit zu meckern. Denn das wenige Geld, das sie mit diesem Job verdiente, reichte gerade so, um meine Schulausbildung zu finanzieren.
Ansonsten müsste ich wohl den ganzen Tag in der Näherei schuften. Kotz Würg!
Bei uns in der Rabenstadt gibt es nämlich folgende Regelung:
Bis zu ihrem zwölften Lebensjahr sind alle Kinder dazu verpflichtet die kostenlose Allgemeinschule zu besuchen. Danach muss man schon einen ordentlichen Batzen Geld bezahlen, eine Schluniform und massenweise Hefte und Bücher kaufen, um das Privileg zu erhalten die höhere Schule besuchen zu dürfen.
Aus diesem Grund schuften die meisten Kinder aus meiner alten Klasse inzwischen von morgens bis abends in Fabrik und Näherei. Ich hingegen zähle zu den wenigen glücklichen Arbeiterkindern, die noch zur Schule gehen dürfen. Diesen Umstand habe ich einem Jungen aus meiner Nachbarschaft zu verdanken. Er hatte die höhere Schule mit Bravour bestanden und anschließend als erfolgreicher Anwalt sehr viel Geld verdient. So viel, dass seine Familie jetzt nicht mehr bei uns in der Armensiedlung, sondern in dem kleinen, schicken Reichenviertel nahe der Stadtmitte lebte. Seither waren meine Eltern der Ansicht, dass es von Vorteil war, ein Kind in der Schule zu haben. Eigentlich hatten sie meinen älteren Bruder schicken wollen, aber da ich das einzige ihrer Kinder war, das nicht die schlechten Augen meiner Mutter geerbt hatte, war das Los stattdessen auf mich gefallen.
Ich sollte meine Familie aus der Armut befreien. Ich sollte ihre Brücke in ein besseres Leben werden. Auf mir ruhten all ihre Hoffnungen. Und ich hatte mir geschworen sie nicht zu enttäuschen.
Nur, dass sich solche Pläne immer deutlich einfacher anhören als sie sind.
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