39. Kapitel - Einverstanden?

Rabenklaue stand schweigend vor dem großen Spiegel und starrte abwesend hinein.
Das ging jetzt schon eine ganze Weile so.
Ich warf ihm einen genervten Seitenblick zu und schüttelte ein paar Haarsträhnen ins Waschbecken. Diese scheiß Verschlüsse waren echt hartnäckig.
Welcher Idiot war eigentlich auf die Idee gekommen, eine Maske mit Schraubverschlüssen auszustatten?
Und ja, bevor irgendwer fragt, ich hatte meinen kleinen Streik inzwischen aufgegeben. Es war dumm zu denken, dass es irgendwem außer mir selbst schaden würde, wenn ich einfach dastand und tat was ich am besten konnte. Nämlich nichts.
Solche Aktionen sind von vorne hinein zum Scheitern verurteilt.

"Ich dachte, du wolltest möglichst schnell wieder von hier verschwinden?" versetzte ich schnippisch nachdem Rabenklaue, auch zwei geöffnete Verschlüsse später, noch immer keinerlei Anstalten machte, seine eigene Maske weiter abzunehmen.
Keine Reaktion.
Gut, dann eben nicht, dachte ich und warf meinem Spiegelbild einen verächtlichen Blick zu. Ich sah aus wie eine Vogelscheuche.
Überall standen Haare in den unmöglichsten Winkeln vom Kopf ab. Dabei hatte ich noch nicht einmal die Hälfte aller Verschlüsse aufbekommen.
Wenn ich das hinterher nicht wieder in Ordnung brachte, würde mich die Rabenmutter killen. Aber so was von sicher.

"Du erinnerst dich nicht zufällig an Wolfsbraues Outfit während der Championvorstellung?" fragte Rabenklaue unvermittelt.
Erstaunt wandte ich mich um und registrierte, dass auch seine Haare wild nach allen Seiten abstanden. Aber im Gegensatz zu mir, sah es bei ihm auf eine verwegene Art und Weise gut aus. Seine dunklen Augen blickten mich erwartungsvoll an.
"Du meinst die Anwärterin aus der Stadt des Wolfes?"
Er nickte.
"Darf ich dich daran erinnern, dass ich bei der Championvorstellung die ganze Zeit unter dir in der scheiß zugigen Kammer stand und darauf gewartet habe, mich von diesem bescheuerten Turm stützen zu dürfen?
Also nein, ich habe keine Ahnung, was die Wolfsanwärterin bei der offiziellen Championvorstellung für Fummel anhatte," erwiderte ich, ein wenig gereizter als beabsichtigt. "Wieso willst du das überhaupt wissen?"
"Das hat dich nichts anzugehen," sagte er barsch und versank in grüblerisches Schweigen.

"Fandest du Wolfsbraues Haltung vorhin auch so seltsam?" setzte er wenig später erneut an und kaute abwesend auf seiner Unterlippe.
Ich verdrehte genervt die Augen. "Wann vorhin?"
"Na bei der Afterparty. Du kannst dich nicht zufällig daran erinnern, dass sie ihren linken Arm nennenswert bewegt hätte?"
"Keine Ahnung, da habe ich nicht so drauf geachtet," murmelte ich abweisend, in der Hoffnung die Diskussion sei damit erledigt und versuchte den Verschluss in meinen Haaren wiederzufinden, den ich vorhin halb geöffnet hatte.
Rabenklaue schnaubte missbilligend. "Hast du heute überhaupt auf irgendetwas geachtet?"
"Noch einmal für dich zum Mitschreiben: Bei der Championvorstellung hatte ich keine Gelegenheit auf irgendetwas zu achten, weil ich, wie gesagt, in dieser beschissenen Kammer stand, und hinterher, im Palast, hat mir die Rabenmutter höchstpersönlich strikte Anweisung erteilt, mich schön abseits in eine Ecke zu stellen. Damit mich auch ja keiner wahrnimmt. Von daher sollte es dich auch nicht sonderlich wundern, dass ich Wolfsbraue heute gar nicht gesehen habe.
Also abgesehen von den paar Minuten als wir einander vorgestellt wurden."

Ich versuchte das Bild der hochgewachsenen, eleganten Frau vor meinem inneren Auge auferstehen zu lassen. Doch das Einzige, was sich wirklich in mein Gehirn eingebrannt hatte, waren die großen, unnatürlich gelben Augen, aus denen sie mich für einige Augenblicke unverwandt angestarrt hatte, ehe sie beschloss ihre Aufmerksamkeit doch lieber der Rabenmutter und natürlich Rabenklaue zuzuwenden.
Augen, wie kein Mensch sie hätte haben sollen. Wolfsaugen.
Ich schauderte unwillkürlich.
"Über die Kleidung, die sie da anhatte, kann ich dir nicht sonderlich viel sagen. Da habe ich nicht wirklich drauf geach-... also ich meine, ich war anderweitig beschäftigt.
Aber ich glaube, dass sie ziemlich hohe Stöckelschuhe anhatte. So wirklich sicher bin ich mir aber nicht.
Jedenfalls hat es, glaube ich, ziemlich geklackert, als sie mit ihrer Begleitung auf uns zukam. Und sie hat schon definitiv auf mich runtergeschaut. Aber Asiaten sind ja eigentlich im Schnitt nicht so groß, oder?
Und dann hatte sie so einen riesigen, beigen Schal, der ewig oft um ihren Hals geschlungen war und der dann auf einer Seite bis fast zum Boden runterhing oder so. Also, glaube ich. "
Ich überlegte einen Moment und widerstand der Versuchung nachdenklich die Stirn zu runzeln. "War Wolfsbraue nicht auch die mit den großen Diamantohrringen?
Und was den Arm angeht, hat sie nicht irgendwann Trauben gegessen?
Oder war das jemand anders?"

Rabenklaue seufzte und schüttelte missbilligend den Kopf.
"Die Qualität deines Erinnerungsvermögens erschlägt mich ja geradezu," murmelte er sarkastisch. "Die Frau mit den Trauben war ihre Schwester.
Mein Problem mit Wolfsbraue ist übrigens auch nicht die Hand, in der sie ihr Sektglas gehalten hat, sondern der andere Arm. Der, der völlig unter den Stoffbahnen ihrer Stola verschwunden ist."
Er blickte mich durchdringend an und fügte mit leicht arrogantem Tonfall hinzu: "Wenn wir schon einmal gerade dabei sind, der riesige, beige Schal nennt sich im Fachjargon übrigens Stola. Und ich meine mich zu entsinnen, dass sie eben jene Stola bei der Liveübertragung noch nicht anhatte."
Mit diesen Worten wandte er sich wieder dem Spiegel zu und begann in seinen Haaren zu nesteln.

Ich betrachtete ihn verwirrt. Mein Gefühl sagte mir, dass Rabenklaues plötzliches Interesse an Wolfsbraue mit dem Gespräch zwischen den beiden Typen zusammenhing, das wir vorhin belauscht hatten. Wieso die Stola da eine Rolle spielte, wollte allerdings nicht so ganz in meinen Kopf.

Gerade als ich mich wieder daran machen wollte, die restlichen Verschlüsse zu öffnen, zog sich Rabenklaue mit einem erleichterten Seufzer die Maske vom Gesicht.
Die Haut, die darunter zum Vorschein kam, schien wächsern und rote Striemen markierten jene Stellen, an denen die Ränder der Rabenmaske in sein Fleisch geschnitten hatten.
Wie gebannt starrte ich ihn an.
Die blasse Hand mit den langen, schlanken Fingern bewegte sich beinahe wie in Trance.
Abwesend strich er sich einige verschwitzte Haarsträhnen aus der Stirn und begutachtete dabei missmutig seine Nase, die in demselben Gelbgrün changierte, wie der Großteil meiner eigenen Blutergüsse.

Es war eine erschöpfte, abgekämpfte Geste und mit einem Mal wurde mir bewusst, wie jung er eigentlich war. Bestimmt nicht viel älter als ich. Wenn überhaupt.

Wie es wohl war, zu wissen, dass die Geschicke einer ganzen Generation bald auf den eigenen Schultern ruhen könnten?

Nachdenklich betrachtete ich seine Nase. Der einzige Makel, in dem ansonst so perfekten Gesicht.

Ich brauchte einen Moment, bis ich realisierte, dass ich dafür verantwortlich war.
Damals, als ich nach dem Rabenflug wieder zu mir gekommen war, hatte ich meinen Kopf versehentlich gegen sein Nasenbein geschlagen.
Eigentlich war es erst ein paar Tage, aber mir kam es vor wie eine halbe Ewigkeit.

Es dauerte nur ein paar Herzschläge ehe Rabenklaue meinen Blick im Spiegel bemerkte.
Er sah auf und schaute mich fragend an.
Hastig drehte ich den Kopf zur Seite und musterte den Seifenspender. Er sollte weiß Gott nicht denken, ich würde ihn anstarren.
"Ist was?" fragte er nichtsdestotrotz.
"Nein," sagte ich schnell. "Eigentlich nicht." Man hatte feine blaue Schlieren in das Glas des Seifenspernders eingearbeitet. Mit ein wenig Fantasie, sah es aus wie die Wellen, die bei starkem Wind auf den schlammigen Pfützen in den Straßen nahe meines Heimatviertels entstanden. Nur schöner.
"Und uneigentlich?"
Ich seufzte. Rabenklaue war echt hartnäckig. Gerade als ich irgendetwas Nichtssagendes erwidern wolltw, offnete sich mit einem leisen Klacken urplötzlich der letzte Verschluss meiner Maske. Ich konnte gerade noch verhindern, dass sie zu Boden fiel.

Rabenklaue sog scharf die Luft ein.
"Pass auf meine Maske auf," zischte er. Dann streckte er fordernd Hand aus. "Und jetzt gib her!"

Ich zögerte einen Moment und dachte an Mark.
Konnte es sein, das jetzt vielleicht ein guter Augenblick war?
Solange ich seine Maske noch in den Händen hielt würde Rabenklaue mir vermutlich eher zuhören, oder?

Rabenklaue schnalzte ungeduldig mit der Zunge und klappte dabei die rechte Hand auf- und zu. "Wird's bald?"
Sein linker Arm, der meine Maske hielt, hing schlaff herab.

Ich leckte mir über die Lippen und vergewisserte mich noch einmal, dass wir auch wirklich allein waren. "Erst wenn du mir sagst wo mein Bruder ist."

"Wer?" fragte Rabenklaue überrascht und ließ seine Hand langsam sinken.

"Mein Bruder. Mark-Marvolo Madeinchina," sagte ich mit wachsendem Selbstvertrauen und spürte, wie all die Wut, die sich in den letzten Tagen in meiner Brust angestaut hatte, dabei war sich ihren Weg an die Oberfläche zu bahnen. "Der Junge, den du hast festnehmen lassen! Aus dem einzigen Grund, dass er versucht hat mir zu helfen, damit ich nicht da lande, wo ich jetzt bin!"

Ich hätte echt gute Lust gehabt ihm ein paar zu kleben. Dieser Idiot scherte sich vermutlich einen Dreck darum, was mit den Gefangenen passierte. Oder wie es seinen Untertanen im Allgemeinen ging.

"He, sachte sachte," murmelte Rabenklaue und hob beschwichtigend beide Hände, was mich allerdings nur noch mehr auf die Palme brachte. "Das ist doch kein Grund gleich so herumzuschreien. Meinst du den Verrückten, der unsere Raben angegriffen hat?"

Ich taxierte ihn mit funkelnden Augen und bemühte mich meine Emotionen im Zaum zu halten. Mein Bruder mochte eine ganze Menge sein, aber ganz gewiss nicht der gemeingefährliche Verrückte, als den dieser verzogene Adelssohn ihn gerade hinstellte.

Rabenklaue schüttelte scheinbar amüsiert den Kopf. "Wie kommst du eigentlich darauf, dass ich wissen könnte was weiter mit dem Kerl geschehen ist? Und selbst wenn, wieso sollte ich es dir sagen?"

"Vielleicht, weil ich im Besitz von Informationen bin, von denen du sicherlich nicht willst, dass sie an die Öffentlichkeit gelangen," sagte ich provokativ.

"Soll das etwa eine Drohung sein?" fragte Rabenklaue erstaunlich ruhig und betrachtete mich wie einen kuriosen Käfer.

"Nein, es ist viel eher eine Verhandlung. Du sagst mir, was ich wissen möchte und lässt meinen Bruder gehen. Im Gegenzug behalte ich meine Informationen für mich."
Ich zwang mich zu einem Lächeln und versuchte den Blick seiner rabenschwarzen Augen so selbstbewusst wie möglich zu erwidern.

"Du meinst also einen Erpressungsversuch," murmelte er mehr zu sich selbst. "Nette Idee, aber ich wüsste nicht, was ich zu verbergen hätte."
Er bedachte mich mit einem herausfordernden Lächeln.

"So sicher? Und was ist dann mit unserem ersten Treffen? Das im Stadtviertel der Unterschicht?" gab ich zurück und klang dabei leider nicht mehr halb so souverän wie beabsichtigt.

"Ach das," sagte Rabenklaue abwinkend und wandte sich wieder dem Spiegel zu, um mit stohischer Ruhe seine Haare zu ordnen.

Ich schluckte. "Gut. Dann macht es dir doch bestimmt nichts aus, wenn ich der Rabenmutter davon erzähle."

Er blieb mir eine Antwort schuldig.

"Okay, wenn das so ist, dann gehe ich jetzt," sagte ich kleinlaut und begann mich möglichst langsam in Richtung Ausgang zu bewegen. "Ich bin gespannt, was die Rabenmutter dazu sagen wird."

Immer noch keine Reaktion.

Verdammter Mist, verdammter!
Ich verlangsamte mein Tempo erneut ein wenig. Ich musste ihm Zeit geben die Situation noch einmal zu überdenken.
Dennoch erreichte ich die Türe viel zu schnell.
"Also dann," murmelte ich und drückte die Klinke, ein wenig ratlos, was ich als nächstes tun sollte. Der Rabenmutter wirklich davon berichten? Aber was würde sie sagen, wenn Rabenklaues Ausflug tatsächlich nicht so geheim war wie gedacht? Was wenn am Ende herauskam, dass er in ihrem Auftrag gehandelt hatte?

"Du willst also wirklich gehen?" fragte Rabenklaue im letzten Moment ehrlich überrascht.

Perplex wandte ich mich zu ihm um. "Äh ... ja."

"Das halte ich für keine sonderlich gute Idee."

"Ich dachte es wäre dir egal?"

"Nicht wenn du dich ohne Maske in der Öffentlichkeit zeigst."

"Was, wenn doch?"
Ich konnte nicht anders als ihn triumphierend anzugrinsen. Immerhin einen Schwachpunkt hatte ich gefunden.

"Hast du vorhin die rot gekleidete Dame gesehen, die im Gang vor dem Toilettenflur telefoniert hat?
Sie steht nicht zufällig da. Für heute Abend arbeitet sie als meine Leibwache.
Eigentlich hat sie im Moment lediglich den Befehl, mich zu warnen, falls jemand auf dem Weg hier rein ist, doch das lässt sich im Handumdrehen ändern."
Er schenkte mir ein scheinheiliges Lächeln und trommelte mit den Fingern einen langsamen Takt auf den Rand des Waschbeckens.
"Ich könnte sie zum Beispiel bitten, dich aufzuhalten sobald du den Flur betrittst. Und glaub mir, das willst du nicht."

Ich dachte einen Moment nach.
"Angenommen ich würde das Risiko eingehen. Wer sagt dir, dass da draußen nicht zufällig jemand vorbeiläuft, der uns im falschen Moment beobachtet und das Gerücht in die Welt setzt, ihr hättet euren Champion nicht im Griff?"

Rabenklaue öffnete entschlossen den Mund, verharrte mitten in der Bewegung und schloss ihn wieder. Das souveräne Lächeln von vorhin war verschwunden.
"Also ... das ist ... unwahrscheinlich."

"Aber nicht ausgeschlossen."
Ich lächelte siegesgewiss und ließ meine Hand demonstrativ zurück auf die Klinke sinken.

"Okay, okay, da es dir so wichtig zu sein scheint." Er hob leicht genervt beide Hände. "Wie genau war nochmal dein Deal?"

"Du lässt meinen Bruder frei und im Gegenzug zeige ich mich nicht ohne Maske in der Öffentlichkeit."

Rabenklaue wollte gerade zu einer Antwort ansetzten, als ich schnell hinterher schob: "Und du wirst mir zwei Fragen beantworten."

Er schwieg eine Weile und kratzte sich nachdenklich am Kinn, während ich unruhig von einem Fuß auf den anderen trat.

"Wie wäre es mit:
Du zeigst dich nicht ohne Gesichtsbedeckung in der Öffentlichkeit
und sprichst zudem unter keinen Umständen mit wem-auch-immer über deine Operation oder meinen kleinen Ausflug in die weniger privilegierten Stadtteile vor ein paar Tagen?
Dafür würde ich dir dann auch eine deiner Fragen beantworten. Egal welche."

"Zwei. Und zwar so ausführlich bis ich zufrieden bin.
Und du sorgst dafür, dass mein Bruder freikommt.
Das ist mein letztes Wort."
Ich drücke die Klinke sanft ein klein wenig nach unten.

"Einverstanden,"sagte Rabenklaue hastig und streckte mir die Hand entgegen.

Ich schüttelte den Kopf. "Wenn du willst, dass ich einschlage, vergiss es. Ich halte mein Wort auch so. Zumindest sofern ich mit deinem Teil zufrieden bin."

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