36. Kapitel - Von Klos und kleinen Schlampen
Herrentoilette,
stand in großen, geschwungenen Lettern auf einer Türe aus gräulichem Holz, die definitiv schon bessere Tage gesehen hatte. Sie war über und über mit seltsamen Schnitzereien verziert. Lauter kleine, groteske Gestalten, die mich bei jeder Bewegung misstrauisch zu beobachten schienen.
Hier musste es sein.
Für einen kurzen Moment hielt ich inne, um mich zu sammeln.
Nicht, dass es viel brachte. Ich hatte nach wie vor zwei Probleme, für die mir nicht wirklich eine gute Lösung einfallen wollte.
Erstens, was zur Hölle sollte ich sagen, wenn ich auf einmal in eine Horde im Stehen pinkelnder Männer platzte?
Ich meine, "Sorry, falsch Tür," hätte wohl kaum gezogen. Vor allem nicht, wenn man bedachte, dass die Türen hier tatsächlich auch alle wie richtige Türen aussahen. Jeweils feinsäuberlich mit Nummer und Schild versehen, das Auskunft über den Raum gab, der sich dahinter befand.
Das klassische System eben und keine hinter Lichtillusionen verschwindenden Geheimportale, wie es größtenteils bei den Rabenkindern der Fall war.
Aber selbst, wenn ich Glück hatte und niemanden beim Pinkeln störte, blieb immer noch Problem Nummer zwei.
Falls alles so ablief wie vorhergesehen, dann hätte ich gleich endlich ein paar Minuten mit Rabenklaue allein. Eigentlich die perfekte Gelegenheit, um ihn auf Mark anzusprechen.
Aber was, wenn er nicht mit sich reden ließ?
Was, wenn er mauerte oder wenn herauskam, dass er einen guten Grund gehabt hatte sich im Stadtviertel der Unterschicht herumzuschleichen?
Ich krallte meine Finger ein wenig nervös in die leicht lädierten Federn meines Kleides, ließ es aber sofort wieder sein, als mir bewusst wurde, wie bescheuert das wirken musste. Ich war kein kleines, verängstigtes Mädchen mehr, das es nötig hatte Trost bei einem kaputten Kleid zu suchen.
Egal, ich würde das alles einfach spontan entscheiden.
Ich richtete mich auf, atmete tief durch und sah mich ein letztes Mal prüfend im langen Flur um.
Immer noch niemand zu sehen.
Bevor ich es mir anders überlegen konnte, drückte ich die schlanke Klinke aus kühlem Metall hinunter und betrat mit mulmigem Gefühl die Herrentoilette.
Die Türe quietschte, als wolle sie damit Tote auferwecken und klemmte gegen Ende so stark, dass ich mich mit meinem ganzen Gewicht dagegenstemmen musste.
So viel zum Thema moderner Palast.
Das funktionierte ja selbst bei uns Zuhause besser. Und da gab es keine kleine Armee an Personal, das alles auf Trapp halten sollte.
Das Innere überraschte mich dafür umso mehr.
Soweit ich es erkennen konnte, war alles blitzsauber, topmodern und die Wände akribisch mit einem Mosaik aus winzigen bläulichen Kacheln verputzt. Zu meiner Linken hing ein riesiger Spiegel, der fast die gesamte Wandfläche über den zahlreichen Waschbecken einnahm. Am meisten überraschte mich allerdings die Tatsache, dass doch tatsächlich ein ganzes Dutzend lebendiger Pflanzen im Klo stand!
Also, um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, das Grünzeug wucherte nicht etwa aus den Toilettenschüsseln selbst, man weiß ja nie, auf was für verquere Gedanken Adelige so kommen können, sondern sie trennten den vorderen Bereich, dezent vom hinteren Bereich, der, wie ich in wenigen Minuten erfahren sollte, eine Handvoll Kabinen mit richtigen Klos beherbergte.
Erleichtert registrierte ich, dass sich zumindest im Vorraum keine Fremden befanden. Niemand, der gerade im Begriff waren sich vor aller Augen zu erleichtern.
Glück gehabt.
Wer hat sich diese Unart eigentlich ausgedacht?
Gut, als weibliches Wesen habe ich von solchen Dingen wohl nur wenig Ahnung, aber trotzdem. Wenn man sich in der Natur auf diese Weise erleichtert, von mir aus, aber doch nicht im Haus! Das spritzt doch alles voll.
Ich will gar nicht daran denken, dass irgendwer dann hinterher wieder saubermachen muss.
Wie dem auch sei, als ich lauschte, war jedenfalls alles still.
Ich schien allein zu sein.
Bis auf Rabenklaue natürlich, der an der gegenüberliegenden Wand zwischen zwei gewöhnungsbedürftig designten Pissoirs aus dunkelblauem Glas lehnte und mich mit einem überheblichen Grinsen musterte.
"Gratulation. Dies ist die erste Aufgabe, die du zu meiner vollsten Zufriedenheit gemeistert hast, Ravenna. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich gedacht, du schaffst es schon wieder irgendwie mich in Schwierigkeiten zu bringen."
Er stieß sich von der Wand ab und schritt langsam auf mich zu.
Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und versuchte mir meine... äh ja, gute Frage, was eigentlich?
Angst war es nicht direkt, aber definitiv mehr als nur ein ungutes Gefühl.
Aber Rabenklaue sollte auf keinen Fall denken, dass er mich so leicht einschüchtern konnte.
"Allerdings sind wir ja auch noch nicht fertig. Ich sollte mich also vermutlich nicht zu früh freuen," fuhr er im lässigen Plauderton fort. "Übrigens, du kannst auch gerne aufhören mich anzustarren wie eine Sardine einen Hai. Erstens wirkt das nicht sonderlich intelligent und zweitens beiße ich dich nicht. Versprochen."
Ach nee. Das wäre ja auch noch schöner gewesen. In meinem Kopf poppte ungefragt eine Szene auf, in der Rabenklaue in meine Schulter biss.
"Außerdem würde ich es begrüßen, wenn wir jetzt zügig unsere Masken tauschen könnten und wieder abhauen bevor uns jemand sieht."
Er streckte seine Hand ungeduldig nach meiner Maske aus.
Ich rührte mich nicht vom Fleck und starrte ihn finster an. Wenn er schon erwartete, dass ich mit ihm kooperierte, dann sollte er gefälligst freundlicher fragen.
Und ja, meine anfängliche noch-nicht-ganz-Angst war gerade im Begriff sich in Trotz und Wut zu verwandeln. Mein Respekt vor ihm sank von Sekunde zu Sekunde, Thronanwärter hin oder her.
Es ist kindisch, ich weiß, aber ich war fest entschlossen nicht die Erste zu sein, die nachgab. Wenigstens diesen einen Triumph wollte ich ihm nicht gönnen.
Und so standen wir da und maßen uns mit Blicken. Ich mit fest verschränkten Armen, er nicht minder entschlossen mit ausgestreckter Hand.
Nach einer gefühlten Ewigkeit schüttelte Rabenklaue resignierend den Kopf und ließ seine Hand sinken.
"Gut, ich dachte, du willst auch tauschen, aber wenn du erst warten willst, dann warten wir eben."
Er lehnte sich wieder gegen die Wand. Dieses Mal allerdings so, dass er sich selbst im Spiegel betrachten konnte. "Ich bin schließlich nicht derjenige, der sich hier illegal auf der Herrentoilette aufhält," sagte er, während er sich ausgiebig im Spiegel betrachtete. "Ich weiß nicht, ob es dich interessiert, aber man munkelt, dass die Löwenfritzen nicht unbedingt allzu viel Spaß verstehen was gewisse Dinge angeht. Kleine Schlampen, die irgendwelchen edlen Herren nachspannern, zum Beispiel."
Er verschränkte nun ebenfalls die Arme und warf mir durch ein paar Haarstränden hindurch einen Blick zu, der wohl vorwurfsvoll sein sollte.
"Ja und? Ich spioniere niemandem hinterher. Du wolltest, dass ich herkomme und hier bin ich. Was ist denn so schlimm daran, dass unsere Rabenmasken versehentlich verwechselt wurden und wir sie jetzt zurücktauschen?"
"Das Ding ist, dass das jeder behaupten könnte," sagte Rabenklaue nach kurzem Zögern. Für seine Verhältnisse klang er ungewöhnlich ernst. "Glaub mir, ich habe schon so meine Erfahrungen damit gemacht."
Ähm...Was? Meinte er das etwa ernst?
Ich betrachtete ihn nachdenklich, aber sein Gesicht glich dem einer Maske. Keine Chance daraus schlau zu werden.
Als er meinen Blick bemerkte spielte ein spöttisches Lächeln um seine Mundwinkel.
Energisch reckte ich das Kinn, in der Hoffnung, dass es nicht zu aufgesetzt wirkte.
"Ach ja? Du bist also schon mit kleinen Schlampen im Klo erwischt worden? Interessant."
"Das habe ich nie behauptet. Ich an deiner Stelle wäre ein wenig vorsichtiger, was solche Dinge angeht.
Hat dir noch niemand beigebracht, dass es unklug ist voreilige Schlüsse zu ziehen?"
"Natürlich...," ich verstummte, unsicher, was ich als nächstes sagen sollte. "Mir... äh... ist übrigens nicht entgangen, dass deine Geschichte, ... so nett sie auch auf den ersten Blick klingen mag, ... ein paar... kleine Lücken aufweist.
Wenn sie wirklich stimmen würde, wieso sollten wir uns dann ausgerechnet hier treffen?
Es gibt doch bestimmt weiß Gott genug andere Orte im Palast, die mindestens ebenso geeignet sind.
Außerdem... sind die Kinder des Löwen vermutlich nicht einmal halb so streng, wie du behauptest. Du scheinst mir nämlich viel zu locker, wenn man bedenkt, dass hier jeden Moment einer reinplatzen könnte und uns erwischen."
"Dich, nicht Uns," erwiderte Rabenklaue süffisant. "Wenn hier jemand überraschend hereinplatzt, werde ich ganz einfach behaupten, dass du mir gefolgt bist. Gegen meinen Willen natürlich."
"Aber-"
"Aber so war es doch gar nicht?" äffte er mich mit übertrieben kindlicher Stimme nach. "Tja, in dem Fall wird dich das aber leider auch nicht retten. Du kannst deinen Standpunkt schließlich nicht beweisen."
"Du deinen aber auch nicht," knurrte ich.
"Gewiss. Aber mein Wort stünde gegen deines. Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, doch angenommen, du wärst der Richter. Mit wem würdest du es dir eher verscheißen wollen? Mit deinem neuen König oder irgend so einem unbedeutenden Champion, der in ein paar Wochen eh niemanden mehr interessiert?"
Ich schnaubte aufgebracht durch die Nase.
Seine unglaubliche Gelassenheit brachte mich nur noch mehr auf die Palme.
Er war doch auch nur ein Mensch, verdammt!
Was gab ihm das Recht sich so aufzuführen?
Und wieso war er sich überhaupt so sicher, dass er der nächste König sein würde?
Was war mit den anderen Anwärtern? Oder besser gesagt deren Champions?
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