29. Kapitel - Spring!

Mit zitternden Knien und klopfendem Herzen stand ich vor dem Abgrund. Der frische Wind spielte sacht mit meinem Haar und die Gestirne funkelten kalt und klar am Himmel über mir. Die nächtliche Briese trug einige Wortfetzen heran, mit denen Rabenklaue versuchte das Volk für sich zu gewinnen. Aber ich nahm sein Geschwätz ohnehin kaum wahr.
Ich stand nur wenige Meter unter ihm, in einer Art Einbuchtung, die einzig über eine schmale Treppe zu erreichen war. Es gab nicht mal eine Reling, die mich vom Abgrund trennte. Seit heute Nachmittag wusste ich auch warum.

Und ich wusste außerdem, dass das etwa turmhohe Podest, auf dem ich nun stand, eigens für diesen Abend in der afrikanischen Wüste errichtet worden war. Paradoxer Weise verhungerten bei mir zu Hause jeden Winter Menschen auf der Straße. Man hätte all das Geld wirklich deutlich besser nutzen können, als für ein solches Unding. Außerdem was es elendig hoch. Genauso wie die neun anderen Podeste, deren Thronanwärter und Champions sich schon vorgestellt hatten.
Nun war Rabenklaue an der Reihe. Und ich.
Als Letzte.
Die Worte der Rabenmutter klangen noch in meinen Ohren:
„Das Beste kommt zum Schluss."

Unwillkürlich wanderte mein Blick zu der unscheinbaren Kante, hinter der der Boden einfach aufhörte und das Nichts lauerte. Ich versuchte den aufsteigenden Schwindel niederzukämpfen. Weit, weit unter mir befand sich die tobende Menge. Und sie alle würden gleich zusehen. Ich schluckte. So viele Menschen.
Aber natürlich gab es da auch noch den Rest der Welt, jene Menschen, die sich keine teuren Eintrittskarten kaufen konnten und das Spektakel nur über den Fernseher mitverfolgen durften. Oder wohl eher mussten. Das Ganze lief nämlich unter dem Motto 'freiwilliger Zwang'. Wer nicht mitspielte, hatte damit zu rechnen noch eine ganze Weile lang schief angesehen zu werden.
Ob meine Familie jetzt wohl auch zuschaute? Bestimmt. Vermutlich saßen sie alle dicht gedrängt auf dem Boden vor dem Gemeinschaftsfernseher unseres Blocks. Ein altes, relativ kleines Teil, aber besser als nichts. Früher war es für uns Kinder immer ein riesen Event gewesen, wenn wir fernsehschauen durften. Und sei es auch nur die langweilige Rede der Rabenmutter anlässlich der Geburt einer neuen kleinen Adeligen.

Ich versuchte mich wieder stärker auf die Worte von Rabenklaue zu konzentrieren. Ich durfte meinen Einsatz nicht verpassen!

Doch mit jeder verstreichenden Sekunde begann mein Herz lauter und lauter zu klopfen. Das Blut pochte mir in den Ohren und es war schwer, ihn überhaupt noch zu verstehen. Die Zeit schien sich endlos langzuziehen.
Und schließlich sagte er sie doch. Jene fünf Worte, vor denen es mir schon die ganze Zeit gegraut hatte:
"Und stolz präsentiere ich meinen Champion.
Möge sie kämpfen, rennen, siegen!"

Oder mit anderen Worten: Möge sie sich nun feierlich in den Abgrund stürzen!
Wie auf das Stichwort fluteten Scheinwerfer den Bereich unmittelbar vor dem Abgrund mit Licht. Der Rest der kleinen Kammer blieb im Zwielicht verborgen. Geblendet kniff ich die Augen zusammen, wankte einen unsicheren Schritt nach vorne und versuchte einfach nicht nach unten zu sehen. Aber einfach ist deutlich leichter gesagt als getan.

Kennst du das Gefühl, dass der Abgrund dich anzieht? Dass du allein schon bei dem Anblick förmlich in die Tiefe gesogen wirst und fällst? Das ist es, wovor sich die meisten Leute wirklich fürchten, wenn sie sagen, sie haben Höhenangst.

"Ravenna!" flüsterte Dirk unmittelbar hinter mir. "Spring!"
"Ich... ich kann nicht," flüsterte ich leise.
"Du musst!"
Ich schluckte und starrte weiter in die Tiefe.
"Spring jetzt endlich!"
Ich schüttelte den Kopf und trat mit weichen Knien einen Schritt zurück. Das Herz schlug mir bis zum Hals.

Wenig später hörte ich, wie Rabenklaue sich oben verlegen räusperte.

"Was ist hier los?" zischte Rabenfeder ungehalten. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie heruntergekommen war.
"Sie weigert sich zu springen," sagte Dirk und die Verzweiflung war deutlich aus seiner Stimme herauszuhören.
"Dann sorg doch einfach dafür, dass sie es tut!"
"Wie denn?" Dirk raufte sich im Dämmerlicht ratlos die Haare.
Rabenfeder bedachte ihn kurz mit einem vernichtenden Blick und murmelte irgendetwas von Männern, Memmen und Weicheimethoden. Dann wandte sie sich mir zu.
"Ravenna, würdest du jetzt bitte springen?" sagte sie, freundlich aber bestimmt.
Unsicher blickte ich noch einmal zu der Kante hinüber, hinter der die gähnende Leere begann, schüttelte dann aber erneut den Kopf und wich noch ein paar Schritte weiter zurück. Inzwischen hatte ich fast den Abgang zur Treppe erreicht.
Doch Rabenfeder war schneller. Mit zwei langen Schritten war sie an meiner Seite und legte ihren Arm fest um meine Hüften.
Widerwillig ließ ich mich von ihr nach vorne schieben. Hin und hergerissen zwischen Panik und Pflichtbewusstsein.
Ich wollte nicht springen.
Ich wollte nicht.
Und dennoch war es meine Aufgabe. Meine Pflicht. Als Champion.
Aber ich wollte nicht!
Schon gar nicht für Rabenklaue.

Ein paar Zentimeter vor dem Abgrund stemmte ich meine Füße fest auf den Boden. Ich würde keinen Schritt mehr gehen. Keinen einzigen.
Rabenfeder löste ihren Arm von meiner Taillie und sagte fordernd: "Spring."
Aber ich würde nicht springen. Mir egal, ob die ganze Welt zusah oder nicht.

Über mir räusperte sich Rabenklaue erneut, während die Menge tief unter mir unruhig zu murmeln begann.
Es war meine Schuld.
Aber glaubt mir Leute, in dem Moment hielt sich mein Mitleid echt in Grenzen. Ich war fest entschlossen nicht zu springen. Koste es was es wolle.

Aber ich hatte meine Rechnung ohne Rabenfeder gemacht. Denn mit einem Mal stieß sie mir ihre Hände so fest in den Rücken, dass ich unwillkürlich nach vorne stolperte. Ich kreischte auf, als mein Fuß ins Leere trat und kämpfte einige Herzschläge lang um Gleichgewicht. Ließ mich zu Boden fallen, damit ich nicht nach vorne, ins Leere kippen konnte. Doch gerade als ich der Meinung war, ich hätte die Situation wieder halbwegs unter Kontrolle, stieß Rabenfeder ein zweites Mal zu. Und dieses Mal gelang es mir nicht mehr, das Gleichgewicht zu halten.
Ich fiel.

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