18. Kapitel - Ehrlichkeit

Die Türe öffnete sich beinahe geräuschlos und durch den winzigen Spalt zwischen Türrahmen und Wand schielte ein schwarzes Auge aus dem Halbdunkel hervor.
Der süßlich schwere Duft von Wildrosen umhüllte mich und ganz leise drang der wehmütige Gesang einer Nachtigall zu mir in den Gang hinaus.
Nach kurzem Zögern öffnete sich die Türe ein wenig weiter und Rabenfeder starrte aus großen, leicht geröteten Augen ungläubig zu mir hinauf.
Ich wandte schnell den Blick ab und starrte zu Boden. Wusste nicht so recht, was ich jetzt tun sollte. Ich öffnete meinen Mund, klappte ihn aber gleich darauf wieder zu. Mein Kopf war wie leergefegt.

Wie entschuldigte man sich denn angemessen bei einer Adeligen?
Ist Knicksen noch zeitgemäß? Nee, oder?

Je länger die Stille andauerte, desto unruhiger wurde ich. Ich fing an, es regelrecht zu bereuen, dass ich hergekommen war. Eigentlich konnte es mir doch herzlich egal sein, was Rabenfeder von mir hielt.
Aber du tust es nicht für dich, du tust es für Mark. Er ist auf die Gnade der Rabenkinder angewiesen, raunte meine innere Stimme mir zu.
Ich straffte mich. Mark hatte mich noch nie hängen lassen. Und ich würde es umgekehrt auch nicht tun.
Ich hatte mich entschlossen, dass ich dieses Spiel doch mitspielen würde, um Marks Willen. Ich musste eine Möglichkeit finden, ihm zu helfen und würde dafür sicherlich jegliche Hilfe benötigen, die sich mit bot und Rabenfeder war bislang die einzige, die halbwegs nett zu mir gewesen war.
Nach einem kurzen Moment der Selbstüberwindung, kratzte ich meinen ganzen Mut zusammen und schaute ihr direkt in die Augen. Es lag ein ungewöhnlicher Ausdruck in ihnen, den ich nicht so recht zu deuten wusste.
Ich musste mich mit aller Kraft davon abhalten diesem Blick nicht erneut auszuweichen.
Schon seltsam wie viel doch dazugehört einfach mal Tut-mir-Leid zu sagen. Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe während ich um die richtigen Worte rang.

"Ich, also, wegen vorhin, das, äh, war nicht so gemeint."

Einen Moment lang herrschte Stille.
Dann schmiss Rabenfeder plötzlich ihre Arme um meinen Hals und drückte mich fest an sich. Unangenehm berührt stolperte ich zurück.
Was sollte das denn schon wieder?
Es war doch nicht mehr als ein dezent misslungener Entschuldigungsversuch gewesen, keine Liebeserklärung.

"Alles in Ordnung mit dir Ravenna?" fragte Rabenfeder leicht verwirrt.

Bitte was? Ungläubig deutete ich mit dem Zeigefinger auf meine Brust. Was hatte sie da gerade gesagt? Hatte sie mich gemeint?
In diesem Moment schien Rabenfeder ein Licht aufzugehen. Man kann sicherlich vieles über sie sagen, aber dumm ist sie nicht.

"Du heißt jetzt Ravenna," verkündete sie stolz, "Hat dir das noch niemand mitgeteilt?"

Augenscheinlich hatte Rabenfeder mein Entsetzen noch nicht bemerkt. In einem Ton als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, fuhr sie bereitwillig fort:

"Das haben wir gestern so entschieden. Eigentlich hatten wir schon vor Ewigkeiten festgelegt, wie der neue Champion heißen sollte. Okay gut, es war Vorgestern. Du weißt schon, der Tag, an dem der alte König starb," sie machte eine wegwerfende Handbewegung. "Ist ja eigentlich auch egal. Es ist nur so, dass..." hastig blickte sie sich um, so als wollte sie sich vergewissern, dass wir auch wirklich allein waren, " Wir hatten fest damit gerechnet, dass der Champion männlich sein würde.
Aber nachdem überraschenderweise du erwählt wurdest, mussten wir ein Notfallkomitee einberufen. Ich hätte nie gedacht, dass wir so viel neu überdenken müssen.
Übrigens, was deinen Namen angeht: es war meine Idee. Ich habe ihn vorgeschlagen. Und er wurde ausgewählt," sie kicherte leise, "Du glaubst nicht wie eingeschnappt Rabenklaue war, dass die Rabenmutter nicht seinen Vorschlag angenommen hat."

"W-war-um?" stammelte ich. Zu mehr reichte es nicht. Mein Gehirn weigerte sich immer noch diese Information zu akzeptieren. Sie konnten mir doch nicht einfach so einen neuen Namen verdonnern. Ohne triftigen Grund!
Mein Name, mein wahrer Name war Mia-Maria Madeinchina.
Gerne auch einfach nur Mia oder von mir aus auch M&M. Aber doch nicht Ravenna!
Ravenna! Was ist das überhaupt für ein Name?
Okay. Da ich Mia-Maria heiße habe ich wohl kein Recht mich zu beschweren, aber trotzdem! Das konnte doch nicht ihr Ernst sein!

Ich holte tief Luft und machte einen wackeligen Knicks.

"Eure Hoheit, ich bitte untertänigst um Verzeihung, aber mir wäre es deutlich lieber, ihr würdet mich bei dem Namen rufen, den meine Eltern mir gaben. Er ist Mia-Maria Madeinchina. Aber Ihr dürft gerne auch einfach nur Mia sagen."

Rabenfeder kicherte leise und bedachte mich wieder einmal mit ihrem Stell-dich-nicht-so-dumm-an-Blick.

"Es ist völlig egal, wie du im Slum genannt wurdest. Jeder weiß, dass ihr Slumleute, sagen wir einmal, gewöhnungsbedürftige Vorstellungen habt, was Namensgebung angeht. Mia-Maria ist ein schnöder, gewöhnlicher Name. Außerdem klingt er nach Armut."
Sie sah mir tief in die Augen. „Du bist jetzt unser Champion. Du bist etwas Besonderes. Deshalb brauchst du auch einen Namen mit Stil, einen, der einem Champion gerecht wird, der dir gerecht wird."

"Aber-" setzte ich zaghaft an, wurde jedoch sogleich harsch von Rabenfeder unterbrochen.

"Du heißt Ravenna! Basta!
Wie du früher gerufen wurdest spielt keine Rolle mehr. Die alte Mia-Maria ist tot. Schluss aus und vorbei.
Wenn ich dir einen Rat geben darf, dann vergiss deine alte Existenz und alles was damit verbunden war schnellstmöglich.
Du beginnst jetzt ein neues Leben. Hier im Palast. Als Champion."

Man merkte ihr deutlich an, dass sie keine Widerworte gewohnt war.

Ich bin definitiv kein Choleriker, aber ich spürte dennoch, wie das Blut in meinen Ohren zu pochen begann. Ich kann es nicht ausstehen, wenn ich ungerechtfertigt beleidigt werde. Und noch mehr hasse ich es, wenn Leute einfach so über mein Leben entscheiden, ohne meine eigene Meinung zu respektieren. Es ist immerhin mein Leben.

Stumm vor mich hinbrütend folgte ich Rabenfeder durch endlose Gänge. Links, Rechts, Links. Wohin wir gingen, wusste ich nicht.

Aber ich kam zu folgendem Schluss:
Immer, wenn ich anfing Rabenfeder doch als einigermaßen okay einzustufen, leistete sie sich wieder so etwas. Ich würde auf der Hut sein müssen und sie zu direkt nach Mark fragen.

Schließlich machten wir vor einer großen, roten Türe halt. "Beauty und Co." stand darauf zu Lesen. Aha. Anscheinend kannten sie auch richtige Türen. Dahinter verbarg sich ein riesiger runder Raum, der mit seinem spärlichen Mobilar und den klinisch weißen Wänden stark an ein Krankenhaus erinnerte.
Und eine Erfahrung, auf die ich liebend gerne verzichtet hätte.

Ich musste mich bemühen vor Frust und Schmerz nicht laut aufzuschreien. Splitterfasernackt stand ich mitten in einem Kreis piekfeiner Leute, während die Rabenmutter mich begutachtete. Das hieß, sie ließ mich im Zimmer auf und ab gehen, pflückte in meinen Haaren herum und zwickte mich in alle möglichen Stellen. Außerdem ließ sie keine Möglichkeit aus missbilligende Kommentare von sich zu geben. An allem hatte sie etwas auszusetzen. Sie führte sich doch ernsthaft so auf, als wäre ich die hässlichste und unfähigste Kreatur, die ihr je begegnet war. Sorry, dass ich nun einmal so bin, wie ich bin. Und nicht so perfekt wie die Rabenkinder.

Ein dicklicher Herr mit ausgefallener Kopfbedeckung notierte jedes noch so kleine Schnauben. Haltung: Unmöglich! Haare: Fürchterlich! Manieren: offensichtlich keine! Figur: völlig Unansehlich! ... Gesamtbilanz: dreifache Katastrophe!, würde ich mal vermuten.

Die Rabenmutter bedeutete mir, die Arme zu heben und mich im Kreis zu drehen.

Was wollten sie damit eigentlich bezwecken?
Sollte das eine bloße Demütigung sein, oder steckte mehr dahinter?
Und was machten die ganzen fremden Leute hier? 

Rabenfeder war die einzige, die den Anstand hatte zu Boden zu blicken.
In diesem Moment öffnete sich die Türe und Rabenklaue schlenderte mit einem Lächeln hinein. Betont langsam ließ er seinen Blick über meinen nackten Körper schweifen.
Verdammter Idiot.
Am Liebsten hätte ich ihm eine geklatscht. Oder auch zwei oder drei.
Aber das ging nicht. Ich musste stark sein. Für Mark.
Ich bemühte mich meinen Ärger hinunter zu schlucken. Doch je mehr ich meine Wut verdrängte, desto stärker wurden Scham und Demütigung, bis ich alle Mühe hatte meine Tränen zurückzuhalten. Ich wollte nicht weinen. Nicht vor ihm. Diese Genugtuung würde ich ihm nicht gönnen.
Anscheinend sah man mir meine Gefühle aber trotzdem an.
Denn mit einem Mal verbeugte Rabenklaue sich so tief, dass es schon wieder lächerlich aussah, ergriff meine Hand und küsste sie.

"Tut mir unendlich leid, my Lady.
Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass ich liebend gerne früher erschienen wäre, um auch ja keinen Augenblick zu verpassen. Ich wollte dich nicht durch mein verspätetes Erscheinen betrüben. Ich versichere euch, ich bin mindestens ebenso betrübt über diesen bedauerlichen Umstand.
Verzeih."

Ein dünner Junge in grünem Kasak, der die ganze Zeit stumm in der Ecke gestanden hatte, reichte mir mit hochrotem Kopf ein dünnes weißes Hemd zum hineinschlüpfen, das am Rücken im einer Schnur zugebunden werden konnte. Dankbar nahm ich es an.

Die Rabenmutter klatschte leise in die Hände und eine hochgewachsene Frau trat aus einer Tür, die ich anfangs für ein Fenster gehalten hatte. Sie trug einen weißen Laborkittel und bedeutete mir, ihr zu folgen. Mit mulmigem Gefühl trat ich in den angrenzenden Raum.

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