12. Kapitel - Die Entscheidung der Göttin

In dem Moment, in dem sich die Raben in die Lüfte erhoben, herrschte Stille. Es war jene Art von absoluter, allumfassender Stille, in der die ganze Welt den Atem anzuhalten schien, um darauf zu warten, dass etwas Großes geschah. Etwas, das den Lauf der Welt für immer verändern könnte. Sogar der Wind hatte aufgehört zu heulen und die Sterne am Himmel über uns leuchteten kalt und klar.

Zwölf kleine Schatten breiteten die Schwingen aus, bereit den Willen der Göttin auf den Flügeln des Schicksals zu uns zu tragen. Tausende, angespannte Gesichter blickten angstvoll zum Himmel hinauf, während die Raben gleich Geiern über uns kreisten. Gebannt starrte ich auf den Bildschirm, der das Geschehen nun von oben, aus der Sicht der Raben filmte. Dunkle Federn schwangen zu beiden Seiten auf und ab.
Kaum dass die Raben tiefer gingen, entdeckte einige Leute, die ich kannte. Da war zum Beispiel wieder Gerhard. Der sonst so vorlaute Junge wirkte seltsam blass und zerbrechlich. Seine monströse Mutter erdrückte ihn fast, so fest umarmte sie ihren geliebten Sohn. Unter anderen Umständen wäre ihm das sicher furchtbar peinlich gewesen.
Als die Raben in seine Richtung flogen, hielt ich unwillkürlich den Atem an.
Doch sie zogen weiter. Vorbei an Nachbarn, Klassenkameraden und flüchtigen Bekannten. Ich wusste nicht so ganz, ob ich froh darüber sein sollte, dass die Raben bisher keinen von ihnen erwählt hatten, oder nicht. Immerhin stieg die Wahrscheinlichkeit so zusehens, dass es jemanden erwischte, der mir mehr bedeutete.
Quälend langsam verstrichen die Sekunden.

Ich spürte, wie Zaarah nach meiner Hand tastete. Sie zitterte. Marks Hand hingegen war schweißnass, genau wie meine. Er drückte so fest, dass meine Fingerknochen aneinander rieben. Trotzdem dachte ich nicht daran loszulassen.
Es muss schon ein wenig lächerlich ausgesehen haben, wie wir uns alle drei aneinanderklammerten. Aber in jenem Moment war mir das so was von egal.
Ich hatte Angst. Richtige Angst.
Nicht das leise Grausen vor Spinnen oder das mulmige Gefühl vor einer Mathearbeit.
Ich war so verzweifelt, dass ich sogar anfing zu beten.
Das mache ich sonst nie. Aber ich konnte den Gedanken einfach nicht ertragen, ohne Mark oder Zaarah leben zu müssen. Auf alles Andere hätte ich vielleicht verzichten können, doch gewiss nicht auf die Menschen, die mir am meisten bedeuteten. Und so flehte ich die Rabengöttin aus ganzem Herzen an, sie zu verschonen, koste was es wolle.
Rückblickend betrachtet, war gerade das ausgesprochen dumm von mir. Doch ich konnte ja nicht ahnen, welchen Preis die Göttin von mir verlangte, dafür, dass sie mir meine Bitte erfüllte. Oder wie wichtig es ist, seine Wünsche präzise zu formulieren...

Bitte, Bitte, lass es nicht Mark oder Zaarah sein!
Keine Reaktion. Ich weiß selbst nicht so genau, was ich eigentlich erwartet hatte. Ein Zeichen? Dass die Göttin, zu mir sprach? Dass die Raben erneut die Richtung änderten?

Ganz so, als hätte die Göttin mich gehört, drehten die Raben mit einem Mal ab und änderten die Richtung. Sie hielten nun direkt auf uns zu.

Wie gebannt starrte ich die Raben an. Und für einen Moment bildete ich mir ein, dass sie aus ihren unheimlichen, schwarzen Augen zurückstarrten. Unwillkürlich stellten sich meine Nackenhaare auf.
Das muss nichts heißen. Bestimmt fliegen sie vorbei. Sie meinen nicht uns. Ganz bestimmt nicht. Es gibt noch genug andere Leute hier. Alles wird gut,
versuchte ich mich selbst zu beruhigen.
Doch die Raben behielten ihren Kurs bei. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie meine Mutter sich die Hände vor den Mund schlug.
Mark hingegen stand reglos und mit zusammengebissenen Kieferknochen neben mir, während Zaarah sichtlich um Fassung rang. 
Der erste Rabe stieß einen rauen, krächzenden Schrei aus, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.  Zwölf Schatten, schwarz wie der Tod sausten uns in atemberaubendem Tempo entgegen.
Ich spürte, wie Mark seine Muskeln anspannte. Er führte irgendetwas im Schilde. Etwas  saudoofes, durch und durch hirnrissiges.
Verschone sie,  flehte ich,  Bitte! Ich mach alles!
Die Raben waren nur noch wenige Meter von uns entfernt. Und sie wurden langsamer, fächerten die Flügel auf, streckten ihre Krallen vor, bereit jeden Augenblick zu landen. Mein Herz setzte für einen Schlag aus, als ich erkannte, was sie vorhatten.
Nicht Mark!

In anderen Geschichten, wäre das jetzt der Zeitpunkt gewesen, in dem der Hauptfigur der rettende Plan einfällt.
Aber alles was mir damals durch den Kopf ging war...nun ja... Nichts.
Ich war wie gelähmt. Konnte nichts tun, außer das Geschehen mit wachsendem Schrecken zu beobachten.

Vom einen Moment auf den anderen machte Mark einen entschlossenen Sprung seitwärts, versperrte mir mit seinen kräftigen Schultern den Blick. Ich konnte seinen Geruch riechen. Eine Mischung aus Rauch und Maschinenöl, die er nie ganz wegbekam, egal wie lange er nach der Arbeit auch duschte. Dazu frischer Schweiß.
Die Raben waren nun ganz nah. Ich konnte ihre Federn rascheln hören. Mit einem Mal, zuckte Marks Hand nach oben, krallte sich ein heiliges Federvieh. Es stieß einen schrillen Schrei aus und hackte nach den Fingern meines Bruders. Fluchend ließ er los und wurde noch im selben Moment überrollt von einer schwarzen Federwolke.
Sie umhüllte auch mich. Wir waren gefangen.
Dunkle Federn, schwarze Schwingen. Auf und Ab und hin und her.
Krah, Krah, Krah!

Mark blickte mich betroffen an.
In seinen großen, unglaublich sanften Augen lag der Schmerz der Welt.
In diesem Moment spürte ich, wie sich feine Krallen in meine Schulter bohrten.
Die Göttin hatte entschieden.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top