1. Kapitel


Die Leute sagen, nichts geht jemals wirklich zu Ende, denn jedes Ende ist ein Neubeginn.
Doch damals wusste ich noch nicht wie Recht sie hatten.

Angefangen hat alles an einem regnerischen Frühlingsmorgen. Ein frischer Wind fegte durch die Gassen und die ganze Stadt summte wie ein Bienenstock.
Es gab Gerüchte.
Schlimme Gerüchte.
Wie Flüsterpost jagten sie in der Stadt umher und wurden mit jedem Mal, dass man sie erzählte wilder und dramatischer.

Das war der Grund, weshalb ich an jenem Montagmorgen viel zu sehr damit beschäftigt war, meinen eigenen Gedanken nachzuhängen, um auf den Weg zu achten. Ich war der Meinung meinen Schulweg längst im Schlaf zu kennen. Tat ich ja eigentlich auch. Trotzdem hätte ich wohl besser aufpassen sollen. Vielleicht wäre dann alles ganz anders gekommen.
Zaarah, einer meiner besten - beziehungsweise eigentlich meine einzige wirklich gute Freundin, schien es ganz ähnlich zu ergehen.
Schweigend stapften wir nebeneinander her.
Es gab ja auch nicht viel zu sagen.

Wie beinahe jeden Morgen nahmen wir die Abkürzung durch ein von halbverfallenen Häusern geprägtes Viertel nahe dem Tal der fliegenden Messer, das angeblich zu den kriminellsten Regionen dieser Stadt gehörte. Ich will mir lieber nicht ausmalen, was passiert wäre, hätte meine Mutter davon Wind gekriegt.
Aber eigentlich war es ja nur ein kurzes Stück und bisher hatte ich nicht den Eindruck, dass diese Gegend wirklich so gefährlich war, wie alle immer behaupteten. Zumindest nicht bei Tag.
Als wir schnellen Schrittes um die Ecke in die kleine dunkle Gasse bogen, die immer nach Pisse und Moder stank, prallte ich mit einem Mal gegen etwas Weiches. Oder besser gesagt jemanden.
Die Person machte überrascht einen Schritt zurück, ruderte mit den Armen und verlor das Gleichgewicht. Es platschte leise auf der ungeteerten regendurchweichten Straße.
Die etwas zu groß geratene Kapuze des langen dunklen Wollmantels rutschte herunter und offenbarte ein bleiches, ebenmäßiges Gesicht mit dunklen Augen und Strähnen schwarzer Haare, die ungeordnet in die Stirn fielen. Für einen Moment starrten wir uns völlig perplex an. Ich hörte, wie Zaarah hinter mir überrascht nach Luft schnappte und sich rasch in den Matsch kniete. Dann sah ich es auch. Der Mantel des jungen Mannes vor mir war ebenfalls zur Seite gerutscht und offenbarte ein elegantes königsblaues Hemd auf dem eine etwa münzgroße silberne Stickerei mit dem Wappen der Adelsfamilie unserer Stadt prangte. Seine Augen weiteten sich, als er begriff, dass wir das Wappen gesehen hatten. Hastig bedeckte er es mit der Hand und starrte erst Zaarah dann mich mit großen Augen an.
Ich spürte, wie mir der Schweiß ausbrach als er sich langsam aufrichtete und versuchte den Dreck von seiner Kleidung zu klopfen, was die zähe braune Masse jedoch nur noch mehr verteilte. Er schüttelte angewiedert die Hände, als hoffe er die Schlammspuren damit abwerfen zu können. Mit einem missmutigen Laut reckte er das Kinn und starrte mich mit zusammengezogenen Augenbrauen abschätzig an. Es ist erstaunlich, wie schnell Gesichter ihre Ausstrahlung verändern können, wenn man starke Emotionen erlebt.
Ich schluckte, räusperte mich, um zu einer Erklärung anzusetzen.
Mein Kopf war wie leergefegt, meine Kehle staubtrocken.
Was sagte man in so einer Situation am besten?
Würde das Konsequenzen haben?

„Hat dir deine Mutter keinen Respekt beigebracht?"  fauchte er mich an.
Für einen Herzschlag stand ich wie versteinert da. Dann ließ ich mich langsam, fast schon mechanisch in den kalten Matsch sinken und versuchte, nicht an das Gesicht meiner Mutter zudenken, wenn sie die teure Schuluniform so sah.
Der Adelssohn rührte sich nicht vom Fleck.
Ich wartete, den Blick demütig gesenkt, während Kälte und Nässe durch meine Kleider krochen und das schnelle Schlagen meines Pulses in den Ohren wiederhallte.
Seine Kleider raschelten leise als er vor mir in die Hocke ging. Seine Stiefel starrten nur so vor Dreck. In dieser Hinsicht unterschied er sich nicht von allen anderen hier.
Langsam hob ich den Blick, sah in seine kalten nachtschwarzen Augen.
„Dieser Zwischenfall bleibt unter uns," zischte er. „Oder es wird Konsequenzen haben."
Dann stand er auf, wandte er sich abrupt um und stapfte davon.

Eingebildeter Wichtigtuer!
Ich hätte gute Lust gehabt ihm noch einen paar sehr unfreundliche Dinge nachzurufen. Aber da ließ sich nichts machen. Als Angehörige der Unterschicht stand es mir nun einmal nicht zu einen eigenen Willen oder gar eine eigene Meinung zu haben.
Wie in Zeitlupe stand in auf, den Blick fest auf die Gestalt im wogenden Wollmantel gerichtet, die eiligen Schrittes aus meinem Blickfeld verschwand.
Was genau tat ein Adelssohn an einem Ort wie diesem?
Das hier war ein Armenviertel. Reichere Leute machten da immer einen möglichst großen Bogen drum. Und wenn ich immer sage, dann meine ich auch immer.

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