Freunde


Oktober 1972

Der Gemeinschaftsraum der Slytherins war fast leer, als Gwendolyn ihn an diesem Nachmittag betrat. Die Siebtklässler hatten Unterricht und die meisten anderen Schüler verbrachten ihre Zeit in der Bibliothek, um den Schulstoff vorzubereiten oder nachzuarbeiten. Gwen gesellte sich zu einer kleinen Gruppe ihrer Klassenkameraden und ließ sich neben Malcom Mulciber auf dem Boden nieder.

»Hey Gwen«, begrüßte sie Elizabeth und sah sie mit hoffnungsvollem Gesicht an. »Du hast nicht zufällig deinen Kräuterkundeaufsatz schon fertig?«

Als Gwendolyn mit dem Kopf schüttelte, stöhnte sie auf und auch Edward Wilkes widmete sich wieder enttäuscht dem Buch auf seinem Schoß.

»Hätte ich nur Professor Beery zugehört«, fluchte Elizabeth und blätterte ziellos in ihrem Buch.

»Wer bitte, kann denn Beery länger als fünf Minuten zuhören‹?«, fragte Edward, ohne aufzusehen. »Ich war heilfroh als wir mit dem Alraunenumtopfen beginnen konnten – wegen der Ohrenschützer.«

Elizabeth kicherte und auch Gwen konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

Professor Herbert Beery liebte seine ›kleinen grünen Freunde‹, wie er sie immer nannte, sehr. Noch mehr allerdings liebte er das Theater. Er hielt sich nicht nur für einen wahren Pflanzenkenner, sondern auch für den besten Laiendarsteller in ganz Schottland. Mit der letzteren Meinung stand er zuweilen jedoch ziemlich alleine da.

Der Unterricht bei ihm war, abgesehen von seiner Art ihnvorzutragen, nicht schlecht. Doch wegen seiner theatralischen Ader endeten dieStunden nicht selten im Krankenflügel.

Zu Beginn ihres zweiten Schuljahres hatte er denUnterricht mit den Worten: »So geht ein Teil von mir dahin, doch noch mehrschmerzt mich das Ende dieser Stund'« beendet, nachdem eine junge VenemosaTentacula ihm die Kuppe seines linken Ringfingers abgebissen hatte, weil er mitweit ausholenden Armen vorführte, was mit jemanden passierte, der anstattSauerkirschen eine Handvoll Belladonna verzehrte.

Die Heilerin im Krankenflügel, Madame Pomfrey, hatte das allerdings wieder hinbekommen.

»Wir sollen die Besonderheiten der Alraunenzucht auf einer SeitePergament erörtern«, sagte Gwen, auf deren Gesicht noch immer ein Schmunzeln lag.

»Eine ganze Seite Pergament?«, moserte Malcom. »Ichkann mich nur daran erinnern, dass wir humusreiche Erde mit ein paar Steinchengemischt haben.«

»Ach ja?«, lachte Edward und stieß seinem Freund schmerzhaft in die Rippen. »Und die Ohrenschützer haben wir bloß getragen, weil die gerade in Mode sind?«

Elizabeth quietschte vor Lachen, während Gwen schon diepassende Seite im Buch gefunden hatte. Sie räusperte sich, um dieAufmerksamkeit auf sich zu ziehen und begann damit den Artikel laut vorzulesen,als sie durch ein Poltern abgelenkt wurden.

Nicht nur Blick, sondern auch die der anderen, schnelltenzu dem Eingang des Gemeinschaftsraumes, der im Dunkeln lag. Man hörte dieverzweifelte Stimme eines Jungen und kurz darauf stolperte Regulus Blackherein. Hilfesuchend sah er sich um und als er Gwendolyn erblickte, ruderte erwild mit den Armen und formte mit den Lippen stumm die Worte ›Hilf mir!‹.

Stirnrunzelnd sprang sie auf, warf Elizabeth ihr Buch in denSchoß und folgte Regulus aus dem Raum hinaus. In dem schmalen Gang, der sienach draußen führte, wurde sie bereits erwartet. Völlig aufgeregt keuchteRegulus: »Gwen schnell, mit Severus stimmt etwas nicht!«

»Severus?«

Regulus trat zur Seite und eröffnete den Blick auf etwas, dass Gwendolyn niemals als Menschen erkannt hätte, wäre sie zuvor nicht davon unterrichtet worden. Severus kauerte auf dem Boden. Seine Haare wucherten unaufhörlich vor sich hin und man sah inzwischen weder sein Gesicht noch seine Gliedmaßen.

»I-ich hab ihn so vor der Tür gefunden«, erklärte der Erstklässler hilflos. »Er kam nicht rein ... er konnte ja das Passwort nicht sagen.«

Gwendolyn schenkte Regulus kein Gehör. Kniete sich stattdessen auf den Boden und fragte: »Severus, was ist passiert?«

Er wimmerte nur bemitleidenswert.

Vorsichtig schob sie sein Haar zur Seite, um sein Gesicht freizulegen und da sah sie, dass auch seine Zähne unaufhörlich wuchsen. Sie reichten ihm bereits bis zum Kinn. Sie erkannte den Zauber als Densaugeo-Fluch, wagte es jedoch nicht selbst, mit dem Gegenfluch an ihrem Mitschüler zu experimentieren. Also tat sie das einzig Richtige in dem Moment.

»Hier, halt das!« Sie raffte die meterlangen und schweren Haare zusammen und übergab sie Regulus.

Er ergriff sie zögerlich und fragte verunsichert: »U-u-und wa-as machen wir jetzt?«

»Ihn in den Krankenflügel bringen oder hast du eine bessere Idee?«

Er schüttelte eingeschüchtert mid dem Kopf und gemeinsam machten sie sich auf den Weg in den ersten Stock. Dabei gaben sie ein seltsames Bild ab. Während Gwendolyn Severus stützte und beruhigend auf ihn einredete, ging Regulus hinterher, als würde er einen Brautschleier tragen. Zu ihrem Glück stand Madame Pomfrey sofort zur Verfügung und konnte Severus gleich behandeln.

Nach einer halben Stunde kam sie mit dem Slytherin zurück in den Warteraum, wo Gwendolyn und Regulus noch immer gespannt saßen.

Severus sah sauer aus, doch seine Zähne hatten wieder die übliche Größe und das Haar hing ihm jetzt zerfledderten bis auf die Schultern.

»Nette Frisur, Sev«, kicherte Gwen, die es augenblicklich bereute, da Madam Pomfrey gerade aus dem Zimmer hervortrat.

»Nun hören sie mal Miss«, schimpfte sie gereizt. »Ich bin Heilerin und nicht Friseurin! Und nun Abmarsch, raus!«

Keiner von ihnen wagte es zu widersprechen und so fanden sie sich Sekunden später in dem großen Korridor des Krankenflügels wieder. Severus schmollte noch immer. Gwendolyn konnte ihre Neugier jedoch einfach nicht zügeln, und als sie die Hälfte des Weges stumm nebeneinander hergelaufen waren, brach sie die Stille.

»So, Sev, jetzt erzähl schon, was passiert ist!«

Er ignorierte sie jedoch weiterhin und so musste sie abermals nachhaken.

»Rück schon mit der Sprache heraus! Wer war das? Du musst den Vorfall Professor Slughorn melden.«

»Nein!« Es waren die ersten Worte, die er hervorbrachte, seit sie losgegangen waren.

»Warum nicht? Der Verursacher muss bestraft werden«, beharrte Gwen. »Wer ist es gewesen?«

»Potter und Black!« Severus sprach die Namen aus, als seien sie ein übles Schimpfwort.

Gwendolyn entging nicht, dass Regulus zu Boden sah und sein Gesicht langsam die Farbe einer reifen Tomate annahm, weil Sirius Black sein älterer Bruder war.

»Gerade bei diesen beiden solltest du mitSlughorn sprechen. Das nimmt doch nie ein Ende.«

Es war kein Geheimnis, dass sich Severus, Sirius und Jamesnicht mochten. Nein, sie hassten einander geradezu. Die beiden Gryffindorswaren, im Gegensatz zu Severus, in ihrem Jahrgang sehr beliebt. Sirius Black,mit seinem charmanten Grinsen, brauchte nur mit seinen hübschen Augen zuklimpern und nicht nur die Gryffindor-Mädchen fielen ihm reihenweise zu Füßen.Aber James Potter stand ihm in nichts nach. Er war stets darauf bedacht, seineHaare so zu verstrubbeln, dass er aussah, als wäre er gerade erst vom Besen gestiegen.Schließlich sollte niemand vergessen, dass er seit Beginn des Schuljahres derJäger in der gryffindor'schen Quidditch-Mannschaft war.

Die beiden ließen keine Gelegenheit aus, um Severus zu quälen. DenGrund für ihre Feindschaft hatte Gwendolyn aber bislang noch nicht herausgefunden.

Sie kamen vor der steinernen Wand an, die den Slytherin-Gemeinschaftsraum verbarg und Gwendolyn bat Regulus darum, voranzugehen, um mit Severus unter vier Augen sprechen zu können. Es war ihm sichtlich unangenehm und er blaffte gereizt: »Was denn noch?«

Gwen schürzte die Lippen, doch für einen Rückzieher fand sie es bereits zu spät.

»Ich ... ich wollte eigentlich nur sagen ... auch wenn du nicht darauf zurückkommen willst, dass ... Also ... wenn du Hilfe brauchst, dann sag einfach Bescheid, ja?«

Zu ihrer Überraschung lächelte er plötzlich und Gwendolyn fiel vor Erleichterung ein Stein vom Herzen. Gemeinsam passierten sie den schmalen Durchgang, nicht wissend, dass sie am heutigen Tag den Grundstein für eine loyale und unerschütterliche Freundschaft gelegt hatten.

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