Baby



Kelvryn stand vor der massiven Tür seiner Eltern. Es war eine hohe, dichte Holzpforte, die in den alten Zeiten des Stammes von den besten Handwerkern des Dorfes gefertigt worden war. Die Tür war mit kunstvollen Schnitzereien verziert, die Szenen aus den Geschichten ihres Volkes darstellten – Bilder von tapferen Kriegern, die gegen Drachen kämpften, von Magiern, die das Feuer beherrschten, und von den Ahnen, die das Land eroberten. Die Tür war eine Quelle des Stolzes und zugleich ein Symbol der Verantwortung.

Er hatte lange gezögert, doch nun war er hier, vor dem Raum, der für ihn wie der Mittelpunkt seiner Welt war. Kelvryn schloss einen Moment die Augen und atmete tief ein. Der Duft von Harz und alten, vergilbten Schriftrollen, die von seiner Mutter und seinem Vater über Jahre hinweg gesammelt worden waren, stieg ihm in die Nase. Er klopfte dreimal fest an die Tür.

Ein Moment der Stille, dann ertönte das Geräusch von Schritten auf dem harten Holzboden. Vareth'yn Kal'zar, sein Träger, öffnete die Tür. Der Krieger war ein Mann von beeindruckender Größe und Ausstrahlung. Mit seiner schlanken, muskulösen Statur und dem langen schwarzen Haar, das über seine Schultern fiel, hatte er die Erscheinung eines Kriegers, der viele Schlachten überlebt hatte. Sein Gesicht war von scharfen Zügen geprägt, doch in seinen rubinroten Augen lag ein sanfter Ausdruck der Sorge, als er seinen Sohn erblickte.

„Sohn..." begann Vareth'yn, seine Stimme tief und beruhigend, doch bevor er den Satz beenden konnte, war Kelvryn bereits in seine Arme gefallen. Der junge Dunkelelf umarmte ihn fest, drückte sein Gesicht an die kalte, starke Brust seines Trägers und atmete tief den vertrauten Duft von Kräutern und Erde ein.

Die Worte, die Kelvryn aussprechen wollte, blieben ihm im Hals stecken. Seine Ängste hatten ihn erfasst, und in diesem Moment war alles andere unwichtig. Die Vorstellung, die Menschenkarawane auszuspionieren, sie zu beobachten, ohne entdeckt zu werden, erfüllte ihn mit einer tiefen, eisigen Furcht. Die Gefahr, die von den Menschen ausging, war real. Was, wenn sie ihn entdeckten? Was, wenn sie ihn töteten?

Ein leises Schluchzen entrang sich seiner Kehle.

Vareth'yn spürte sofort, was in seinem Sohn vorging, und zog ihn enger an sich. „Es ist in Ordnung, Sohn", sagte er leise, „Angst ist kein Zeichen von Schwäche. Jeder von uns hat diese Angst, vor allem, wenn das, was vor uns liegt, unbekannt und gefährlich ist. Du wirst stärker daraus hervorgehen."

Während er diese Worte sprach, öffnete sich die Tür zum Nebenraum, und Sorathryn Ssarath trat ein. Der Stammesführer, der Vater von Kelvryn, war ein Mann von imposanter Erscheinung. Er war groß, mit einer breiten, muskulösen Statur, die in einer natürlichen Art und Weise Autorität ausstrahlte. Seine Haut war von einem tiefen, fast schwarzen Grau, und sein scharf geschnittenes Gesicht, das von einer Narbe über die linke Wange gezeichnet war, ließ ihn wie einen Krieger aus den alten Legenden erscheinen.

Sorathryn trat zu seinem Sohn und legte eine starke Hand auf seine Schulter. „Sohn, du bist nicht allein", sagte er mit seiner tiefen, rauen Stimme, die wie das Grollen eines fernen Gewitters klang. „Wir werden dich immer unterstützen, egal, was du tust."

„Papa..." stotterte Kelvryn in der Sprache ihres Volkes, die in seiner Kehle wie Musik klang, doch jetzt klang sie zitternd. „Ich habe Angst."

Sorathryn kniete sich vor ihm nieder und sah ihm direkt in die Augen, seine violetten Augen funkelten im Kerzenlicht. „Es ist in Ordnung, Angst zu haben. Du bist unser Sohn, und wir wissen, dass du stark bist. Du wirst diese Aufgabe meistern."

Beide Väter umarmten ihn dann gleichzeitig, drückten ihn fest an sich, als wollten sie ihm Kraft spenden.

Das Zimmer, in dem sie sich befanden, war schlicht und doch von einer tiefen, uralten Schönheit. Es war der Mittelpunkt des Hauses, ein Raum, der sowohl dem Geist als auch dem Körper Schutz und Wärme bot. An den Wänden hingen verschiedene Trophäen von vergangenen Kämpfen – Schwerter, Pfeile und Rüstungen, die das Erbe ihres Stammes symbolisierten. Regale voller Bücher und Schriftrollen reichten bis zur Decke. Auf einem großen Steintisch lag eine Karte des Landes, die die Grenzen ihres Stammes, die Jagdgebiete und die geheimen Pfade, die sie durch den Wald führten, zeigte. Ein wärmendes Feuer brannte im Kamin und warf tanzende Schatten an die Wände. Der Raum war ruhig, fast ehrfurchtgebietend.

Kelvryn zog sich nach einem Moment der Stille aus der Umarmung zurück. „Ich werde es tun", sagte er mit fester Stimme, doch in seinen Augen war noch immer die Unsicherheit zu erkennen. „Ich werde die Menschenkarawane beobachten und herausfinden, was sie vorhaben. Ich komme zurück, das verspreche ich."

Mit einem letzten Blick auf seine Väter wandte sich Kelvryn ab und verließ das Zimmer. Die Tür schloss sich hinter ihm mit einem leisen, dumpfen Geräusch, und der junge Dunkelelf machte sich auf den Weg.

Die Reise zum Lager

Der Wald empfing ihn mit seiner vertrauten, aber dennoch unheimlichen Stille. Kelvryn bewegte sich geschmeidig durch die schmalen Pfade des Waldes. Die Bäume standen dicht beieinander, ihre Äste wogen sich im Wind und schirmten das Licht des Mondes ab. Die Nacht war kalt, aber der junge Dunkelelf spürte nicht die Kälte, die in der Luft lag. Vielmehr war es ein Gefühl der Unruhe, das ihn begleitete, ein mulmiges Gefühl, das sich wie ein unsichtbarer Nebel um ihn legte.

Seine Augen, von einem tiefen Rubinrot, suchten jede Bewegung im Dunkeln, jede flimmernde Schatten. Er spürte, wie seine Hand den Stab fester umklammerte, der aus starkem, schwarzen Holz gefertigt war und mit leuchtenden Runen verziert war. Der Stab war nicht nur ein Zeichen seines Standes, sondern auch ein Werkzeug seiner Macht. Es gab viele Geheimnisse, die er noch nicht ganz verstand, aber er wusste, dass er eines Tages die volle Kraft seines Erbes entfalten würde.

Doch jetzt war es die Unruhe, die ihn quälte. Ein Gefühl, das sich in seinem Magen ausbreitete und immer stärker wurde. Etwas stimmte nicht. Er konnte es nicht genau sagen, aber es war, als ob der Wald selbst eine Bedrohung in der Luft trug.

Mit jedem Schritt spürte er das Gewicht der Mission, das auf seinen Schultern lastete. Was, wenn er entdeckt wurde? Was, wenn seine Feinde hinter ihm her waren? Gedanken wie diese quälten ihn, doch er zwang sich, ruhig zu bleiben.

Er hörte plötzlich ein Geräusch. Ein Knacken von Zweigen. Ein Rascheln im Unterholz. Schnell drehte er sich um, doch es war nur ein Tier, das sich durch das Unterholz bewegte. Er atmete erleichtert auf und fuhr fort.

Nach einer Weile, als er den Rand des Waldes erreichte, kam er an dem Ort an, an dem die Karawane hätte lagern sollen. Doch was er sah, ließ ihn erstarren.

Die Wagen waren umgekippt. Ihre Räder zerbrochen. Überall brannten kleine Feuer, und der Rauch hing schwer in der Luft. Der Boden war mit Leichen bedeckt – Menschen, die brutal ermordet worden waren. Ihre Körper lagen in verschiedenen Positionen, als hätten sie im Kampf gegen eine überlegene Macht keine Chance gehabt. Das Blut, das aus ihren Wunden trat, war fast schwarz im schwachen Licht der Flammen.

Kelvryn blieb einen Moment wie angewurzelt stehen. Der Geruch von Blut und Rauch stach ihm in die Nase, und das Bild, das sich ihm bot, war zu schrecklich, um es zu begreifen. „Was ist hier passiert?", flüsterte er ungläubig.

Langsam trat er näher. Vorsichtig, immer auf der Hut, da er nicht wusste, ob der Angreifer noch in der Nähe war. Doch dann hörte er ein Geräusch – ein Weinen, ein Schrei. Ein weinerliches, hohes Geräusch, das ihn erschauern ließ. Ein Baby.

„Woher kam das?", fragte er sich, als er dem Geräusch folgte.

Hinter einem großen Felsen fand er es schließlich – ein Baby, das in den Trümmern der zerstörten Karawane lag. Doch dieses Baby war anders als jedes andere, das er je gesehen hatte.

Das kleine Wesen hatte zarte, durchsichtige Flügel, die an die eines Adlers erinnerten. Doch das war nicht das Erstaunlichste. Das Baby hatte ein Gesicht, das in drei Hälften unterteilt war. Die obere Hälfte war schwarz wie die Nacht, die mittlere war schneeweiß, und die untere Hälfte leuchtete in einem tiefen Rot. Der Körper war ebenfalls von einem rötlichen Farbton, doch er hatte keine Schuppen. Es war kein Kind, wie Kelvryn es sich vorgestellt hatte, doch in seinen blauen Augen erkannte er eine Unschuld, die mit nichts auf der Welt zu vergleichen war.

Kelvryn kniete sich nieder und streckte eine Hand aus. Wie ein Reflex berührte er das weiche, warme Handchen des Babys. Es war sanft, fast als ob es ihn erkannte, doch es sagte kein Wort. Und in diesem Moment wusste Kelvryn, dass seine Reise nicht nur eine Mission war – sie war der Beginn einer neuen, geheimen Aufgabe.

„Was bist du?" flüsterte er, doch das Baby antwortete nicht.

Mit einem letzten Blick auf die Zerstörung um ihn herum hob er das Baby vorsichtig auf und trug es in den sicheren Wald. Was auch immer dieses Wesen war, es war nun sein Schützling.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top