Kapitel 6
Jade:
Ich starre auf die Wand in meinem Schlafzimmer. Nervös drehe ich das Springmesser in meiner Hand und stecke es schließlich in meine Reisetasche. Sicher ist sicher. Man weiß nie, was mich erwartet. Als Marcus vorhin reingekommen ist und das Gespräch mit Callum mitbekommen hat, ist er richtig ausgeflippt und ich habe gesehen, dass er unter seiner Jacke eine Pistole trägt. Ich habe Angst. Leider kenne ich diese Art von Typen, die einen bedrohen, nur damit man etwas nicht verrät, zu gut. Mein früherer Freund war so. Er hat mich geschlagen und mich angeschrien, bis ich es dann geschafft habe, zu flüchten. Seitdem bin ich sehr vorsichtig, was Männer angeht. Doch dass Marcus solch ein mieses Arschloch ist, hätte ich nicht gedacht. Wieder jemand, dem ich mein Vertrauen geschenkt habe und der damit rumgespielt hat.
Ich will nur weg von hier, doch Marcus sitzt im Wohnzimmer und ich habe Angst, dass er mich nicht gehen lässt. Meine Sachen hab ich schon gepackt, aber ob ich damit weit komme? Marcus hat, kurz nachdem er wiedergekommen ist, Thompson angerufen. Was ist, wenn der schon vor der Tür steht?
Und wenn ich Callum anrufe und ihm sage, dass ich hier nicht wegkomme? Vielleicht kann er helfen? Nein. Das zeigt Schwäche. Und ich will keine Schwäche zeigen.
Mutig stehe ich auf, nehme meine Reisetasche und verlasse das Schlafzimmer. Ich würdige Marcus keines Blickes, als ich am Wohnzimmer vorbei zur Haustür stapfe und meine Schuhe anziehe. Ich habe meine Hand schon auf der Türklinke, als –
„Wo willst du hin?“, höre ich plötzlich Marcus. Seine Stimmlage verrät mir, dass er nicht besonders begeistert ist.
„Zur Kanzlei“, sage ich. Es stimmt ja sogar. Dass ich allerdings nur dort hin gehe, um mich in Sicherheit zu bringen, braucht Marcus nicht zu wissen.
„Um die Uhrzeit? Und warum schleppst du deine Reisetasche mit dorthin?“, fragt Marcus und ich merke, dass er mir nicht glaubt. Was soll ich jetzt tun? Einfach die Tür aufreißen und den Überraschungsmoment nutzen, um zu fliehen? Oder Marcus anlügen und hoffen, dass er es nicht herausfindet. Ich entscheide mich für zweiteres.
„In der Tasche sind wichtige Akten, die ich vorhin mit nach Hause genommen und angesehen habe. Jetzt nehme ich sie mit zurück zur Kanzlei. Ein Problem damit?“, sage ich.
„Ja genau, und ich bin der Osterhase!“, lacht Marcus höhnisch. Verdammter Mist! Der Plan hat nicht geklappt. Er glaubt mir nicht. Also Plan B. Ich warte auf den richtigen Moment, dann reiße ich die Tür auf. Für einen Moment ist Marcus überrascht, doch bevor ich hinauslaufen kann, greift er mich am Arm und zieht mich hinein. Er drückt mich gegen die Wand und sieht mich wütend an.
„Tut mir leid, Prinzessin, aber du musst leider hier bleiben“, spricht er in bedrohlicher Stimmung.
„Lass mich los!“, rufe ich und versuche, mich aus seinem Griff zu befreien. Doch Marcus hat einen festen Griff, dem man kaum entkommen kann. Ich trete mit dem Knie in seinen Magen, woraufhin er vor Schmerz zusammenzuckt, doch nicht nachlässt. Stattdessen gibt er mir eine heftige Ohrfeige und ich zucke zusammen.
Komm schon, Jade. Du hast zwei Jahre lang geboxt. Wo ist das Wissen hin?, mache ich mir Mut. Mit letzter Kraft hebele ich mein Knie erneut in die Magengegend und nutze den Moment der Überraschung, in dem ich meinen Arm befreie und auf Marcus anderen Arm hämmere. Er zuckt zusammen und weicht von mir.
Das ist mein Augenblick! Ich renne los, springe die Treppen förmlich hinunter, sause zur Tür hinaus und sprinte den Gehweg entlang. Mein Auto zu holen, dauert zu lange, zumal ich bemerke, dass Marcus mir nach einigen Sekunden folgt. Ich habe etwas Vorsprung, doch Marcus ist größer und schneller als ich. Er wird mich sicher einholen.
Plötzlich ein Knall!
Ich zucke zusammen und drehe mich um. Ich sehe, wie Marcus langsam zu Boden gleitet und dort regungslos liegen bleibt. Eine Blutlache bildet sich.
Was ist passiert? Erschrocken entdecke ich, wie ein Pick-Up in einiger Entfernung am Straßenrand steht und ein Mann einsteigt. Hat er da etwa eine Pistole? Oh Gott! Wenn das nun Thompson ist? Will er mich auch erschießen? Ich muss weg!
So schnell es geht, renne ich wieder los, flitze um die nächste Ecke und renne auf die Ampel zu, die zu meinem Pech gerade auf rot umschaltet.
Wie verrückt hämmere ich gegen den Sensor, der die Fußgängerampel nach wenigen Minuten auf Grün schalten lässt. Doch diese Minuten fühlen sich wie Stunden an.
Endlich springt das Männchen auf Grün und ich hetze über die Straße. Es ist nun nicht mehr weit bis zur Kanzlei, trotzdem gebe ich noch einmal alles.
In einem Schaufenster entdecke ich, dass Marcus‘ Ohrfeige seine Spuren hinterlassen hat. Ein Kratzer, vermutlich von seinem silbernen Ring, den er immer trägt, verläuft quer über meine linke Wange. Verdammt!
Endlich erreiche ich die Kanzlei, stürme hinein und renne an Mary-Ann vorbei.
„Herrgott! Jade! Was ist denn mit Ihnen passiert?“, fragt sie erschüttert. „Der Kratzer in ihrem Gesicht sieht nicht gut aus!“
Ich bin zu viel zu müde und erschöpft, um ihr zu antworten. Also reiße ich die Tür zu Callums Büro auf und husche hinein. Endlich komme ich dazu, Luft zu holen und merke, wie stark ich zittere.
***
Geschrieben von Alexandra
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