Kapitel 16
Joe
Ich weiß nicht, wie lange ich schon auf die Stelle starre, an der Jade entführt worden war. In meinem Kopf erscheinen immer wieder die letzten Sekunden, bevor sie in einen weißen Van gezogen wurde. Ich hatte meine Waffe gezogen, auf die beiden Entführer geschossen, doch nicht getroffen. Stattdessen hatte ich, was ich deutlich schlimmer finde, Jade in einem Streifschuss getroffen! Das kann ich mir nicht verzeihen.
Zitternd sitze ich auf dem Boden und halte meine Waffe in der Hand. Vielleicht sollte ich mich einfach umlegen? Es ist schließlich meine Schuld, wenn Jade an Blutverlust sterben würde. Mein Blick verschwamm und ich kniff die Augen zusammen, während ich mich in die Ecke der Gasse kauere.
Ich höre die Kavallerie anrücken und fange noch mehr an zu zittern. Was würde mein Boss dazu sagen, dass ich auf eigene Faust mit einer Rechtsanwältin aus Deutschland, die verdammt noch mal entführt wurde, ermittelt habe? Bei meinem Glück würde ich suspendiert werden oder schlimmer - gefeuert.
Ich wollte Jade helfen, und hab nicht damit gerechnet, dass das so gefährlich wird. Es ist also allein meine Schuld, dass sie nun entführt wurde. Ich hasse mich dafür, ich hätte besser aufpassen müssen. Meine Waffe ziehen müssen, als Jade die Gasse betreten hatte. Vermutlich war der Jeep nur ein Köder, um Jade zu entführen.
„Joe! Partner!", höre ich eine Stimme. Die Polizei ist da. Und mit ihr mein Partner Liam. Wir arbeiten zusammen und ihm vertraue ich am meisten. Nur erzählt von Jade habe ich ihm nicht.
Ich öffne meine Augen. Liam kniet direkt vor mir. Er weiß von meinen Zweiflern und dass ich mir schnell die Schuld gebe. Und auch weiß er, wie man damit umgehen muss.
„Joe, hey, was ist passiert?", fragte Liam und sah mich ernst an.
Ich erzähle ihm im Schnelldurchlauf, was passiert ist und sehe ihn dabei nicht an. Ich habe Angst, in seinem Gesicht Wut, oder Trauer zu sehen, weil ich ihm nicht vorher davon erzählt hab.
„Hey, Joe, wir finden deine Freundin, versprochen", sagte Liam und zieht mich auf die Beine und bringt mich vom Tatort weg.
Am nächsten Tag sitze ich auf einer Bank dort, wo Jade und ich uns genau vor zwei Monaten getroffen hat. Ich starre auf die Themse, die wie immer still da liegt und unter der Tower Bridge entlangfließt. Immer wieder muss ich an Jade denken, als sie vor ein paar Jahren schon mal hier war und ich ihr eine Stadtführung gegeben habe. Sie war begeistert von der Tower Bridge und hatte das große Glück, zu sehen, wie die Brücke sich öffnete. Ach Jade. Und jetzt bin ich nicht sicher, ob sie überhaupt noch am Leben ist.
„Joe Roberts?", reißt mich plötzlich eine Stimme aus den Gedanken. Ich zucke zusammen und drehe mich nach rechts, von wo aus die Stimme gekommen ist. Dort steht ein Mann im Anzug mit dunkelblondem Haar. Er sieht mich fragend an und ich merke, dass er eine Antwort erwartet.
„Yes that's me", antworte ich, da ich davon ausgehe, dass die Person englischer Herkunft ist. Doch sobald der Mann weiterspricht, höre ich, dass sie Deutsch ist.
„Excuse me, but my name is Callum Baton. I'm Jade Harper's boss. Is she here? I would like to see her."
„Wir können uns auch auf Deutsch unterhalten", sagte ich und der Mann ist überrascht. Er hat wohl nicht gedacht, dass ich Deutsch kann, dabei habe ich dreiundzwanzig Jahre dort gelebt. Natürlich kann ich Deutsch. Doch um nicht unhöflich zu sein, beantworte ich gleich noch seine Frage. „Jade ist ..." Ich kann es einfach nicht aussprechen. Zu sehr geht es mir ans Herz und mir steigen Tränen in die Augen. „Sie wurde gestern entführt. Von zwei Leuten."
„Sie wurde was?!", ruft der Mann aus und sieht mich geschockt an.
„Ja. Aber was wollen Sie von ihr? Und woher kennen sie meinen Namen?", frage ich und stehe auf.
„Jade hat meiner Angestellten von Ihnen erzählt und dass sie hier ist, um einen Fall aufzuklären. Daraufhin bin ich gleich hierhergeflogen", erklärt mir der Mann. „Wir müssen Jade finden!"
„Scotland Yard ermittelt schon in dem Fall. Aber ich wurde suspendiert, weil ich Jade beim Ermitteln geholfen habe. Sie sollten also mit meinem Boss sprechen", teile ich mit.
„Aber Sie haben doch die letzten zwei Monate mit dem Fall zu tun gehabt, richtig?", fragte der Mann. „Vielleicht können wir zwei uns auf die Suche nach Jade machen. Wir beide kennen Jade am besten und sie wird einen Weg finden, sich zu befreien, richtig?"
Ich nicke und überlege, ob ich wieder auf eigene Faust ermitteln soll. Selbst, wenn ich meinen Job verliere, dann für Jade.
Jade
Langsam komme ich wieder zu Bewusstsein. Mein Kopf tut weh und auch mein Bein brennt höllisch. Ich wage es erst gar nicht, die Augen zu öffnen, doch schließlich tue ich es doch. Ich befinde mich in einem dunklen Raum. Meine Hände und Füße sind gefesselt und vor mir auf dem Tisch liegt meine Waffe. Na toll! So nah und doch unerreichbar, denn bewegen kann ich mich kaum, ohne dass es weh tut. Wenn ich nicht bewusstlos hier her gebracht worden wäre, hätte ich mein Gedächtnis einsetzen können, um zu wissen, wo ich bin. Ich kannte Londons Straßen auswendig.
Warum hatten mir Meredith und Henry die Waffe eigentlich nicht als erstes entwendet? Und warum liegt sie da jetzt auf dem Tisch?
Ich versuche mich aus den Fesseln zu befreien, doch sie sitzen eng und ich habe wenig Hoffnung, dass ich sie lösen kann.
Okay, Jade, konzentriere dich! Ich muss mir einen scharfen Gegenstand suchen, dann kann ich die Fesseln lösen. Wie gut, dass mir mein Vater, der in Deutschland Privatdetektiv ist, sowas beigebracht hat. Eigentlich hat er mir alles beigebracht, vom Fingerabdruck nehmen bis zum Kämpfen, wenn man angegriffen wurden, sogar schießen auf dem Schießstand hatte mein Vater mir beigebracht, ich hatte fest vor, zur Polizei zu gehen, doch dann kam meine Mutter mit dem Jurastudium um die Ecke und wollte unbedingt, dass ich Anwältin werde. Was tut man nicht alles für seine Eltern?
Doch mein Wissen aus meiner Jugend kann ich nun anwenden.
Ich suche die Wand ab, an der ich sitze und finde einen Nagel, der heraussteht. Nun heißt es scheuern. Ich reibe meine Fesseln mit starkem Druck an dem Nagel. Ewig zieht sich das hin und meine Hoffnung sinkt, dass es funktioniert, doch dann! Dann spüre ich, wie das Seil lockerer wird und schließlich abfällt. Meine Hände sind frei! Ich löse die Fesseln an meinen Beinen und untersuche mein Bein, welches schmerzt. Es hat jemand auf mich geschossen! Verdammt. Aber es sieht nur nach einer Fleischwunde aus. Ich ziehe mein T-Shirt, welches ich über dem schwarzen Rollkragenpullover trage, aus und drücke es auf die Wunde, dann nehme ich eines der Seile und binde das T-Shirt auf der Wunde fest. Hoffentlich hält der provisorische Verband, bis ich hier raus bin.
Schnell greife ich mir die Waffe und suche nach einem Ausgang, den ich nach ein paar Minuten auch finde. Eine Tür, doch sie ist verschlossen. Allerdings haben die Entführer schlechte Arbeit geleistet, denn in meinem dickbesohltem schwarzen Schuh befindet sich eine Haarnadel, die ich dort hineingesteckt habe. Nachdem ich meinen Schuh ausgezogen habe, hole ich die Nadel heraus und ziehe dann den Schuh heraus. Wenn ich Glück habe, hat die Tür nur ein einfaches Schloss, welches man leicht knacken kann. Also stecke ich die Nadel ins Schloss und ruckle etwas herum. Schließlich springt die Tür leise auf und ich grinse. Hat mal wieder funktioniert!
Wo befinde ich mich eigentlich? Ich sehe mich in einem kleinen Flur um, dessen Wände dreckig und grau sind. Die Decke ist hoch, was mich darauf schließen lässt, dass ich mich in einer alten Fabrik befinde.
Plötzlich höre ich Stimmen, die aus einem Raum ein Stück weiter vorne zu kommen scheinen. Leise husche ich durch den Gang zum besagten Raum, dessen Tür nur angelehnt ist.
„Verdammt, wegen dieser Anwältin wäre Projekt C73 fast aufgeflogen, James! Wir müssen vorsichtiger sein, diese Anwältin kommt uns verdächtig nah! Sie darf nichts von unseren Plänen erfahren, James!" Die Stimme gehört eindeutig Thompson. Und mit der Anwältin bin ich gemeint. Doch was ist Projekt C73? Ich höre weiter zu.
„Reg dich nicht so auf, Henry. Wir haben Sie doch entführt, die kommt uns nicht mehr in die Quere. Mach dir da mal keine Gedanken. Die solltest du eher auf unseren Plan lenken. Hast du schon mit Mr Vincent Corleone gesprochen? Ist er bereit?", sprach der andere Mann, dessen Name James war.
Vincent Corleone! Das war doch dieser britische Unterweltboss. Ich habe mal einen Artikel über ihn gelesen. Sein Spitzname ist „The Cobra". Ich muss mehr über den Typen herausbekommen. Und vor allem muss ich wissen, was C73 ist und was ein Unterweltboss, ein Mörder und dieser mysteriöse James damit zu tun haben. Ich glaube, ich bin hier auf größeres gestoßen!
Ich lausche noch eine Weile, doch die beiden unterhalten sich nur noch über belangloses Zeugs. Also starte ich einen Fluchtversuch. Laufe den Gang entlang und finde schnell einen Ausgang. Merkwürdig, dass ich so einfach fliehen kann. Doch eigentlich ist es gut.
Jetzt muss ich untertauchen, damit mich die beiden nicht finden. Den Plan zum Untertauchen habe ich im Flugzeug hierher vor zwei Monaten entwickelt, falls ich wirklich in etwas gefährliches geraten würde. Ich hatte eine Wohnung auf den Namen Julia Hanson gemietet, zu der ich mit einem Taxi fahre. Die Fabrik, in der ich gefangen gehalten wurde, liegt etwas außerhalb und so nutze ich die Zeit und präge mir den Weg zu besagter Fabrik ein, um später herauszufinden, auf welchen Namen sie läuft.
Als ich in meiner neuen Wohnung ankomme schnappe ich mir gleich den Laptop, den ich hier untergebracht und mit dem ich Zugang auf sämtliche Datenbanken habe, und gebe in die Suchzeile „Vincent Corleone" ein. Sogleich erscheint ein Text über sein Leben.
Vincent Corleone alias „The Cobra" Verbrecherboss des Jahrhunderts!
Vincent Corleone wurde in einem heruntergekommenen Viertel von London geboren. Er wuchs in einer Familie mit italienischen Wurzeln auf und wurde früh mit den Realitäten des Straßenlebens konfrontiert.
Als junger Mann verlor Vincent seinen Vater bei einem mysteriösen Vorfall, der nie aufgeklärt wurde. Vincent fand sich bald in den Kreisen der organisierten Kriminalität wieder, wo er seine Fähigkeiten als Geschäftsmann und Anführer entwickelte. Sein Spitzname „The Cobra" stammt von seiner rücksichtslosen und blitzschnellen Entschlossenheit, seine Feinde auszuschalten.
Vincent Corleone baute im Laufe der Jahre ein weitreichendes kriminelles Imperium auf. Er kontrolliert illegale Glücksspiele, Drogenhandel, Schutzgelderpressung und andere kriminelle Aktivitäten in London. Sein Einfluss erstreckt sich weit über die Stadtgrenzen hinaus.
Vincent ist bekannt für seine eiskalte Entschlossenheit und seine undurchdringliche Fassade. Er ist ein Mann von wenigen Worten und handelt meist im Verborgenen, was seine Gegner oft in die Irre führt.
Ich atme tief ein und aus. Das ganze kann ich unmöglich allein durchziehen. Ich brauche jemanden, dem ich zu hundert Prozent vertrauen kann und der auch mal über Grenzen geht.
Ich weiß nicht warum, aber ich muss an Callum denken. Vielleicht ist er nicht einer, der über Grenzen geht, doch ihm kann ich vertrauen. Und wenn Corleone wirklich in diesem Fall mit drinnen steckt, dann kann ich den Fall nicht allein lösen. Und ich will ihn nicht der Polizei übergeben. Dafür stecke ich zu tief drinnen.
Soll ich Callum anrufen? Ich bin mir unsicher.
***
Geschrieben von Alexandra
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