Kapitel 14
Jade
Ich habe mittlerweile eine neue Wohnung gefunden und mich eingelebt. Es ist wenigstens etwas Normalität eingekehrt, ich begleite Callum zu Treffen mit Mandanten, über den eigentlichen Fall Henry Thompson und dessen Absichten reden wir aber nicht. Ich weiß nicht, ob er sich noch dafür interessiert. Vielleicht denkt er, die Sache ist abgehakt. Für manche Menschen wäre sie das vielleicht. Für mich allerdings nicht. Es gibt keine neuen Spuren, das glaubt er zumindest. Aber es gibt immer noch Spuren, die ich verfolgen muss.
Nach Marcus Verrat bin ich immer noch vorsichtig, und so habe ich auch beschlossen, dem mysteriösen Fall allein aufzuklären. Wichtig ist: Er darf davon nichts mitbekommen. Ich weiß nicht, ob Callum dann wütend auf mich ist, aber ich hab schon immer den Drang gespürt, viel allein zu machen.
Ich muss immer wieder an den Tag denken, wo wir uns geküsst haben. Ja, es war ein schöner Augenblick, aber ich habe gemerkt, dass es einfach zu früh ist. Ich habe diese schönen Erinnerungen mit Marcus, wir waren in den USA, in Paris und in London – In London! Das war Sommer 2021 gewesen! Marcus hat sich einen Nachmittag für sich genommen. Was wenn ...
Darüber sollte ich mir später Gedanken machen, denn mein Taxi steht vor der Tür, welches mich zur Anwaltskanzlei fahren soll.
Ich sammle meine Sachen zusammen und steige die Treppen hinunter zum Taxi, steige ein und nenne dem Fahrer mein Ziel. Er fährt los und ich starre aus dem Fenster. Wir nähern uns Dortmund, da meine Wohnung etwas außerhalb liegt. Ich mag es hier, wo es nicht so laut ist, wie in der Stadtmitte.
Bei der Kanzlei halten wir an und ich bezahle für die Strecke, bevor ich aussteige und die Kanzlei betrete. Sofort setze ich mich an meinen Schreibtisch und schalte den Computer an. Heute gibt es eine Vielzahl an Papierkram zu erledigen und ich lege gleich los, um schnell fertig zu werden.
Einige Stunden später habe ich Mittagspause, doch ich bleibe an meinem Arbeitsplatz sitzen. Ich habe einen Entschluss gefasst. Ich muss nach London. Denn dort hin führen all diese Spuren. Der Jeep, der auf Meredith Lewis zugelassen ist, wurde nämlich auf einer Fähre zurück nach London gesichtet. Ich muss einfach dort hin. Ich kenne dort einen alten Schulfreund, der beim Scotland Yard ist. Mit viel Glück hilft er mir. Ich habe bereits einen Waffenschein für London beantragt, um mich zu schützen. Doch nun muss ich Callum irgendwie von einer spontanen Reise erzählen, denn ich habe für Morgen einen Flug gebucht.
Gerade kommt Callum aus seinem Büro, um Pause zu machen und sieht mich fragend an, weil ich keine Anstalten mache, mein Büro zu verlassen.
„Jade? Es ist Mittagspause. Ist alles in Ordnung? Es ist schönes Wetter draußen“, fragt er.
„Alles gut, allerdings gibt es da etwas, über das ich mit dir sprechen muss“, antworte ich und stehe auf.
„Klar.“ Er sieht mich erwartungsvoll an.
„Ich möchte gern morgen und die nächsten Wochen Urlaub nehmen, es gibt da eine Privatangelegenheit in meiner Familie und ich muss dringend nach Leverkusen“, lüge ich, damit Callum kein Verdacht schöpft.
„Oh, das tut mir leid!“ Callum senkt mitfühlend den Kopf. „Nimm dir so viel Zeit, wie nötig, Jade. Ich ziehe das nicht von deinem Urlaub ab.“
Ich bin ihm dankbar dafür, andererseits fühle ich mich schlecht, weil ich gar nicht nach Leverkusen, sondern nach London reise. Aber dafür kann ich mich im Nachhinein entschuldigen. Nun kann ich erst mal froh sein, dass ich nach London kann.
Einen halben Tag und einen eineinhalb Stunden Flug später befinde ich mich endlich in the City of Westminster, dem Stadtteil von London, wo das Scotland Yard Gebäude liegt. Vom Heathrow-Airport bin ich mit einem Taxi gleich hier her gefahren, wo ich mit Hilfe meines Polizei-Freundes ein kleines Apartment gemietet habe. Im Hotel zu leben ist auf längeren Zustand einfach zu teuer. Und ich weiß noch nicht, wie lange ich bleiben werde. Ich bin mir bewusst, dass ich damit die Arbeit in Deutschland vernachlässige, aber ich könnte nicht normal leben, wenn ich den Fall fallen lasse.
Nun stehe ich vor dem Sitz von Scotland Yard und warte auf meinen Freund Joe, der sich mit mir hier draußen treffen wollte.
Plötzlich hält mir jemand die Augen zu und lacht. Ich erkenne die Lache und muss auch grinsen.
„Joe! Lass das.“ Er kommt hinter mir hervor und grinst mich mit seinem breiten, strahlenden Lachen an. Seine schwarzen Haare hängen ihm etwas über die Augen und sind stark verwuschelt, außerdem trägt er einen Mantel, eine schicke schwarze Anzughose und Lederschuhe. So kenne ich ihn. Joe Roberts. Detective beim Scotland Yard.
Ich umarme ihn und er mich. Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen? Ich kann mich nicht daran erinnern. Ich hatte nur gestern Abend mit ihm telefoniert und ihn in alles eingeweiht. Er war sofort bereit, mir zu helfen.
Und nun stehen wir hier an der Themse und ich erkläre ihm meinen Plan, das Auto von Meredith Lewis zu finden und mehr Informationen zu bekommen. Wir machen uns sogleich auf den Weg zu seinem Büro und suchen den Wagen auf Verkehrskameras. Doch kein Erfolg.
Die nächsten Wochen trafen wir uns täglich und suchten nach dem Auto, besichtigten die alten Tatorte, befragten die Zeugen von damals erneut, lasen alte Zeitungsberichte und sponnen Theorien. Wir suchten mehr über Marcus und Thompson heraus und entdeckten, dass Marcus in seiner Jugend bereits ein paar Straftaten begangen hat. Und auch Thompson landete das ein oder andere Mal im Kittchen. Schließlich fassten wir den Entschluss, dass sie beide sich in einer Jugendanstalt kennen gelernt haben mussten.
An meine eigentliche Arbeit in Deutschland denke ich nur selten. Callum hat mich oft angerufen, doch ich hatte zu der Zeit mein Handy auf Lautlos und bekam nichts von seinen Anrufen mit. Und spät abends wollte ich ihn dann auch nicht aus dem Bett klingeln. Ob er sich von Jessica getrennt hat, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass er langsam misstrauisch werden muss, denn ich bin nun schon zwei Monate weg und habe mich nicht einmal gemeldet. Ich weiß, das ist ziemlich scheiße von mir, aber ich bin irgendwie nicht dazu gekommen.
Nun sitze ich in meinen Apartment und warte darauf, dass Joe mich abholt. Wir haben endlich eine Spur! Der Wagen wurde ganz in meiner Nähe gesichtet und wir wollen nun dorthin. Sicherheitshalber stecke ich mir meine Waffe, die ich mittlerweile besitze, in mein Holster, welches ich von Joe zu meinem Geburtstag vor einer Woche bekommen habe. Joe ist mir in den vergangenen Wochen echt nah gekommen, doch nur auf freundschaftlichem Niveau. Irgendwas hält mich davon ab, eine Beziehung mit ihm einzugehen. Oder irgendjemand ...
In diesem Moment klingelt es und ich schnappe mir meinen Mantel und meinen Wohnungsschlüssel und verlasse die Wohnung. Ich steige die Treppe hinunter und öffne die Tür. Joe steht dort und lächelt mich an, ich erwidere es, und setze mich auf den Beifahrersitz seines Wagens. Wir fahren schweigend zu der Stelle, wo der Wagen auf einem Parkplatz gesichtet wurde und sind überrascht, als der Wagen noch immer da steht.
„Sieh nur, Joe! Dort steht er!“ Aufgeregt springe ich aus dem Wagen, als wir halten und laufe zu dem Wagen. Er ist zu meinem Bedauern leer, doch durch die Scheiben kann ich erkennen, dass auf der Rückbank eine Decke liegt, die in der Mitte etwas ausgebeult ist. Liegt da vielleicht eine Waffe drunter?
Joe tritt neben mich und sieht ebenfalls die Decke.
„Das könnte eine Waffe sein! Wir müssen sie nach Fingerabdrücken untersuchen!“, rufe ich und möchte die Scheibe einschlagen, doch Joe hält mich davon ab.
„Warte, Jade. Du bist kein Cop. Das wäre eine Straftat. Wir brauchen einen richterlichen Beschluss, um das Auto durchsuchen zu dürfen.“
„Und bis wir den haben, kann der Wagen und die Sache unter der Decke über alle Berge sein“, sage ich und lege meine Hand an den Türgriff. Vorsichtig ziehe ich und – Voilá! Die Tür öffnet sich! Der Wagen ist nicht abgeschlossen. Ich greife die Decke und hebe sie vorsichtig an. Tatsächlich! Darunter liegt eine Waffe. An ihr ein Schalldämpfer.
„Jade! Was tust du da?“, ruft Joe erschrocken.
„Tut mir leid, ich muss es einfach wissen“, sage ich, greife in meinen Mantel und hole ein Fingerabdruckset heraus. Vorsichtig pinsle ich mit einem Schminkpulver und etwas Grafit über den Griff der Waffe. Und tatsächlich! Ich bekomme einen Abdruck. Vorsichtig klebe ich einen Streifen Klebeband darauf und ziehe ihn ab, um ihn auf ein weißes Blatt zu setzen. Dann lege ich Waffe und Decke so hin, wie sie vorher lagen und mache die Autotür zu.
„Wir haben einen Fingerabdruck!“, rufe ich freudig.
„Toll, nur dass der vor Gericht nicht gelten wird, weil er illegal beschafft wurde“, grummelt Joe, während wir den Gehweg entlang zu unserem Auto laufen.
„Wir sammeln noch mehr Beweise“, versichere ich ihm, als mein Blick plötzlich auf eine Gasse gelenkt wird. Ist dort – Thompson? Mit der angeblich toten Meredith Lewis? Knutschen sie da etwa gerade rum?
Ich zücke mein Handy und mache Fotos, dann nähere ich mich der Gasse.
„Wo willst du hin?“, zischt Joe und ich sehe kurz zu ihm, um ihn auf Meredith und Henry aufmerksam zu machen, doch als ich in die Gasse zurückblicke, sind beide wie vom Erdboden verschluckt.
„Wo sind die denn jetzt hin?“, frage ich laut und gehe zu der Stelle, wo die beiden noch vor wenigen Sekunden gestanden haben. Nur noch ein Zigarettenstummel liegt dort herum.
Plötzlich stülpt mir jemand von hinten etwas über den Kopf, ich spüre einen Stich an meinem rechten Arm, höre Joes Schrei: „Jade! Pass auf!“, dann knicken meine Beine ein und ich sinke zu Boden, bevor ich das Bewusstsein verliere.
***
Geschrieben von Alexandra
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