Kapitel 56 - Video
Das Schmerzmittel wirkte so gut, dass Shota den gesamten Tag über schlief und sich nicht einmal zum Abendessen aufwecken ließ. Vielleicht hatte der Arzt es auch ein bisschen zu gut gemeint mit der Dosis, immerhin war es so schwierig, ihm seine Medikamente zukommen zu lassen. Allerdings war es, laut Kamachi, auch gut so. Denn ansonsten wäre Eraserhead wohl bei der erstbesten Gelegenheit wieder abgehauen, wenn sie unvorsichtig waren, oder gerade mit Manaha beschäftigt. Somit war er dazu gezwungen, sich tatsächlich an die verordnete Bettruhe zu halten und sich auszuruhen, auch wenn es so schwieriger für sie wurde, ihn mit ausreichend Flüssigkeit zu versorgen, damit er nicht dehydrierte. Das angekündigte Fieber war leider eingetreten und tat sein übriges.
Abends saßen Koichi, Kazuho und die halbe Belegschaft des Hopper Café im Wohnzimmer des Paares und besprachen bei ein paar Gläser Bier den Tag. Seit Jahren machten sie das immer wieder, um den Kontakt nicht zu verlieren und ihre Freundschaft zu pflegen. Dass sie dabei einmal über so einen Tag plaudern würden, hätten sie nicht erwartet. Vor allem war es noch immer unglaublich, welchen Gast sie im Gästezimmer bewirteten.
„Denkt ihr, dass er bald wieder auf die Beine kommt? Ich glaube, dass er mehr braucht als nur ein paar Schmerzmittel und Schlaf", seufzte Koichi besorgt und sah in Richtung des Gästezimmers, wo ihr Besucher noch immer schlief. Sogar ein Blinder konnte sehen, dass der Undergroundhero nicht nur äußerliche Verletzungen hatte. Da war viel mehr wieder zu kitten, als man sehen konnte. Eigentlich war das genau das, wovor er sich als Vigilante oft gefürchtet hatte. Solche Verletzungen und Traumata wurde man nicht so schnell wieder los. Auch wenn er als Crawler eine Menge durchgemacht hatte, war nichts davon damit zu vergleichen, was Eraserhead hatte durchleiden müssen. Auch wenn Kayama ihnen kaum etwas erzählt hatte von den Erlebnissen, war das bisschen an Information, das sie mit ihnen geteilt hatte, schon heftig genug gewesen.
„Was immer ihn auch dazu bewogen hat, abzutauchen, hat ihn ziemlich zerstört. Zumindest habe ich ihn komplett anders in Erinnerung", meinte Jiro. Nicht so kaputt. Der Eraser, den er kannte, war viel taffer als jener, der zuvor auf dem Sofa einfach weggepennt war und vor Selbstmitleid verfloss. Oder war es ihnen früher weniger aufgefallen? Natürlich war früher schon kaum zu übersehen gewesen, dass der Dunkelhaarige wenig Wert auf sich selbst legte und auf seine Gesundheit, aber dass er ihnen offen sagte, dass sie ihm zum Sterben in die Gosse legen sollten, war ziemlich heftig.
„Und du hättest ihn nicht einfach abweisen sollen, als er letztens ins Café wollte! Eraser hatte bestimmt Hunger und wir hätten ihn anschreiben lassen können, aber weil du ihn abgewiesen hast, denkt er vermutlich, dass wir ihn genauso wenig mögen wie die Presse", begann Jiro sofort mit Kamachi zu schimpfen. Wenn sie schon früher gewusst hätten, dass Aizawa sich in ihrer Nähe befand, hätten sie etwas tun können, um ihm zu helfen, anstatt ihn wüst abzuwimmeln.
„Er sah aus und roch wie ein verdammter Penner", verteidigte sich der Angemotzte sofort und sah wütend zu seinem Kumpel.
„Hey, Jungs! Kein Streit!", meinte Koichi sofort, „das letzte, was wir jetzt brauchen, ist wenn wir uns streiten und gegenseitig an die Gurgel springen. Wir müssen zusammenhalten, nur so schaffen wir das. Kapiert?"
Die anderen nickten, während Kazuho immer wieder auf ihr Handy sah und auf jenes, welches Kirihito zuvor auf den Wohnzimmertisch abgelegt hatte. Es war Shotas Handy, das er am Nachmittag aus dem Müllcontainer gefischt hatte. Obwohl das Display zersprungen war, funktionierte es noch immer. Ständig spielte sie mit dem Gedanken, Midnight anzurufen, um ihr zu erzählen, dass sie Aizawa gefunden hatten, und sie sich keine Sorgen mehr machen musste. Vor allem seit sie gesehen hatte, dass sich auf Erasers Handy die unbeantworteten Nachrichten und Anrufe seiner Freunde sammelten, die er nicht einmal angesehen hatte, quälte sie das Gefühl, dass sie die Sorgen ihrer Freundin beruhigen musste. Schließlich hatte Nemuri ihr in letzter Zeit oft genug davon erzählt, wie schwer es war, dass Shota einfach abgehauen war und sich versteckt hielt.
Ihr Blick glitt allerdings zum Fernsehbildschirm, wo sie die Nachrichten im Hintergrund hatten laufen lassen, falls es irgendetwas Neues geben sollte, über das sie Bescheid wissen sollten. Als sie meinte zu hören, worüber der Nachrichtensprecher gerade redete, schnappte sie sich die Fernbedienung, um lauter zu machen. „Das nachfolgende Video wurde uns heute zugespielt. Wer sensibel auf Gewalt reagiert, sollte nicht zusehen. Die Bilder zeigen, wie der untergetauchte Eraserhead von ein paar Schurken verprügelt und vermutlich getötet wurde. Im Moment laufen die Ermittlungen auf Hochtouren, aber wenn Sie Hinweise zu den Männern in dem Video haben, melden Sie sich bitte bei der Polizei", erklärte der Sprecher, ehe ein wackeliges Handyvideo eingeblendet wurde.
Sofort verstummte das Gespräch im Wohnzimmer und auch die Blicke der Männer hingen gespannt am Bildschirm. Zu sehen war Eraserhead, wie er einen Schurken verfolgte und dingfest machen wollte, bevor er von hinten angegriffen wurde. Etwas silbern Glänzendes zuckte durch die Luft, traf Shota zuerst am Oberkörper und blieb am Ende in seinem Bein stecken. Es war das Messer, mit dem ihn Jiro gefunden hatte. Auch wenn sie sehen konnten, wie der Undergroundhero sein Gesicht verzog, entkam ihm kein Geräusch, obwohl es höllisch wehtun musste. Stattdessen versuchte er sich zu wehren, was ihm allerdings nicht gelang, da ein weiterer, viel größerer Schurke auftauchte und ihn von hinten packte, die Arme zurückzog und ihn festhielt. Kurz darauf begannen die anderen beiden damit, weiter auf ihn einzuschlagen, bis der Dunkelhaarige sich nicht mehr rührte. „So geht man mit dem Abschaum um, der von sich selbst behauptet ein Held zu sein", hörte man im Hintergrund. Kurz darauf sah man, wie Aizawas lebloser Körper achtlos in den Container geworfen wurde. „Wir tun der Gesellschaft gern einen kleinen Gefallen und räumen für euch auf!", lachte einer der Schurken hämisch.
Damit endete das Video und der Nachrichtensprecher war wieder zu sehen. Neben ihm saß ein weiterer Reporter, um über das eben Gesehene zu diskutieren. „Aufgrund der Bilder und der Menge an Blut, die gefunden wurde, geht die Polizei davon aus, dass Eraserhead tot ist. Allerdings scheint für einen Beweis dafür die Leiche noch zu fehlen. Kann man also doch davon ausgehen, dass er überlebt hat und schwer verletzt ist?", fragte der Sprecher an den Reporter gewandt, der sofort eine Antwort darauf parat hatte.
Kazuho stellte allerdings wieder leiser und schauderte bei dem Gedanken an das eben Gesehene. Kein Wunder, dass Aizawa solche Verletzungen hatte. „Manche Schurken sind echt krank", murmelte Jiro kopfschüttelnd, „als ob Eraser nicht schon genug durchgemacht hätte." Tatsächlich blitzten kurz darauf wieder die Bilder des Sohnes des Rummelplatzbesitzers über den Bildschirm. Doch die Geschichte interessierte niemanden mehr. Die ganze Sache ging einfach zu weit.
Plötzlich begann Shotas Handy zu vibrieren, was die Blicke der Anwesenden auf sich zog. „Hizashi", las Koichi laut vor, doch noch ehe sich jemand von ihnen entscheiden konnte, ob sie rangehen sollten, legte der Anrufer auf, ehe es erneut zu vibrieren begann. Diesmal stand ein anderer Name auf dem Bildschirm. „Nemuri ... Ich sollte rangehen, oder?", fragte Kazuho die Anwesenden, wartete jedoch keine Antwort ab, sondern griff sofort nach dem Mobiltelefon und nahm ab. Sie konnte ihre Freundin nicht noch länger im Unklaren lassen. Immerhin schien jeder außerhalb dieses Raums zu glauben, dass Eraserhead tot war.
„Sh...Shota? Hallo? Bitte ... bitte sag mir ...", stammelte Kayama am anderen Ende der Leitung völlig aufgelöst ins Telefon und versuchte ein Schluchzen zu unterdrücken. Obwohl man ihr anhören konnte, dass sie bereits etwas erleichtert darüber war, dass überhaupt jemand rangegangen war, fiel die Anspannung immer noch nicht von ihr ab. Schließlich konnte ein völlig Fremder das Handy zur Hand genommen haben, nachdem Shota längst tot war.
„Nemuri? Ich bins, Kazuho", erklärte die Pinkhaarige und vernahm ein Schluchzen von der anderen Frau, „aber keine Sorge, bitte bleib ruhig. Eraser ist bei mir und Koichi. Er sieht ramponiert aus und ist verletzt, aber er lebt! Im Moment schläft er allerdings." Erst nachdem sie diese Worte ausgesprochen hatte, konnte sie hören, dass ihre Freundin erleichtert ausatmete. „Wir haben ihn heute Morgen gefunden, aber wir mussten ihm versprechen, niemanden Bescheid zu geben. Es tut mir leid, ich wollte dich schon früher anrufen. Ich schwöre es!", versicherte sie der älteren Frau sofort. Sie fühlte sich mies, weil sie nicht sofort angerufen hatte, dabei hatte ihr Gewissen ihr gesagt, dass sie es hätte sofort machen müssen. Doch Koichi und die anderen hatten sie davon abgehalten, damit Eraser nicht sofort abhaute. Wer sich versteckte, wollte nicht entdeckt und verraten werden.
„Schon in Ordnung", schluchzte Nemuri erleichtert und schien nach den richtigen Worten zu suchen, „wir sind verdammt froh, dass es ihm gut geht. Können wir vorbeikommen? Bitte!" Im Hintergrund waren mehrere Stimmen zu vernehmen. „Vorausgesetzt wir kommen hier unbemerkt raus", fügte sie seufzend an, „die Reporter belagern das Schulgelände und fallen über jeden her, der rein oder rausgeht. Es ist so furchtbar. Neugieriges Pack." Seit dem Auftauchen des Videos war die Schule wieder eines der Ziele der Reporter. Als ob sich Eraserhead mit solchen Verletzungen hierher hätte schleppen können, selbst wenn er das gewollt hätte.
„Klar, kommt vorbei, wenn es möglich ist", bestätigte Kazuho und sah schulterzuckend zu Koichi der den Kopf schief legte. Hoffentlich meinte die Heldin mit ‚Wir' nicht die gesamte Klasse von Eraser, sonst würden sie bald ein kleines Platzproblem bekommen. Doch er war einverstanden damit, dass seine Freunde endlich wissen sollten, dass sie nichts zu befürchten hatten.
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