Kapitel 50 - Flucht

Schon immer war es Shota Aizawa leichtgefallen, nach schweren Verletzungen sofort wieder aufzustehen und selbst komplett einbandagiert vor seine Klasse zu treten und weiter zu machen, wo er vor seiner Verletzung aufgehört hatte. Es war immer einfach gewesen, alles einfach auszublenden und so zu tun, als wäre nichts gewesen. Somit hatte er keine Zeit, darüber nachzudenken, wie knapp er dem Tod entronnen war, und konnte sich aufs Wesentliche konzentrieren. Doch selbst Shota musste zugeben, dass es eine Sache war, Verletzungen und Schmerzen einfach auszublenden, und eine vollkommen andere, nach so einem Erlebnis und all der durchgestandenen Folter vor einen Haufen Jugendliche zu treten, und sie weiter zu unterrichten, als wäre nichts passiert.

Bereits am Morgen im Lehrerzimmer, nachdem Nedzu kurz mit den anwesenden Lehrern besprochen hatte, dass nach dem Unterricht eine Pressekonferenz angesetzt worden war, war dem Dunkelhaarigen übel bei dem Gedanken geworden, sich an diesem Nachmittag noch in einen Anzug zwängen zu müssen, um sich vor den Kameras zu verbeugen und um Vergebung zu betteln, bevor er sich und seine Lage erklären durfte. Für den Schulleiter war zumindest klar, dass es reichen würde, kurz ihre Sicht der Dinge zu erläutern und dann einfach weiterzumachen wie bisher. Das mäuseähnliche Wesen war sich sicher, dass sich der Trubel mit der Zeit wieder legen würde. In nächster Zukunft würden einfach keine Schulausflüge mehr stattfinden. Somit konnten sie verhindern, dass die Schüler weiter in Gefahr gerieten und sie jemand angreifen wollte. Eine simple Lösung, von der er sich viel erhoffte.

Shota bezweifelte jedoch, dass der Nation dies genügen würde, doch nachdem sein Boss ihm eingebläut hatte, dass er nichts weiter tun sollte, als sich aufrichtig zu entschuldigen, hatte Aizawa nicht mehr viel dazu beigetragen. Stattdessen hatte er sich längst gedanklich darauf vorbereitet, in das Klassenzimmer der 1-A zu treten und dort weiter zu machen, wo er vor dem Ausflug aufgehört hatte. Es klang wirklich alles sehr simpel und logisch. Trotzdem musste er auf dem Weg zum Klassenraum einen Zwischenstopp auf der Toilette einlegen, um sich zu übergeben.

Seine Hände zitterten, als er die Tür aufschob und den Klassenraum betrat. Anders als gewohnt, saßen alle Jugendlichen artig auf ihren Plätzen und warteten längst darauf, dass ihr Lehrer zu ihnen kam. Freudig und aufmunternd sahen sie zu ihm, während er es allerdings vorzog, den Boden vor seinen Füßen zu betrachten und sofort nach dem Lehrbuch auf seinem Tisch zu greifen, um es aufzuschlagen. Irgendwie musste er seine Finger beschäftigen, um sie davon abzuhalten, unkontrolliert weiter zu zittern. Seit er sich freiwillig geopfert hatte, hatte er keinen seiner Schüler mehr zu Gesicht bekommen.

„Guten Morgen, Sensei! Wir freuen uns, dass es ihnen wieder besser geht!", wurde er freundlich von Ochaco begrüßt. Auch die anderen stimmten erfreut mit ein. „Wir haben ihnen Kekse gebacken!", verkündete Mina laut und deutete auf eine Keksdose in Katzenform, die auf dem Lehrertisch stand. „Außerdem würden wir uns freuen, wenn Sie und Eri heute Abend ins Wohnheim kommen würden!", erklärte Izuku. Da sie bisher keine Möglichkeit gehabt hatten, sich mit ihrem Klassenlehrer zu unterhalten, hofften sie auf diese Weise, alles wieder gut machen zu können und ihm das Gefühl zu geben, dass sie hinter ihm standen. Nach der Pressekonferenz brauchte er bestimmt ein bisschen Beistand und Aufmunterung. „Natürlich können Sie Mic-Sensei mitbringen!", fügte Eijiro sofort an und grinste breit.

Langsam hob er seinen Kopf, wischte sich die dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht und zwang sich, seine Schüler anzusehen. Tatsächlich hatten sie alle ein Lächeln auf den Lippen, während sie Aizawa ansahen. Auch wenn er sich immer noch unsicher war, womit genau er gerechnet hatte, fand er ihre Mienen einfach unpassend. Viel lieber wäre es ihm, wenn sie ihn mit Vorwürfen bombardierten und ihn für alles verantwortlich machten. Damit könnte er umgehen. Doch mit all dem wusste er nichts anzufangen. Aus diesem Grund entschied er sich für das einzig logische: Er versuchte einfach weiterzumachen, als wäre nichts gewesen und ignorierte ihre Worte. Schließlich war er ihr Lehrer und keiner ihrer Freunde, die man auf einen lustigen Abend einlud.

„Nun denn, guten Morgen. Schlagt bitte eure Bücher auf Seite 294 auf und lest euch den Gesetzestext über Vigilante durch. Wir werden anschließend darüber sprechen, wie schmal der Grat zwischen Schurkentum und selbsternannten Helden ist, und wieso ihr vor allem von beidem die Finger lassen solltet", begann er mit monotoner Stimme vorzutragen, wandte sich um und begann ein paar Worte an die Tafel zu schreiben. Aus den Augenwinkeln konnte er wahrnehmen, dass die Schüler ihn allesamt fassungslos und verwirrt ansahen, weil er auf keine ihrer Worte eingegangen war, oder sich sonst irgendwie erklärte. Hatten sie etwas anderes erwartet?

Als er sich wieder ihnen zu wandte, hatten sie sich noch immer nicht bewegt, um nach ihren Büchern zu greifen. „Braucht ihr eine Extraeinladung?", entfuhr es ihm schroff, „oder muss ich euch erst alle von der Schule ..." Den Rest des Satzes verschluckte er, ehe er sich auf die Zunge biss und blass wurde. Auch wenn er sich vorgenommen hatte, einfach weiter zu machen wie bisher, wollte er doch gerade diesen Teil seines Verhaltens streichen. Nur wegen diesem Verhalten waren sie erst in diesen Schlamassel geraten. Alles war nur seine Schuld gewesen. Sofort blitzte das Gesicht des Playmakers in seinen Gedanken auf, ebenso wie seine Worte. War es nicht makaber, dass er heute gerade so ein Unterrichtsthema behandeln wollte, wo er dafür gesorgt hatte, dass einer seiner ehemaligen Schüler zum Schurken wurde?

Erstarrt hielt Aizawa inne und blickte in die Gesichter seiner Schüler, die ihn allesamt besorgt musterten. Sie waren es nicht gewohnt, dass ihr Klassenlehrer einfach verstummte und eine unsichere Miene aufsetzte. Doch für Shota war somit eines klar. „Ich kann das nicht", murmelte er plötzlich leise, und schüttelte den Kopf, ehe er das Buch auf den Tisch legte, sich umwandte und einfach das Klassenzimmer verließ.

„Halt, warten Sie!", rief Tenya ihm nach und sprang, wie ein paar andere Schüler, sofort auf und eilten zur Tür, um Aizawa nachzusehen, der jedoch längst verschwunden war. „Haben wir etwas falsch gemacht?", murmelte Koda leise und sah sich nach seinen Mitschülern um, die entweder den Kopf schüttelten oder mit den Schultern zuckten.

Eilig trugen seine Schritte Shota zum Büro des Schulleiters. Schon im Krankenhaus hatte er mit dem Gedanken gespielt, einfach Nedzu anzurufen und ihm zu sagen, dass er nicht zurückkehren würde. Während seiner ausgiebigen Spaziergänge in den sterilen Gängen hatte er darüber nachgedacht, dass es am Logischten wäre, wenn er einfach einen Schlussstrich zog. Daher wartete er auch gar nicht lange auf eine Antwort, nachdem er an die Tür seines Chefs geklopft hatte, ehe er sie aufriss und mit der Tür ins Haus fiel. „Ich kündige. Ich kann es einfach nicht ... es ist besser so", erklärte er Nedzu, der ihn stutzig ansah.

„Aber wir hatten doch bereits besprochen, dass eine Entschuldigung reicht und danach die Lage wieder ruhiger werden wird", versuchte Nedzu den Undergroundhero zu erinnern, und lächelte aufmunternd, „das wird schon wieder." Bisher hatte sich schließlich immer wieder alles mit der Zeit eingerenkt.

Doch Shota schüttelte den Kopf. „Nein, ich fürchte so einfach ist das nicht", antwortete er. Wieso nahm jeder an, dass es so einfach war? Er konnte keinen Schalter in seinen Kopf umlegen, und all das vergessen, auch wenn er es sich noch so wünschte und anfangen zu hoffen und zu einem optimistischen Menschen werden. Vermutlich war er selbst schuld, weil er ihnen allen vorgemacht hatte, es wäre alles in Ordnung. „Ich werde meine Sachen packen und gehen", meinte er und verneigte sich ein wenig, „mir tun die Umstände, die ich bereitet habe, leid. Natürlich werde ich ab und an vorbeikommen und mich um das Training von Eri kümmern, wenn Sie erlauben, aber mehr nicht. Ich kann es nicht. Nicht mehr." Er hatte es heute Morgen schon kaum geschafft, aus seinem Bett im Wohnheim zu steigen, wenn Hizashi ihm nicht gut zu geredet hätte.

Auch wenn Nedzu zunächst seufzte, nickte er anschließend. „Na gut." Der Schulleiter setzte ein aufmunterndes Lächeln auf. Ein wenig hatte er damit gerechnet, dass der Dunkelhaarige mehr Zeit brauchen würde, um sich wieder zu fangen. Nach allem, was passiert war, war es nur logisch. Außerdem würde er ihm jederzeit die Möglichkeit bieten, wieder zurückzukommen, sobald er sich wieder dazu im Stande sah.

Während sie die nötigsten weiteren Sachen klärten, erschienen plötzlich Hizashi, Toshinori und Nemuri im Büro der Maus und sahen besorgt dabei zu, wie Shota ein Papier unterzeichnete. Die Schüler hatten sie informiert, nachdem Aizawa verschwunden war, aus Angst, er könnte irgendeine Dummheit anstellen. „Sho, ist alles in Ordnung?", wollte Yamada leise wissen, während er näher an seinen Verlobten trat, der sich von Nedzu verabschiedete und sich den anderen zuwandte.

Tatsächlich wirkte Shota ein wenig erleichtert, aber ebenso bedrückt. Der Entschluss, den der Dunkelhaarige gefasst hatte, war nicht sonderlich einfach. Doch es gab kein Zurück mehr. Unsicher knetete er kurz seine Hände, ehe er auf Hizashi zuging, und eine Hand auf seine Wange legte. „Ich werde die UA verlassen", antwortete er auf seine Frage und wischte eine blonde Strähne aus dem Gesicht seines Freundes, ehe seine eigene Miene wehmütig wurde, „und auch dich. Ich liebe dich zu sehr, als dass ich dich noch einmal in Gefahr wissen möchte. Es tut mir leid. Ich muss mich erst selbst wiederfinden ... irgendwie habe ich mich in diesem Labyrinth verloren ..." Mehr brachte Shota nicht über sich zu sagen, ehe er nach Hizashis Händen griff und sie kurz festhielt und sich noch einmal kurz vor allen verbeugte und schnellen Schrittes aus dem Raum eilte, bevor der Blonde realisieren konnte, was gerade passiert war.

Es ging nicht anders. Shota hatte das Gefühl, sich selbst verloren zu haben, und solange er in diesem Zustand war, konnte er kein Verlobter und schon gar kein Lehrer sein. Im Moment hatte er zu große Angst, alle erneut in Gefahr zu bringen. Außerdem wollte er einfach nur weg. Weit weg. Ganz schnell, bevor ihn jemand davon abhalten konnte.

Fassungslos und wie erstarrt, stand Yamada mitten im Büro des Schulleiters. Nachdem auch die anderen beiden sich etwas gefangen hatten, wandte Nemuri sich an den Blondschopf. Doch noch ehe sie ihn fragen konnte, ob alles mit ihm in Ordnung war, und dass Shota bestimmt nur eine Auszeit brauchte, öffnete Hizashi seine Hand, die der Dunkelhaarige zuvor gehalten hatte. Auf seiner Handfläche lag etwas kleines und rundes. Aizawa hatte ihm den Verlobungsring in die Hand gedrückt. Sofort streckte Kayama ihre Arme aus, um den Voicehero in eine Umarmung zu ziehen, ehe er in Tränen ausbrechen konnte.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top