5- Friedliche Feindseligkeit

5- Friedliche Feinseligkeit

Endres war gerade rechtzeitig zu Jonata und Alba zurückgekehrt, als diese aufwachten und sofort aufbrechen wollten. Erschrocken stellte Endres fest, dass Sonnensplitter bereits auf einem Ast in einer schattigen Baumkrone hockte. Er schien nicht geschlafen zu haben und Endres hoffte, dass er ihn nicht verfolgt und beobachtet hatte. Die Eule sagte jedoch keinen Ton, sondern breitete nur stumm die Flügel aus und stieß sich vom Baum ab.

„Dann brechen wir auf", seufzte Jonata aufgeregt und setzte eine Pfote auf den Polterpfad. „Das ist so aufregend. Ich bin schon so oft an diesem Weg entlanggelaufen, aber darauf war ich noch nie." „Darüber können wir uns später auch noch freuen", kommentierte Sonnensplitter kühl aus der Luft. Endres wunderte sich über das Verhalten der Eule. Sonst war der Eulerich nicht so gefühlskalt, selbst wenn die Situation noch so schwierig war. Hatte er eine schlimme Entdeckung gemacht, die nicht gerade von Vorteil für ihren Auftrag war?

Endres kam schließlich zu dem Entschluss, dass die Eule es mittlerweile leid war, auch im Tageslicht zu fliegen. Die Wölfe verbrachten zwar die meiste Zeit des Tages damit, zu schlafen, aber sobald die Sonne den Horizont am Abend berührte, wachten sie auf. Sonnensplitter schlief zu diesem Zeitpunkt bestimmt noch. Machte das Tageslicht die Eule krank? Hoffentlich nicht, dachte Endres. Sie brauchten Sonnensplitter unbedingt, er durfte nicht krank werden. Endres musste sich aber eingestehen, dass sie der Eule einiges abverlangten.

„Versucht, keine Körperhaltungen einzunehmen, die die Bären als feindselig auffassen könnten", riss ihn Benedictus aus seinen Gedanken. „Toll, wenn ich als Bär die Wölfe abgrundtief hassen würde, dann sähe jede Körperhaltung für mich feindselig aus", maulte Alba. „Hoffen wir, dass die Bären ihren Verstand benutzen und nicht denken, dass vier Wölfe eine Bedrohung darstellen könnten", meinte Benedictus. „Haltet den Kopf einfach immer etwas gesenkt, nicht zu sehr erhoben, dann dürfte uns solange nichts passieren, bis wir uns erklärt haben."

Endres schnaufte vor Aufregung. Bisher unterschied sich das Bärenland noch nicht viel vom Territorium der Wölfe. Der Wald sah genauso aus wie auf der anderen Seite des Polterpfads, nur war der Geruch nach Wolf deutlich schaler. Was hatte er denn erwartet? Eine völlig andere Welt, die sich von der der Wölfe und der der Menschen unterschied? Nein, sie sah genauso aus. Nur, dass sie eben von Bären bewohnt wurde und nicht von Wölfen. „Ich hoffe, dass wir bald auf einen Bären treffen", sagte Benedictus. „Dann sparen wir uns die lange Suche nach dem Oberhaupt."

„Bei den Bären gibt es auch so etwas wie einen Leitwolf?", fragte Jonata. „Bären leben doch aber eher für sich." „Da hast du recht", antwortete Sonnensplitter. „Dennoch haben die Bären ein Oberhaupt und mehrere ranghöhere Bären, die zusammen über Regeln und Gesetze für das Zusammenleben beraten. So werden, soweit ich weiß, die Reviergrenzen geregelt, damit unter den Bären nicht unnötig Kämpfe um Reviere entstehen."

„Wenn also das Oberhaupt befielt, dass die Bären uns helfen sollen, dann würden sie es auch tun?", schlussfolgerte Jonata. „Das weiß ich nicht", antwortete Sonnensplitter, sagte aber nichts weiter. „Jylge entscheidet doch auch nicht über unsere Köpfe hinweg", überlegte Endres. „Er berät sich doch mit anderen Wölfen, bevor sie eine gemeinsame Entscheidung treffen. So wird es sicher auch bei den Bären ablaufen.

" „Mit etwas Glück ist das Bärenoberhaupt nicht so verrückt und eigensinnig wie Nachtschatten", meinte Alba. „Wir werden sehen." Benedictus beschleunigte seine Schritte und Jonata, Alba und Endres taten es ihm gleich. Der Wald vor ihnen wurde etwas lichter und der Geruch nach Bär wurde stärker. Endres sah sich immer wieder nach allen Seiten um, damit ihm auch keine Anzeichen nach einem Bären entgingen.

Sie liefen immer weiter, bis die Sonne dem Horizont schon wieder nähergekommen war. Die vier Wölfe berieten gerade, ob sie eine Pause einlegen sollten, als plötzlich ein Bär aus dem Gebüsch gesprungen kam und sich knurrend vor den Wölfen aufbaute. Er war nun vier Mal so hoch wie Endres und bot einen erschreckenden Anblick. „Runter!", knurrte Benedictus und die vier Wölfe legten sich hin und drehten sich auf den Rücken. Eine der größten Unterwerfungs-Gebärden, die bei den Wölfen Gang und Gebe war. Der Bär tobte noch eine Weile, bevor er bemerkte, dass die Wölfe gar nicht auf einen Kampf aus waren.

Er knurrte etwas, aber Endres konnte die Worte nicht verstehen. Schließlich begab sich der Bär wieder auf alle vier und musterte die Wölfe. „Was ihr wollen?", fragte der Bär. „Wir kommen in Frieden", antwortete Benedictus ruhig, jedes Wort betonend. „Das schön, aber das nicht Antwort auf meine Frage", erwiderte der Bär. Endres wunderte es, dass er die Sprache der Wölfe beherrschte, wenn auch nur gebrochen. „Wir wollen mit dem Oberhaupt reden", erklärte Endres.

„Warum?", fragte der Bär. „Große Tatze sehr beschäftigt. Nicht sicher, ob mit vier Wölfen reden will. Mit Wölfen." Die letzten Worte spuckte er angewidert aus. „Große Gefahr droht uns allen", startete Benedictus einen weiteren Anlauf. „Wir brauchen Hilfe von den Bären." „Ihr? Wölfe von Bären Hilfe brauchen, dass ich nicht lache", grollte der Bär. „Ihr planen Übergriff, ich haben Recht?"

„Nein, du haben nicht", widersprach Jonata und sprang wieder auf. Benedictus jaulte entsetzt, dass sie sich wieder hinlegen sollte. „Du uns nicht richtig zuhören. Das dumm! Sehr dumm! Erst anhören, was wir zu sagen, dann du können böse sein!" Jonata versuchte, den Akzent des Bären nachzuahmen und schließlich setzte sich der Bär hin und kratzte sich mit der Hinterpfote am Ohr. „Erzählt mir", forderte er. „Aber wehe ihr mich langweilen, dann ich werden sehr böse." Inzwischen waren auch Endres, Benedictus und Alba wieder aufgestanden. Die vier Wölfe standen dem Bären gegenüber, der auch sitzend deutlich größer war als sie.

„Wir heißen Endres, Alba, Benedictus, Jonata und Sonnensplitter", stellte Endres die Wölfe und die Eule vor. Noch einmal auf jeden deutend, wiederholte er die Namen. „Gut sein, ich nicht dumm. Ich jetzt wissen, wie ihr heißen. Ich Süßer Honig", nannte auch der Bär seinen Namen. Jonata musste lachen. „Du dich über meinen Namen lustig machen?", fragte der Bär und sofort verstummte Jonata. „Ich wissen, Süßer Honig nicht gerade ein furchtvoller Name, aber ihn mir meine Mutter gegeben." „Das ist auch nicht weiter schlimm", mischte sich Benedictus ein.

„Süßer Honig, hör zu", sprach er. „Wir haben nicht viel Zeit. Eine große Gefahr steht uns allen bevor. Böse Wölfe kommen von weit her und wollen die Große Ebene einnehmen. Damit wäre auch euer Reich bedroht. Das Reich aller Wölfe und Bären." „Warum sollten ich euch glauben?", fragte Süßer Honig, Endres war sich jedoch sicher, dass der Bär es nicht aus Feindseligkeit, sondern aus Neugierde fragte. „Würden wir Wölfe uns sonst in euer Reich wagen?", fragte Endres. Das überzeugte Süßer Honig.



Der Bär führte sie weiter. Auch wenn er so groß war, wie Endres, Jonata und Alba zusammen, kamen sie nur langsam voran. Der Bär war viel schwerfälliger als die leichtfüßigen Wölfe. Auf dem Weg erzählten die Wölfe, allerdings ohne Sonnensplitters Unterstützung, von der Großen Reise und ihren Erlebnissen. Dabei gewannen sie immer mehr Süßer Honigs Vertrauen. „Ihr haben Glück, Große Tatze und andere Tatzen gerade in der Nähe", erklärte Süßer Honig. „Das nicht so oft." „Wer sind denn die anderen Tatzen?", fragte Endres. „Das Große Tatzes Unterstützer und Berater", antwortete der Bär. „Große Tatze mächtigster Bär bei uns.

Kleine Tatze sein Vertreter und Nachfolger, wenn Große Tatze stirbt. Dann noch Braune Tatze und Schlammige Tatze, die beiden verurteilen Bären, die getan haben Böses. Außerdem noch Große Grüne Tatze und Kleine Grüne Tatze, die beiden helfen kranken Bären. Grün wegen Pflanzen, die sie uns geben, gegen Schmerzen, ihr versteht?" „Die sechs großen Tatzen sind also hier in der Nähe, was nicht oft der Fall ist?", fragte Sonnensplitter.

„Ja, sie ziehen umher, um überall im Bärenreich einmal zu sein. Bärenreich groß. Sehr groß", antwortete Süßer Honig. Im nächsten Moment brannte Endres der Geruch von vielen Bären in der Nase und er war sich sicher, dass es wesentlich mehr als sechs waren. „Ihr wartet hier", befahl Süßer Honig. „Ihr euch nicht bewegen. Nicht alle Bären so friedlich wie ich. Ich fragen nach großer Tatze." Damit ließ er die Wölfe und die Eule zurück.



Begleitet von drei Bären, jeweils einer links und rechts von ihnen, der dritte ging voran und Süßer Honig hinter ihnen. Sie führten die Wölfe durch einen großen Pulk von Bären, die sich in einem Tal versammelt hatten. Im Hang waren immer wieder große Löcher, hinter denen vermutlich Höhlen lagen. Süßer Honig war aufgeregt und mit der Nachricht zurückgekehrt, dass die Tatzen ihre Audienzen unterbrechen würden, um die Wölfe zu empfangen. Die anderen Bären waren sichtlich verwirrt, Wölfe in ihrem Reich anzutreffen. Die meisten starrten sie nur an, andere stürzten sich bereits in wüste Beschimpfungen, doch Endres blendete sie aus. Dann blieben die Bären stehen. Aus der Höhle vor ihnen kamen zuerst ein riesiger Bär, gefolgt von anderen Bären, die allesamt eine seltsame Kette aus Steinen um den Hals trugen.

„Daran man erkennen Große Tatze und die anderen Tatzen", wisperte Süßer Honig Endres zu. „Wölfe, ihr habt es gewagt, unser Reich zu betreten", sprach Große Tatze. Er beherrschte die Sprache der Wölfe fließend. „Ich hoffe, es gibt einen guten Grund dafür." „Den gibt es", antwortete Benedictus. „Habe ich euch erlaubt, zu sprechen?", fragte Große Tatze. „Nein, das habe ich nicht. Ihr seid ungefragt in unser Reich gekommen, um mich und meine Berater inmitten von vielen Gesprächen zu stören. Ihr möget einen wirklich guten Grund dafür haben, uns so durcheinander zu bringen." Endres bemerkte, wie Jonata anfing, zu zittern.

Auch wenn sie vorhin ziemlich mutig gegenüber Süßer Honig gewesen war, konnte man diese Situationen nicht vergleichen. Jetzt standen sie nicht nur einem Bären gegenüber, sondern mehreren Dutzend und dazu noch den höchsten Bären im ganzen Reich. Endres war sich sicher, dass sich die Bewacher der Tatzen sofort auf sie stürzen würden, wenn ihr Verhalten auch nur im Ansatz falsch war. „Ich denke, die Schwere eures Einbruchs ist euch bewusst. Folgt mir, ihr erwarte, dass ihr mir erzählt, was euch zu uns treibt!", sprach Große Tatze und Endres sackten fast die Beine weg. Eigentlich hatte er es sich leicht vorgestellt, die Bären um Hilfe zu bitten, aber angesichts der vielen Bären und Großer Tatze war er sich da überhaupt nicht mehr sicher.

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