3- Probleme der Vergangenheit

3- Probleme der Vergangenheit

"Was sollen wir tun?", rief ein Wolf aus der Menge heraus. Eine Frage, die die Wölfe in der letzten Nacht schon oft gestellt hatten, die die Situation aber nicht besser machte. Im Gegenteil, sie führte eher dazu, dass das Rudel immer unruhiger wurde und es kaum noch möglich war, ruhig und vernünftig zu reden. Jylge hatte es vorgezogen, das gesamte Rudel zu einer Versammlung zusammen zu rufen. Die Lage war ernst und die Wölfe mussten vorbereitet sein.

"Das versuchen wir doch gerade zu klären", antwortete Geras und konnte das Knurren in seiner Stimme nur knapp verbergen. Jylge stand etwas verloren vor seiner Höhle, von dort aus konnte er das Rudel zwar gut überblicken, aber er konnte es nicht beruhigen. Sonst gelang es ihm immer, seine Wölfe unter Kontrolle zu halten, doch heute war alles anders. Die Wölfe waren aufgekratzt, manche von ihnen hatten kaum geschlafen, seitdem sie von der bevorstehenden Gefahr erfahren hatten. Auch Endres, Alba und Jonata blickten unsicher um sich.

Sie konnten die anderen Wölfe zwar verstehen, aber ihnen war bewusst, dass nichts nützte, wenn sie jetzt in Panik verfielen. Dann wären sie den Bergwölfen noch wehrloser ausgeliefert als sie es jetzt eh schon waren. Dabei wollten sie wenigsten den Hauch einer Möglichkeit haben, sich gegen die Bergwölfe zur Wehr zu setzen. Endres sah die anderen beiden Wölfe verzweifelt an. Merkten die anderen denn nicht, dass sie endlich einen Plan brauchten? Dass Panik ihnen allein nicht weiterhalf? Endres war nach seinem Gespräch mit Bruder Paulus wieder etwas beruhigt.

Er hatte den Mönch ganz klar angelogen, doch dann hatte er doch über das Thema, das ihn beschäftige, gesprochen, ohne es ganz klar zu sagen. Bruder Paulus meinte, dass man sich den drohenden Gefahren in den Weg stellen sollte. Endres stimmte ihm zu, aber eine drohende Gefahr würde sich nicht von einem Haufen panischer Wölfe aufhalten lassen. Schon gar nicht, wenn es ein äußerst kleiner Haufen Wölfe war, dem das Vierfache an Bergwölfen gegenüber stand. Jonata und Alba warfen ihm jedoch einen genauso verzweifelten Blick zurück.

Sie drei wussten genau, was auf sie zukam. Die anderen Wölfe mussten sich auf ihre Erzählungen verlassen. Lag es daran? Dass man Erzählungen bei weitem nicht so viel Glauben schenken konnte wie dem, was man mit eigenen Augen gesehen hatte? Einige Wölfe im Rudel waren sehr erbost darüber, dass Endres, Jonata und Alba ihre Aufgabe nicht so erfüllt hatten, wie es die Gesetze des Rudels vorgeschrieben hatten. Dass sie dann auch noch mit einer solchen Nachricht zurück kamen, verschreckte einige noch mehr. Allen voran die Wölfe, die vor allem Endres nicht trauten.

Aber was sollten sie tun? Sie hatten das Rudel warnen müssen, denn die Gefahr, die die Bergwölfe darstellten, hatten sie sich nicht nur ausgedacht. Traurig ließ Endres den Kopf sinken. Es lag an ihm, das wurde ihm klar. Wahrscheinlich hatten Marthes und Agnethe die anderen Wölfe noch aufgestachelt. "Alles in Ordnung bei dir?", fragte Benedictus. Der Wolf setzte sich neben Endres. Neben Alba und Jonata zählte er zu Endres' besten Freunden im Rudel. "Die beruhigen sich schon wieder", meinte Benedictus zuversichtlich.

"Warum sollten sie?", fragte Endres zurück. "Sieh' doch mal", schlug Benedictus vor. Endres hob den Kopf wieder und sah zu Jylge. Eine Eule hatte sich auf seinen Kopf gesetzt. Bis jetzt hatte sich Sonnensplitter zurück gehalten, doch anscheinend konnte er die Worte, die ihm im Schnabel lagen, nicht mehr zurück halten.

"Ist das in Ordnung für dich?", fragte Sonnensplitter und sah nach unten zu Jylge. Der Wolf hatte die Augen nach oben gerichtet, um die Eule auf seinem Kopf besser zu sehen. Wäre die Situation nicht so ernst, hätte Endres sicher lachen müssen, weil das Bild, das sich den Wölfen bot, wirklich komisch aussah. Eigentlich hatte Sonnensplitter die Frage nur an Jylge gerichtet, aber die Wölfe waren so schnell verstummt, dass es alle gehört hatten. "Rede nur, Sonnensplitter. Von da oben sieht dich wenigstens jeder Wolf", antwortete Jylge. Sonnensplitter plusterte sich kurz auf.

"Ihr werdet euch sicherlich denken, was denn nun die Eule schon wieder zu schwafeln hat", sagte er und blickte dabei deutlich in Marthes' Richtung. "Aber ich schwafle nicht. Ich habe einen Vorschlag", verkündete er. "Die Gefahr die euch bevorsteht, kann man nicht kleinreden. Man kann sagen, dass es ein paar kranke Wölfe sind, die sich in den Kopf gesetzt haben, das zu rächen, was ihren Vorfahren vor langer Zeit widerfahren ist. Aber in diesem Fall wäre das unangebracht. Es sind an die hundert Wölfe, weitaus mehr als gerade hier versammelt sind. Das ist ein sehr ernstzunehmendes Problem."

Endres war sofort wieder Sonnensplitters Bann verfallen. Die Stimme der Eule wirkte hypnotisierend und man konnte sich kaum noch auf etwas anderes konzentrieren. Man musste ihr einfach zuhören. So erging es auch den anderen Wölfen. Das Gemurmel war verstummt und alle hingen am Schnabel der Eule, damit sie auch ja kein Wort verpassten. "Es bringt also nichts, wenn wir hier sinnlos Zeit vergeuden, in denen wir uns aufregen über die Art und Weise wie wir von der Gefahr erfahren haben. Was wir jetzt tun müssen, ist einen Weg zu finden, diese Gefahr zu überstehen und sie zu bannen. Versteht ihr das?"

Von einigen Wölfen war leises, zustimmendes Geheul zu hören. Die meisten hörten jedoch noch verhalten zu. "Egal wie wir es wenden und drehen: das Rudel als solches hat jetzt schon verloren. Wir sind einfach zu wenige, um diesen kampfverrückten Wölfen entgegen zu treten. Dennoch gibt es Wege und Möglichkeiten, diese Unterzahl wettzumachen. Ich werde meinen Vorschlag einfach unterbreiten. Um zu gewinnen, müsst ihr euch mit den Bären verbünden." Ein paar Wölfe hielten entsetzt die Luft an, andere begannen sofort wieder zu flüstern.

"Du willst dich mit den Bären verbünden?", fragte Geras überrascht. "Warum nicht?", antwortete die Eule. "Die Bären sind stark und wenn ihr euch mit ihnen verbündet, könnt ihr den Bergwölfen auf jeden Fall gegenübertreten. Wenn sie erst einmal hier sind, dann wird der Kampf nicht nur die Wölfe betreffen, sondern alle anderen Tiere, die hier leben."

"Es gibt da nur ein kleines Problem", warf Peternella ein. "Wahrscheinlich ist das für viele Wölfe hier ein Grund, sich dagegen zu wehren."

"Was wäre denn ein solches Problem?", wollte Sonnensplitter wissen. "Sicherlich weißt du davon, dass Wölfe und Bären schon seit vielen Monden nicht gut aufeinander zu sprechen sind", meldete sich Jylge zu Wort. Die Wölfe verstummten, als sie das seltsame Geräusch hörten, das die Eule von sich gab. Für Endres hatte es entfernte Ähnlichkeit mit Lachen. Lachte die Eule etwa darüber? "Ich bitte euch", meinte die Eule und wedelte mit den Flügeln. "Natürlich habe ich davon gehört, dass es zwischen den Bären und den Wölfen mal einen Vorfall gab und die beiden deswegen nicht mehr miteinander sprechen. Soll das aber der Grund sein?"

Diese Frage verwirrte die Wölfe. Auch Endres verstand nicht, worauf die Eule hinaus wollte. Seit er zum Rudel gekommen war, hatte man ihm erzählt, dass die Grenze zu den Bären streng kontrolliert werden sollte, damit auch niemand sie übertrat. An den Vorfall konnte er sich nicht erinnern, falls man ihm überhaupt davon erzählt hatte. Dennoch sprachen Wölfe und Bären kein Wort mehr miteinander und feindeten sich an, sobald sie sich sahen.

"Kann mir irgendeiner von euch erzählen, warum das so ist?", fragte Sonnensplitter und ließ den Blick langsam über alle Wölfe schweifen. Keiner konnte antworten. "Wie ich sehe, will keiner von euch mir davon erzählen oder ihr könnt es nicht, weil ihr es nicht wisst", stelle er fest. "Ist es so?" Die meisten Wölfe nickten langsam.

"Ihr wisst es also nicht, macht aber trotzdem so weiter", erklärte Sonnensplitter. "Ich will euch mal etwas sagen. Was ihr hier macht, ist das Allerletzte. Mag zwischen den Bären und Wölfen vorgefallen sein, was mag, aber was habt ihr denn noch damit zu tun? Hat irgendeiner von euch das miterlebt? Nein. Es ist schon lange her, alle Bären und Wölfe, die damit zu tun haben, sind heute nicht mehr hier. Es ist zu lange her, versteht ihr? Alles, was ihr heute noch darüber wisst und das ist mitnichten viel, wurde euch von euren Vorfahren erzählt, die es wiederrum auch nur von ihren Vorfahren wissen. Im Laufe der Zeit verfälschen sich Geschichten, wenn sie immer weiter erzählt werden. Vielleicht war der Vorfall zwar für den Moment von Bedeutung, aber heute dürfte es keine Rolle spielen, oder etwa nicht? Ihr feindet euch an, hasst euch und wisst nicht einmal, warum. Das ist doch mehr als hirnrissig, das müsst ihr selbst zugeben."

Betreten sahen einige Wölfe zu Boden. Auch Endres wurde bewusst, dass keiner der Wölfe hier sagen konnte, warum das Verhältnis zu den Bären so angespannt war. Sie handelten einfach so, ohne wirklich zu wissen, weshalb eigentlich. "Bei den Bären verhält es sich doch auch nicht anders. Beide Seiten handeln gleichermaßen idiotisch. Entschuldigt bitte den Ausdruck, aber es ist so", fuhr Sonnensplitter fort. "Warum überwindet ihr nicht also mal diese Feindschaft, die eigentlich gar nicht sein müsste? Wenn ihr euch mit den Bären verbindet, dann besiegelt ihr nicht nur dieses gespaltene Verhältnis, sondern könnt auch den Bergwölfen entgegentreten. Denn nur , weil einige von euch zu viele Geschichten gehört habe, sollte eure Niederlage nicht besiegelt sein."

"Er hat Recht!", jaulte Benedictus laut und stand. "Ich stimme dir zu. Wir sollten endlich mit den Bären reden und die Sache aus der Welt schaffen." Endres bemerkte, dass Marthes bereits protestieren wollte, doch da erhoben sich andere Wölfe und jaulten ihre Zustimmung ebenfalls laut hinaus. Auch Geras, Duretta und Peternella sagten Sonnensplitter, dass sie genauso dachten. Die Eule breitete die Flügel aus und flog zurück auf den Stein, auf dem sie zuvor noch gesessen hatte.

"Ich denke, dann sind wir uns einig", sprach Jylge. "Wir müssen das Gespräch mit den Bären aufsuchen. Benedictus, Jonata, Alba und Endres werden am Ende dieser Nacht aufbrechen, um die Bären um Hilfe zu bitten. An dieser Entscheidung wird nichts mehr zu rütteln sein. Wir dürfen unsere Zeit nicht noch weiter verschwenden." Alba und Jonata kamen zu Endres und Benedictus gelaufen. "Wir dürfen schon wieder einen Spezialauftrag ausführen", freute sich Jonata. "Warum wählt er denn immer nur uns aus?", fragte sich Alba.

"Ihr habt die Bergwölfe überstanden, da dürften ein paar Bären doch kein Problem für euch darstellen", überlegte Benedictus. "Bildet euch ja nicht zu viel darauf ein", murrte Agathe im Vorbeigehen. "Ihr seid immer noch die jüngsten Wölfe unter den Kriegern, den Stand, den wir haben, müsst ihr euch erst erarbeiten." "Du bist doch nur neidisch", rief ihr Benedictus hinterher. "Lass' sie doch", meinte Endres. "Ich denke, wir sollten uns ausruhen, damit wir so schnell wie möglich bei den Bären sind." "Gute Idee", stimmten ihm Jonata und Alba zu. In diesem Moment kam Sonnensplitter angeflattert. "Und? Wie war ich?", fragte er. "Fabelhaft", antwortete Jonata. "Ich denke mal, dass wir ohne dich Flattervieh aufgeschmissen wären."

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