19- Von vorne
4. TEIL SONNENAUFGANG
19- Von vorne
Endres schlug die Augen auf. Unter sich fühlte er das Stroh und die Decke. Ruckartig setzte er sich auf und sofort begann sich alles zu drehen. Was war passiert? Er sah sich um und nachdem sich der Schwindel beruhigt hatte, wurde ihm bewusst, dass er im Kloster war. Wie war er hierhergekommen? Er stand auf und brauchte einen Moment, um seine Füße zu sortieren. Dann hastete er ans Fenster.
Es war Morgen, doch von der Sonne war nichts zu sehen. Die dicken, grauen Wolken verdeckten sie. War das Unwetter immer noch nicht abgezogen? Auf dem Hof unten konnte er große Pfützen erkennen, am Stall fehlten Dachziegeln und auch die anderen Gebäude sahen etwas mitgenommen aus. Erst nach und nach kam die Erinnerung an den gestrigen Tag wieder. Die Wölfe, der Bären, der Kampf. Ihm war schwindlig geworden, er hatte nicht mehr klar denken und keinen Schritt geradeaus machen können.
Dann war er zusammengebrochen und das letzte, an das er sich erinnerte, war der Wolf, der ihm seine Zähne in die Kehle schlug. Bei den Gedanken daran schnürte sich ihm der Hals zu und er zuckte zusammen. Vorsichtig wanderte seine Hand zu seinem Hals. Er erwartete, Blut, eine tiefe Wunde und Schmerz zu fühlen, doch da war nichts. Hektisch tastete er seinen Hals ab, aber er konnte keine Anzeichen für eine solche Verletzung finden. Was war danach passiert? Wie war der Kampf weitergegangen, vor allem, wer hatte wen besiegt?
Endres konnte sich nach dem Biss an nichts mehr erinnern, zwischen diesem Ereignis und dem Aufwachen hier im Kloster war ein dunkles, schwarzes Loch. Wer hatte ihn hergebracht und warum? Hatten die Wölfe wieder einmal einen Wolf zu den Menschen gebracht, damit sie ihm halfen? Nein, wurde ihm klar. Das konnte nicht sein. Schlagartig wurde ihm bewusst, was der Grund dafür sein musste. Er taumelte ein paar Schritte und ließ sich wieder auf das Bett fallen, wo er benommen sitzen blieb.
Es konnte keine andere Erklärung dafür geben. Er, der Wolf Endres, war tot! Einen Biss in die Kehle konnte kein Wolf überleben, vor allem nicht unter solchen Umständen wie sie während des Kampfes gewesen waren. Der Wolf Endres war tot. Diese Worte klangen so unwirklich, er konnte und wollte sie nicht glauben. Es durfte nicht wahr sein. Er dachte an die Wölfe, daran selbst einer zu sein. Wie sich seine Menschenbeine zu Wolfsbeinen wurden, seine Haut zum grauen Pelz und er auf alle viere hinuntersank.
So hatte es bis jetzt immer geklappt. Seit Jylge ihm das Kraut gegeben hatte, damals, ganz am Anfang seiner Zeit bei den Wölfen, konnte er sich von einem Menschen in einen Wolf und andersherum verwandeln, wenn er nur daran dachte. Er brauchte einfach nur vorzustellen, wie er als Wolf durch die Wälder streifte, wie die Zweige seinen Pelz berührten und er die Blätter und die Erde unter seinen Pfoten spürte. Er versuchte, sich all dieser Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen, dachte an die Jagd auf der Großen Ebene, als er mit Benedictus Gawin gerettet hatte, als er mit Jonata und Alba zur Großen Reise aufgebrochen waren und wie sie in den Bergen vor dem Steinschlag flüchteten. Nichts passierte.
Er konnte noch so krampfhaft daran denken, sich wünschen, ein Wolf zu sein, doch die Verwandlung begann nicht. Endres schloss die Augen, rief sich das Lager vor Augen, die anderen Wölfe. Jylge. Jonata. Alba. Peternella. Geras. Benedictus. Vor seinem geistigen Auge stellte er sich vor, wie Jylge auf der Anhöhe vor seiner Höhle stand und zum Rudel sprach, das zu ihm aufsah. Er stellte sich vor, wie er zwischen den Wölfen saß. Als er die Augen wieder öffnete, saß er immer noch auf dem Bett, die Hände zu Fäusten geballt, die Beine ausgestreckt. Die Fäuste lösten sich auf, er bewegte jeden Finger einzeln. Dann wippte er mit dem linken Fuß. Danach mit dem rechten Fuß. Schließlich alles zusammen. Doch alles blieb, wie es war. Endres wollte nicht wahrhaben, dass seine Hände und Füße nie wieder zu den Pfoten werden würden, die ihn durch das Reich der Wölfe getragen hatten.
Sein Gesicht würde nie wieder die feinen Zeichnungen der Wölfe tragen. Die spitzen Ohren, die aufmerksamen Augen und die schnelle Schnauze mit den scharfen Zähnen, mit denen er im Wald etlichen Beutetieren den Garaus gemacht hatte. Nie wieder würde er mit Jonata und Alba zur Jagd gehen können, nie wieder Peternella helfen, ihre Kräuter zu sortieren. Er würde nie wieder zu den Wölfen gehen können und einer von ihnen sein. Wenn er so zu den Wölfen käme, würden sie alle vor ihm davonrennen. Sie kannten ihn nicht.
Für sie war er nicht Endres, der Wolf und Rudelgefährte, sondern ein einfacher Mensch, von dem sie nicht einmal wussten, dass er den Namen Endres trug und genau der gleiche war, der auch mit ihnen verweilte. Die Vorstellung, wie die Wölfe ängstlich vor ihm flüchteten, weil sie ihn nicht erkannten, trieb ihm Tränen in die Augen. Sein Atem bebte und er konnte die Tränen nicht zurückhalten. Mit den Händen wischte er sie weg, doch sofort waren wieder neue da. Mit den Tränen verschwammen die Bilder von den Wölfen, die Erinnerungen begannen zu verblassen. Endres versuchte, sie zu behalten, sich an jede einzelne Nacht zu erinnern, die er bei den Wölfen verbracht hatte. Es wurde immer weniger, an das er sich erinnern konnte. Die Wölfe entfernten sich von ihm. Er würde nie wieder bei ihnen sein und sich nie wieder an die Zeit bei ihnen erinnern können. Nie wieder würde er ein Wolf sein können.
Endres, der Wolf, war tot. Er war ein gewöhnlicher Mensch, für den die Wölfe fortan nur noch eines waren. Die geheimnisvollen Waldbewohner, die die Menschen verängstigten und gleichzeitig faszinierten. Mehr würden die Wölfe nie wieder für ihn sein. Endres verschloss die Augen wieder und drückte das Gesicht ins Kissen. Er wollte seinen Menschenkörper nicht mehr sehen. Nicht, wenn dieser nicht mehr in der Lage war, zum Wolf zu werden. Die Wölfe waren ein wichtiger Teil seines Lebens gewesen, er war jede Nacht, manchmal auch tagelang bei ihnen gewesen.
Er vermisste sie und wusste im selben Moment doch nicht mehr, wen und was er da eigentlich vermisste. Die Wölfe waren verschwunden, es war, als wäre er nie in den Teich gefallen, der seine Verwandlung hervorgerufen hatte. Die Wölfe waren weg. Endres, der Wolf, würde nicht zurückkommen. Endres, der Wolf, war tot.
„Ich hoffe nicht, dass die Dorfbewohner schon wieder von vorne anfangen müssen", betete Bruder Siman und reichte Bruder Paulus eine Tasche hoch. Der Mönch, der auf einem Pferd saß, hing sie sich um und nickte. „Wir werden sehen. Sollte das Dorf verwüstet sein, müssen wir sie über den Winter notgedrungen wiederaufnehmen", meinte er. Die anderen Mönche stimmten ihm zu. „Ich werde mich gleich in den Vorratskeller begeben, um nachzusehen, ob dort alles trocken geblieben ist und ob wir ausreichend Vorräte haben", verkündete Bruder Vallentin. „Schließlich sollte im Falle eines Falles keiner hungern."
„Wir anderen sehen uns im Kloster um und begutachten die Schäden. Auf den ersten Blick scheint sich alles in Grenzen zu halten", vermutete Bruder Sewolt. „Dennoch müssen wir die Reparaturen so schnell wie möglich machen." „Dann werde ich euch nicht länger aufhalten und sofort zum Dorf reiten", sagte Bruder Paulus. Kurz darauf setzte sich das Pferd in Bewegung. Das Wasser und der Matsch spritzen zur Seite, wenn es die Hufe aufsetzte und die Mönche sprangen zu Seite. So schnell er konnte, ritt Bruder Paulus zum Dorf. Mit der Kutsche dauerte die Reise gut einen halben Tag.
Mit Endres war er schon einmal zum Dorf galoppiert und er hatte das schnellste Pferd gewählt. Er musste unbedingt wissen, wie es den Dorfbewohnern ging. Konnten sie sich erklären, was das Unwetter und das Erdbeben zu bedeuten hatten? Sicher nicht, wenn nicht einmal die Mönche verstanden, was da gestern vor sich gegangen war. Gedankenverloren merkte Bruder Paulus nicht, wie der Wald wieder lichter wurde. War er wirklich schon eine Stunde unterwegs gewesen? Kurz darauf tauchten die Hütten auf. Sie waren, bis auf ein paar lose Bretter, unversehrt und das ließ den Mönch hoffen.
Die meisten der Dorfbewohner traf er auf dem Dorfplatz an, die erst gar nicht mitbekamen, dass der Mönch angekommen war. „Bruder Paulus, was führt Euch zu uns?", fragte eine Frauenstimme. „Camilla, schön, dass es wenigstens eine es bemerkt", meinte Bruder Paulus lachend und stieg vom Pferd. „Ich wollte eigentlich nur sichergehen, dass es euch gut geht und dass ihr das Erdbeben überstanden habt."
„Wie Ihr seht, haben wir das", antwortete Camilla. „Sicher, den ein oder anderen Schaden haben zu beklagen, aber sehen wir es so: es ist keiner ernsthaft verletzt und wir sind alle noch am Leben." „Das ist schön", sagte Bruder Paulus. „Ihr bleibt doch noch ein bisschen?", wollte Camilla wissen. „Ich denke, mir bleibt gar nichts anderes übrig", erwiderte Bruder Paulus und deutete auf das Pferd. „Wenn ich sie jetzt wieder in dem Tempo zurückjage, wirft sie mich ab." Inzwischen hatten auch die anderen Dorfbewohner mitbekommen, dass sie Besuch hatten. Alle begrüßten den Mönch herzlich. Schließlich konnte sich Agnes zu ihm durchzukämpfen. Bruder Paulus stellte erstaunt fest, dass das Mädchen um einiges gewachsen war, seit er sie das letzte Mal gesehen hatte.
„Habt Ihr einen Moment Zeit?", fragte sie. „Natürlich. Worum geht es?", antwortete der Mönch und stellte gleich darauf seine Gegenfrage. „Um Endres. Wie geht es ihm?", wollte Agnes wissen. „Warum willst du das denn wissen?", fragte Bruder Paulus skeptisch. „Er war in den letzten Wochen öfter hier, bei mir", antwortete Agnes und warf einen hektischen Blick nach allen Seiten. „Eigentlich darf es noch keiner wissen." Der Mönch nickte verstehend. Er beschloss, was diese Sache anging, nicht weiter zu fragen. Es war Endres' Angelegenheit. „Bruder Paulus, nun sag schon, was ist mit Endres?", fragte in dem Moment eine zweite Stimme. Helena war unbemerkt zu ihnen getreten. „Helena! Schön, dich zu sehen."
Der Mönch gab Endres' Mutter die Hand. „Die Freude ist ganz meinerseits", sagte sie und seufzte. „Ach ja, da ist man mal unterwegs und kaum kommt man nach Hause, um sich etwas auszuruhen, geht hier die Welt unter." „Es ist seltsam, was hier passiert ist", meinte Bruder Paulus nachdenklich. „Keiner versteht so wirklich, was hier vor sich geht." Auch Agnes und Helena schüttelten den Kopf. „Ich habe noch nie ein Erdbeben erlebt", gab Agnes zu. „Ich dachte wirklich, dass die Welt untergeht. Es war einfach nur schrecklich." Helena nickte bestätigend. „Wie ist es euch im Kloster ergangen?"
„Wir haben auch keine großen Schäden zu beklagen. Nichts, was wir nicht in ein paar Tagen wieder repariert haben", erklärte der Mönch. „Ehrlich gesagt haben wir schon damit gerechnet, dass wir euch über den Winter aufnehmen müssen." „Ich denke, das wird nicht der Fall sein", erwiderte Helena. „Euer Angebot ist großzügig, aber in diesem Fall müssen wir es ausschlagen, weil wir wirklich alleine zurechtkommen."
Sie deutete auf den Spalt, den das Erdbeben im Dorf hinterlassen hatte. Er war knietief und so groß, dass manche Anlauf nehmen mussten, wenn sie darüber springen wollten. „Mit dem Ding da werden wir auch noch fertig. Was mit Endres ist, wissen wir aber immer noch nicht." „Endres geht es soweit gut", antwortete Bruder Paulus.
Seit die Mönche gestern das Kloster gegen das Unwetter gerüstet hatten, war der Junge ihm nicht noch einmal über den Weg gelaufen. Er hoffte, dass ihm bei den Wölfen nicht etwas passiert war, doch das konnte er Helena und Agnes schlecht erzählen. Doch die Blicke, denen die beiden ihm zuwarfen, verrieten, dass die beiden mehr wussten, als sie eigentlich sollten. Helena war Endres' Mutter und sie spürte bestimmt, wenn mit ihrem Sohn etwas nicht stimmte.
Wenn er in den letzten Wochen auch öfter hier gewesen war, hatte er mit Sicherheit auch Agnes davon erzählt. Bruder Paulus musste keine weiteren Erklärungen abgeben, stattdessen legte er das Pferd an und begann, den Männern beim Tragen der Bretter zu helfen. Agnes und Helena blieben noch an Ort und Stelle stehen. Sie sahen dem Treiben einige Momente lang zu, dann sahen sie sich an. „Sieht so aus, als würde meine zukünftige Schwiegertochter vor mir stehen?", fragte Helena lächelnd.
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