18- Die Weisen
18- Die Weisen
Aus der Luft bekam Sonnensplitter mit, wie der Fuchs auf dem Hügel um Fassung rang. So hatte er sich seinen Triumph nicht vorgestellt. Er fragte sich bestimmt, woher diese Tiere kamen und warum sie nicht auch benebelt waren. „Bären und Wölfe, hört uns an", rief eine weitere Stimme. Sonnensplitter freute sich, dass auch Kirsche ihre Rolle spielte und als die Weise Füchsin auf den Plan trat. „Wir haben euch etwas Wichtiges zu sagen", ergänzte die dritte Stimme im Bunde. Die Eule hätte in der Luft am liebsten Freudenspringe vollführt, so glücklich war sie. Sie hatten Schwarze Rinde gerade so noch aufhalten können, nicht mit zum Kampf zu ziehen.
Es war ihnen nur wenig Zeit geblieben, dem Bären den Plan zu erklären, doch es funktionierte bis jetzt. Vielleicht wendete sich ja doch noch alles zum Guten. Sonnensplitter sah vier weitere rote Punkte zwischen den grauen und braunen Pelzen. Springer und seine Welpen liefen von Wolf zu Bär und zum nächsten Tier, das benebelt am Boden lag. Sie hatten genug von dem Kraut, das sie wieder gesundmachte. Nicht mehr lange, dann würden sie gegen den wahren Feind kämpfen.So lange mussten Jonata, Kirsche und Schwarze Rinde reden.
„Vor euch steht der wahre Feind", verkündete Kirsche. „Er ist verantwortlich für all das, was ihr in letzter Zeit durchmachen musstet. Er hat eure Welpen und Jungen entführt." „Er hat euren Konflikt ausgenutzt, um selbst seinen Plan und seinen wahnwitzigen Traum zu verwirklichen", ergänzte Jonata. Sonnensplitter gurrte vergnügt. Man musste es der Wölfin lassen: sie konnte ihre Rolle wirklich ausgezeichnet spielen. „Hört nicht auf sie", kreischte der Fuchs auf dem Hügel. „Doch, hört uns an", erwiderte Schwarze Rinde. Die Stimme des Bären übertönte die des Fuchses mühelos. „Ist es nicht sinnlos, was ihr hier treibt?", fragte Kirsche. „Ihr habt so viel Blut vergossen, viele von euch sind gestorben und werden nicht wieder zurückkommen. Und warum das alles? Weil ihr nicht aus der Geschichte lernt."
Geschwind sprangen die Fuchswelpen von Wolf zu Wolf, während ihr Vater den Bären das Gegenkraut verabreichte. Die Eule sah, wie sich die ersten Tiere bereits aufrappelten, immer noch benommen und hochgradig verwirrt. „Warum kämpft ihr hier?", stelle Jonata eine Frage, die sich gleich darauf selbst beantwortete. „Vor langer Zeit haben die Wölfe schon einmal so erbittert gegen einander gekämpft. Danach schickte das Rudel der Sterne einen Waldbrand." Jonata lief zwischen den Wölfen und Bören hin und her. „Danach wurden die Wölfe gespalten", erzählte Kirsche weiter. „Die, die fortgegangen waren, wurden vom Steinschlag in den Bergen getötet, so erzählt man es sich."
„Alle anderen blieben zurück, um noch einmal von vorne zu beginnen", ergänzte Schwarze Rinde. „Sie hatten nichts, kein Lager, keine Heilkräuter und keine Beute. Dennoch schafften sie es, bis heute zu überleben", sprach Jonata. „Auch die Wölfe, die den Steinschlag überlebten, zogen fort, um anderswo ein neues Leben zu beginnen." „In beiden Fällen war es das gleiche", fuhr Kirsche fort. „Die Wölfe lebten weiter, gaben ihre Traditionen weiter, das, was die Wölfe ausmacht, doch sie hatten erkannt, dass sich etwas verändern muss. So lebten die beiden Gruppen der Wölfe weit entfernt von einander und entwickelten sich weiter, sodass neue Traditionen entstanden, die den Wölfen viel besser gefielen als die alten. Durch den Waldbrand war alles verändert."
„Was vor dem Waldbrand war, war nie wieder so", fiel Schwarze Rinde ein. „Danach wurde vieles anders. Bis heute verändert es sich und wenn in vielen vielen Monden die Ältesten Geschichten erzählen, dann werden sie zwar von dieser Schlacht berichten, aber auch, um den Welpen zu zeigen, dass die Wölfe ein zweites Mal so dumm waren, gegeneinander zu kämpfen." „Alles verändert sich ständig", erklärte Jonata. „Nichts bleibt für immer so, wie es einmal ist. Deswegen ist es hochgradig dumm, zu verlangen, dass andere, die schon so lange Zeit auf ihre eigene Art und Weise leben, plötzlich ganz anders leben. Die Zeit vor dem Waldbrand kann nicht wiederhergestellt werden und glaubt mir eins: es wird nie wieder so sein wie damals. Alles hat sich verändert, alles wird sich verändern."
„Es bringt nichts, wenn wir uns gegenseitig bekämpfen", verkündete Schwarze Rinde. „Fehler wurden immer gemacht, Fehler werden wahrscheinlich immer gemacht werden, aber das ist doch kein Grund, den anderen deswegen umbringen zu wollen. Es hat alles seinen Grund, was passiert." „Alte Zeiten nennt man deswegen alt, weil sie vorbei, schon längst in der Vergangenheit und hinter uns sind", erzählte Kirsche. „Sie haben der Veränderung Platz gemacht, der Gegenwart, dem Hier und Jetzt, die Zeit, in der wir gerade leben. Man kann den alten Zeiten nicht nachtrauern, weil sie vorbei sind, sondern man sollte mit Stolz darauf zurückblicken, aber sich gleich darauf auch wieder nach vorne wenden, um das Hier und Jetzt nicht zu verpassen."
„Es muss das letzte Mal gewesen sein, dass Wölfe wegen einer Nichtigkeit gegeneinander kämpfen", forderte Jonata. Sie hatte Nachtschatten gefunden, dem ein Fuchswelpe inzwischen auch das Gegenkraut verabreicht hatte. Er sah Jonata an, er war wieder er selbst. „Wir müssen aus der Geschichte lernen. Was einmal passiert ist, darf nicht wiederkommen. Versteht ihr? Wir müssen mit Veränderungen leben, ob sie uns gefallen oder nicht. Oder wollt ihr, dass in vielen Monden von euch erzählt wird, dass es eine Zeit gab, in der nur dumme Wölfe lebten, die nur gegeneinander kämpften, weil sie sich einander nichts gönnten?" Kirsche und Schwarze Rinde brüllten ein entschlossenes „Nein!"
„Ihr wollt nicht als dumme Wölfe in die Geschichte der Großen Ebene eingehen", sprach Jonata feierlich. „Ihr werdet die Wölfe sein, an die man sich erinnert, weil sie ihre Feindschaft abgelegt haben, um den wahren Feind zu besiegen, der sich immer noch unter uns befindet." „Der Fuchs Schleicher hat euch vergiftet", verkündete Kirsche. „Er hat die Welpen und die Jungen entführt, damit ihr gegeneinander kämpft und wenn ihr alle benommen seid, wollte er kommen und feige eurer Reich an sich reichen. Er wusste, dass er nicht gegen euch kämpfen konnte, um seinen langgehegten Wunsch erfüllen zu können. So nutzte er euren Konflikt, um euch dann, wenn ihr euch nicht wehren können, zu unterwerfen. Fortan wärt ihr Sklaven von Schleicher, dem feigen Anführer der Füchse gewesen. Das ist euer wahrer Feind. Denkt nur einen Moment nach und tut dann das richtige!"
„Nein, nein, nein", kreischte Schleicher und hüpfte auf seinem Hügel vor Wut hin und her. „Glaubt ihnen nicht. Ich bin euer Anführer, der Große Schleicher, das Reich der Füchse wird von heute an auf der Großen Ebene sein. Ihr seid abscheuliche Gestalten, ihr Wölfe und Bären, die die Große Ebene schon viel zu lange zu Unrecht ihr zu Hause nennen. Den Füchsen gebührt dieses Gebiet und ab diesem Moment, also genau jetzt, wird es für immer uns gehören. Ihr unterwerft euch hiermit dem Großen Schleicher, der ab sofort über die Große Ebene, über alle Füchse, Bären und Wölfe herrscht."
„Da ist er, euer Feind!", reif Jonata und deutete auf Schleicher. Seine Begleiter hatten nur stumm dem Schauspiel zugesehen, jetzt wussten sie nicht, wie sie reagieren sollten. „Na los, macht schon, ihr feigen Ratten", kreischte Schleicher aufgeregt. „Unterwerft diese Wölfe und Bären." Sonnensplitter schüttelte stumm den Kopf. Dieser Dummkopf würde niemals die Wölfe und Bären und schon gar nicht die Große Ebene beherrschen. Im Sturzflug sauste Sonnensplitter auf den Anführer der Füchse zu, der sich inzwischen gesetzt hatte, um mit Genugtuung zuzusehen, wie seine Füchse die Wölfe und Bären unterwerfen sollten, um das Reich einzunehmen, das er für sich beanspruchte.
Sonnensplitter flog genau auf ihn zu und nur einen Augenblick später traf sein spitzer Schnabel den Kopf des Fuchses. Schleicher hatte nicht einmal mehr genug Zeit, zu begreifen, was vor sich ging, da kippte er um. Der Große Schleicher war tot. Sonnensplitter flatterte mit blutverschmiertem Schnabel über seinem Leichnam. „Nun macht schon", feuerte er die Wölfe und Bären an. „Wenn euch eure Große Ebene lieb ist, dann vertreibt die wahren Feinde, die euch die ganze Zeit zum Narren gehalten haben!"
Die meisten Wölfe und Bären waren inzwischen wieder in der Lage, selbstständig zu denken und sich zu bewegen. Etwas schwerfällig erhoben sich die ersten, die Füchse sahen dem nur noch verwirrter zu. Jetzt, da ihr Anführer tot war, wussten sie erst recht nicht, was sie tun sollten. Als die ersten Wölfe und Bären auf sie zugestürmt kamen, traten sie die Flucht an. Die wahren Feinde wurden vertrieben und was Sonnensplitter am meisten freute, dass Jylge und Nachtschatten nebeneinander hinter zwei Füchsen herjagten. Jonata, Kirsche und Schwarze Rinde kamen zu der Eule gelaufen, die auf dem Hügel landete und sich mit dem Flügel das Blut vom Schnabel wischte.
„Jetzt würde ich mir wünschen, dass es regnen würde", meinte er. „Ich will nicht länger das Blut von diesem abscheulichen Biest in meinem Gefieder tragen." „Das ist gerade noch einmal gut gegangen", seufzte Kirsche. „Ich war so aufgeregt. Ich habe gedacht, ich schaffe das nicht." „Ihr wart großartig", lobte Sonnensplitter den Wolf, den Fuchs und den Bären. „Ihr habt den Wölfen hoffentlich klargemacht, dass sie einen Fehler begangen haben, der sich schon einmal wiederholt hat und der sich auf keinen Fall noch einmal wiederholen darf. Was mit Nachtschatten ist, das werden wir sehen, aber ich denke, wir haben es geschafft." Inzwischen waren fast alle Wölfe und Bären hinter den Füchsen her, sie vertrieben sie von der Großen Ebene. Sonnensplitter konnte es kaum fassen, dass sie die Bedrohung noch rechtzeitig erkannt und jetzt sogar besiegt hatten!
Leider konnten sie jetzt auch die toten Körper sehen. Ein Bär lag unterhalb des Hügels. Sonnensplitter flog zu ihm hinunter und stellte fest, dass er zwar noch atmete, aber ziemlich schwach war. „Kirsche, lauf und hole Peternella. Sie soll mit Geras und Marthes so viele Kräuter gegen Verletzungen mitbringen, wie nur möglich", befahl er der Füchsin, die auch sofort lossprintete. Jonata sah sich währenddessen um, ob die Wölfe erkannte, die im Gras lagen. Die Wölfe in ihrer Nähe waren alles Bergwölfe, doch dann fiel ihr Blick auf einen großen, grauen Wolf, dessen Pelz ihr nur allzu bekannt vorkam. Sie stürmte erschrocken zu ihm hin und drückte ihm die Schnauze ins Fell. Sein Körper war noch warm, aber ohne jegliches Lebenszeichen. Die Atmung hatte schon vor langer Zeit ausgesetzt, das Blut, das aus seiner Kehle geronnen war, war inzwischen getrocknet und verkrustet. Die Augen hatte er starr zum Himmel gerichtet, doch auch aus ihnen war alles Leben gewichen.
„Jonata? Was ist passiert?", fragte Sonnensplitter und kam angeflogen. Er sah den Leichnam. „Oh nein, oh nein", hauchte er und landete neben Jonata, die die Schnauze immer noch in das Fell des Wolfes gedrückt hatte. „Wir können ihm nicht mehr helfen", murmelte die Eule traurig, der nur ein Blick genügt hatte, dass sie wusste, für den Wolf würde jetzt jede Hilfe zu spät kommen. „Es ist zu spät." Behutsam strich sie mit dem Flügel über das Gesicht des Wolfes, um ihm für immer die Augen zu schließen. Jonata wimmerte und die Tränen liefen ihr aus den Augen.
„Ich weiß", winselte sie. „Ich weiß. Endres ist tot."
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