17- Der wahre Feind

17- Der wahre Feind

„Rennt in die Kirche!", schrie Camilla hysterisch. Die Dorfbewohner hatten gerade ihre Habseligkeiten vor dem Unwetter retten wollen, das von Sekunde zu Sekunde stärker wurde, als das Erdbeben losging. Sie hatten sich kaum auf ihren Füßen halten können, so stark schwankte die Erde. Die Dorfbewohner wussten nicht wohin, ihre Hütten hielten dem Beben bestimmt nicht stand. So flüchteten sie in die Kirche. Gott würde sie schützen. Nur wenige Momente später verschloss der Schmied die Tür zur Kirche. Das Unwetter sperrten sie aus, doch waren sie hier auch wirklich sicher?

Durch die Fenster konnten sie die Blitze sehen, wie sie im Abstand weniger Sekunden zuckten. Der Regen trommelte auf das Dach und Camilla betete, dass es dicht war und hielt. Wenn die Kirche jetzt auch noch einstürzte, dann waren sie alle verloren. Das Beben wollte immer noch nicht aufhören. Die Kinder klammerten sich ängstlich an ihre Mütter, das ganze Dorf hielt sich fest. Camilla hockte neben Helena, die sich mit vor Schreck geweiteten Augen umsah. Keiner konnte glauben, was passierte. Ein so schreckliches Unwetter hatten sie noch nie erlebt, ein Erdbeben schon gar nicht. „Es wird wieder alles zerstört sein", jammerte eine Frau. „Solange wir überleben, ist alles gut", erwiderte ein Mann.

„Es hört auf", rief ein anderer. Das Beben wurde stärker und sie brauchten sich nicht mehr zu sehr an den Kirchenbänken festzukrallen. Es kam den Dorfbewohnern wie eine Ewigkeit vor, bis sie sicher waren, dass der Boden sich wieder beruhigt hatte. Das Unwetter wütete dort draußen jedoch immer noch. Ein Blitz zuckte und im nächsten Moment donnerte es ohrenbetäubend. Es klirrte und schepperte, bis sich ein Regen aus Glasscherben auf die Dorfbewohner ergoss. Ein Kind find an zu schreien.

„Nicht einmal in der Kirche sind wir sicher", murmelte Camilla. „Halt die Klappe", meinte Helena. „Unwetter hat es immer gegeben. Wir werden das überleben!" „Wenn du das sagst", stimmte Camilla zögerlich zu. „Das sage ich", behauptete Helena. Keiner der Dorfbewohner wagte, sich zu bewegen, bis der Regen schwächer wurde, es nur noch schwach nieselte und der Wind abflaute. Dann öffnete man die Kirchentür. Zögerlich traten die ersten nach draußen. Der Himmel war immer noch dunkel, aber es schien, als wäre das schlimmste überstanden. Es nieselte nur noch leicht, der Wind wehte immer noch, aber man konnte ihm wieder standhalten. Camilla wollte die Zerstörung nicht sehen.

Sie hatten sich alles erst wieder mühevoll aufgebaut, wenn jetzt wieder alles zerstört war, konnten sie sich nur in ein anderes Dorf flüchten. Vor dem Winter würden sie es auf keinen Fall schaffen, das alles zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit wiederaufzubauen. „Sieh doch nur", sagte Helena zu ihrer besten Freundin, die die Augen geschlossen hatte und langsam einen Fuß vor den anderen setzte. Der freudige Ton von Helenas Stimme überraschte sie, also schlug Camilla die Augen auf. Sie konnte nicht glauben, was sie dort gerade sah.

Die Hütten standen noch, ein paar Bretter waren heruntergefallen, die Hühner liefen kreuz und quer über den Dorfplatz, aber ansonsten schien der Ort keinen großen Schaden genommen zu haben. „Was ist hier nur los", murmelte Helena verständnislos.



Bruder Paulus hatte das Beben wahrgenommen, ohne wirklich realisiert zu haben, dass alles um ihn herum hatte einstürzen können. Er war nur noch schnell in den Kräutergarten gegangen, um ein paar Pflanzen zu retten, die das Unwetter wahrscheinlich nicht überlebt hätten. Dann hatte er es nicht mehr rechtzeitig in die Kirche geschafft, als das Beben losgegangen war. Das Gebäude, das er am schnellsten erreichen konnte, war der Stall gewesen. Die Pferde hatten gescheut, die Kühe aufgeregt gemuht und die Hühner ohne Unterlassung gegackert. Sie alle spürten, dass etwas hier nicht stimmte.

Bruder Paulus wurde nicht darüber fertig, was hier gerade alles zusammengekommen war. Ein schweres Unwetter mit Regen und Sturm sowie ein Erdbeben. Das erste, was man hier bemerkt hatte. Sonst hatte er nie von einem solchen Ereignis gehört und die Bücher reichten weit zurück, die er gelesen hatte. Er wusste, dass dies nicht natürlichen Ursprungs gewesen war. Hier war etwas im Gange, was kein anderer begreifen konnte, was von einer höheren Macht ausgelöst worden war. Hatte ihnen der Herr ein Zeichen schicken wollen? Was wollte er ihnen sagen? Bruder Paulus betete, dass es Endres gutging, auch wenn er auf einmal verschwunden war. Er war sicher zu den Wölfen gelaufen.

Der Mönch konnte die Begeisterung des Jungen verstehen, doch jetzt war er sich sicher, dass bei den Wölfen etwas vorgefallen war. Warum sonst war Endres immer wieder tagelang verschwunden und hatte sich nicht blicken lassen? Die Wölfe waren ihm unheimlich wichtig, das wusste Bruder Paulus. Sonst hätte er nicht immer wieder versucht, den Wölfen zu helfen, indem er den Mönch holte oder den Wolf zu ihm gebracht hatte. Wahrscheinlich hatte der Junge nicht beabsichtigt, ihm sein Geheimnis zu offenbaren und er war nicht gerade sehr glücklich gewesen, dass Bruder Paulus es erfahren hatte.

Der Mönch würde Endres jedoch nie etwas antun, weil er nicht „normal" war. Bruder Paulus wusste, dass es viele Dinge gab, die er nicht erklären konnte, das Unwetter und das Erdbeben waren nur zwei Sachen davon gewesen. Es würde fast unmöglich sein, diese Dinge auf natürliche Art zu erklären, deswegen nahm sich der Mönch vor, es ganz bleiben zu lassen. Er musste nicht alles erklären können und wissen, warum es so und nicht anders geschehen war. Für ihn genügte es, zu wissen, dass alles aus einem gewissen Grund passierte, den er vielleicht später oder möglicherweise auch gar nicht verstehen würde. Alles hatte nun mal seinen Grund und das war gut so.



Sonnensplitter stellte erleichtert fest, dass die Weisen auf dem Weg waren. Hoffentlich zeigte das Kraut Wirkung, das Peternella ihnen verabreicht hatte. Er musste einfach darauf hoffen, dass alles so ging, wie sie es sich in Windeseile ausgedacht hatten. Sonst würden weder Jylge und seine Wölfe und Bären noch Nachtschatten und seine Bergwölfe als Sieger aus dem Kampf hervorgehen, sondern jemand ganz anderes. Dieser Jemand machte sich gerade auf den Weg zum Hügel, der in der Mitte des Kampffeldes stand, gefolgt von seinen Begleitern. Sie bahnten sich einen Weg durch die benommenen Wölfe und Bären, die immer noch nicht mitbekamen, was sich vor ihren Augen abspielte.

Sonnensplitter flog immer wieder Kreise über das Geschehen, vor Aufregung wäre ihm fast ein Gewölle hochgekommen. Er konnte es gerade noch zurückhalten. Der wahre Feind war auf der Hügelkuppe angekommen. „Wölfe und Bären!", rief er. „Hört mich an!" Seine Stimme hatte etwas Einlullendes, die Eule fühlte sich auf einmal wie damals, als sie klein gewesen war und als Küken bei ihrer Mutter gesessen hatte. Es klang als würde der wahre Feind eine Geschichte erzählen wollen und Sonnensplitter musste sich zusammenreißen, der Stimme nicht zu verfallen.

Die Wölfe und Bären, deren Sinne immer noch benebelt waren, würden ihm zuhören, wahrscheinlich würden sie das verstehen, das der Feind ihnen sagte. Sie würden gehörig werden und sich dem Feind unterwerfen. Es war von Anfang an der Plan des wahren Feindes gewesen, wie er die Wölfe und Bären steuern konnte, damit er am Ende sein Ziel erreichte. Leider hatten die Wölfe und Bären es zu spät mitbekommen, dass in unmittelbarer Nähe noch ein weiterer Feind lauerte.

„Ihr habt umsonst gekämpft", verkündete die Stimme, die vom Wind über die Große Ebene getragen wurde. „Die ganze Zeit habt ihr euch gegenseitig gegeneinander aufgehetzt. Es ist nun so weit, euch zu zeigen, wie es weitergehen wird." „Genau, es ist an der Zeit, dass ihr endlich begreift, dass so nicht weitergehen kann!" Auch Jonatas Stimme erfüllte die gesamte Große Ebene. Ein Gefühl von unbändiger Freude breitete sich in Sonnensplitter aus. Die Weise Wölfin war zurück.

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