14- Vorher
14- Vorher
"Was ist das?", fragte Hennlin. Sein Bruder kratzte sich nachdenklich am Kopf. "Ich weiß es nicht. Gestern war es aber noch nicht da", antwortete er. "Was habt ihr da?", wollte Agnes neugierig wissen. "Hier ist ein ziemlich großer Riss im Boden", erklärte Hennlin. "Der war gestern noch nicht hier." Agnes sah sich den Riss näher an. Mitten durch das Getreidefeld, von dem sie die letzen Gaben holen sollten, verlief er. Für einen Riss war er schon zu groß, immerhin war der Spalt so groß wie zwei hintereinander gesetzte Füße von Agnes, wie sie ausprobierte. Er ging ihr bis unterhalb der Knie.
"Wo kommt das nur her?", überlegte Pett. "Es sieht so aus, als ob der Boden aufreißen würde", meinte Agnes. "Sollten wir das den Erwachsenen zeigen? Es sieht nicht sehr gesund aus." Die drei liefen los, den kurzen Weg zurück ins Dorf. "Wo habt ihr das Getreide?", fragte Hennlins Vater. "Das wollten wir gerade holen, als wir etwas Seltsames entdeckt haben." Einige Dorfbewohner wurden aufmerksam und fragten, was los sei. "Seht es euch am besten selbst an", sagte Agnes.
Das Feld hatten sei bereits vor einigen Tagen abgeerntet, die Gaben jedoch zum Trocknen dort gelassen, da sie nicht alles sofort hatten mitnehmen können. Nur kurze Zeit später hatte sich das halbe Dorf um den Spalt auf dem Feld versammelt. "Das ist wirklich seltsam", sagte Camilla. "Kann sich einer erklären, woher das kommt?" Die anderen schüttelten den Kopf. "Wir sollten das restliche Getreide jetzt mitnehmen", schlug ein Mann vor. "Wenn ich mir den Himmel so angucke, droht uns ein Gewitter und dann sollte das Korn im Trocknen sein." "Das hier", meinte ein anderer, "können wir ja immer noch im Auge behalten und aufpassen, was als nächstes passiert." Agnes blieb noch auf dem Feld stehen, als die anderen Dorfbewohner bereits wieder abzogen.
Sie hockte sich hin und betrachtete die Ränder genau. Die Stoppeln und Grashalme standen noch genauso wie vorher, nur war zwischen ihnen jetzt ein größerer Abstand, als wäre er auseinander gerissen worden. Nur, wie konnte so etwas passieren? Agnes konnte es sich nicht erklären. In der Ferne hörte sie den ersten Donner grollen. Sie sah zum Wald. Irgendwo dort war Endres, den sie seit Tagen nicht mehr gesehen hatte. Ob sie das Problem mit den fremde Wölfen inzwischen geklärt hatten? Sie konnte immer noch nicht so wirklich glauben, dass das alles dort passieren sollte, wovon Endres ihr erzählt hatte, doch sie tat es ohne zu zögern, denn die vertraute Endres. Er würde sie nicht belügen, nur, um sie vielleicht damit zu beeindrucken, dass er auch ein Wolf sein konnte.
Als erneut ein Donner grollte, der dieses Mal jedoch lauter und sehr viel näher schien, lief sie auch zurück zum Dorf. Dort hatten sich auf dem Dorfplatz nahe der Kirche sämtliche Bewohner versammelt. War etwas passiert? Schnell erkannte Agnes jedoch, dass die Dorfbewohner jemanden begrüßten. Ihr fiel nur eine Person ein, oder besser gesagt zwei, die von allen so feierlich begrüßt wurden. Helena und ihr Sohn Lorentz waren wieder zum Dorf zurück gekehrt, nachdem Endres' Mutter die meiste Zeit durch das Land zog, um Menschen zu heilen. Lorentz hatte sie damals, als sie diese Entscheidung getroffen hatte, unbedingt begleiten wollen. Dennoch kamen die beiden immer wieder zurück in ihr Heimatdorf, wo sie meistens ein paar Tage blieben.
Helena begrüßte ihre beste Freundin Camilla, während Pett ihr hilfsbereit die schwere Tasche abnahm, in der sie ihre Materialien umhertrug. Agnes freute sich, dass die Dorfbewohner Helena so begrüßten, am Abend würden sich wahrscheinlich alle wieder auf dem Dorfplatz versammeln, damit sie Helena und Lorentz zuhören konnten. Lorentz wurde bereits jetzt schon von den Kindern des Dorfes belagert und auch Helena wurde schon zum Erzählen gedrängt. Sie kam viel herum und brachte nicht nur kleine Geschenke mit, sondern auch viele Geschichten und Berichte von dem, was weit vom Dorf entfernt passierte. Beim letzen Mal hatte sie von ihrem Besuch in der Stadt erzählt, die mehrere Tagesreisen vom Dorf entfernt war und die die wenigsten Dorfbewohner in ihrem Leben einmal sehen würden.
So hing an solchen Abenden das ganze Dorf an Helenas Lippen. Plötzlich bemerkte Agnes, wie der Boden unter ihr zu schwanken anfing. Auch die anderen Dorfbewohner bemerkten es, eine schrien erschrocken auf, die Kinder flüchteten sofort zu ihren Eltern. Der Boden wackelte und Agnes konnte sich kaum noch auf den Füßen halten. Ein Ruck schien durch das gesamte Dorf zu gehen, dann war es vorbei. Agnes traute ihren Augen kaum: mitten auf dem Platz vor der Kirche verlief genau so ein Spalt wie auf dem Feld. Hier war der Boden gerade vor den Augen aller Dorfbewohner aufgerissen. Helena schien nicht zu begreifen, was sie da gerade gesehen hatte, während alle anderen verwundert und immer noch geschockt den Boden betrachteten. "Kann mir jemand erklären, was bei euch vor sich geht?", fragte Helena.
"Da scheint ein Gewitter aufzuziehen", meinte Bruder Moritz. "Ein ziemlich schweres", ergänzte Bruder Jechlin. "Die Tiere sind schon ganz unruhig", verkündete Bruder Auberlin. "Wie es scheint, steht uns ein schweres Unwetter bevor."
Auch Endres hatte bemerkt, wie sich die Luft veränderte. Der Himmel war allein in der kurzen Zeit, in der er vom Lager zum Kloster gelaufen war, dunkler geworden, obwohl der Sonnenuntergang noch einige Stunden entfernt war. Er hatte die Spannung bei den Wölfen nicht mehr ausgehalten, Agathe und Anthoni waren noch nicht von den Bären zurückgekehrt, wahrscheinlich dauerte es bei den Bären noch etwas. So war er zum Kloster gelaufen, um Geras zu holen.
"Willst du den Wolf wirklich in den Wald bringen?", fragte Bruder Paulus skeptisch. "Gesundheitlich ist er wieder in Ordnung. Er sollte nur aufpassen, dass er sich seine Wunden nicht gleich wieder aufreißt." "Das werde ich ihm schon irgendwie klarmachen", grinste Endres und Bruder Paulus grinste zurück. "Sei nur bitte vorsichtig. Das Unwetter kommt bald und ich möchte nicht, dass du dich in Gefahr bringst." "Keine Sorge, ich passe schon auf", antwortete Endres. "Nur, sollte wirklich ein Unwetter aufziehen, finde ich, dass der Wolf bei den anderen sein sollte."
"Bring ihn bitte so schnell wie möglich zurück", stimme ihm Bruder Wibalt zu. "Bruder Paulus hat mir zwar versichert, dass er dem Tier unbedingt helfen musste, aber ich fürchte trotzdem um meine Hühner."
"Dann werde ich ihn bald fortbringen", verkündete Endres. Die Mönche hatten sich vor der Kirche versammelt, um den Himmel zu beobachten. Von Augenblick zu Augenblick wurde der Himmel dunkler und der Wind stärker und kühler. Die Wolken türmten sich in Sekundenschnelle auf. "Da braut sich ordentlich was zusammen", sagte Bruder Paulus."Hoffentlich zieht es weiter und verschont uns."
Endres schluckte und konnte den Blick vom Himmel nicht abwenden. Sie wollten bald kämpfen, damit die Sache mit Nachtschatten endlich geklärt war. Sollten sie etwa kämpfen, wenn um sie herum die Welt unterging? Oder war das etwa ein Zeichen? Damals, bevor die Raubritter zurück gekommen waren, hatte Endres auch eine Wolke gesehen, die so ausgehen hatte. Damals hatte eine einzelne Wolke Unheil verkündet, nur was sollte da noch kommen, wenn der Himmel fast schwarz war und die Wolken so bedrohlich brodelten?
Endres hoffte, dass sie nicht etwas übersehen hatten in all der Aufregung, was ihnen während des Kampfes zum Verhängnis werden konnte. Oder wollte das Rudel der Sterne sie davon abhalten, zu kämpfen? Endres überlegte, dass das Rudel der Sterne auch früher schon über die Wölfe bewacht hatte, also müssten sie auch zu Nachtschatten vordringen können. Sie hätten doch die Macht, ihn von ihrem Plan abzubringen! Da fiel ihm ein, dass der Anführer der Bergwölfe noch nie vom Rudel der Sterne gesprochen hatte.
Die Ahnen, zu denen die Bergwölfe aufsahen, hatte er anders genannt. Konnte das Rudel der Sterne deswegen nichts gegen ihn unternehmen? Aber die Sternenwölfe waren immer nur eine Stimme in einem Traum. Nachtschatten würde sich in seinem Wahn nicht von einer Stimmer in seinem Kopf aufhalten lassen. Er musste körperlich dazu gebracht werden, seinen Plan als gescheitert anzusehen. "Wir sollten zusehen, dass wir in Sicherheit bringen, was in Sicherheit zu bringen geht", riss ihn Bruder Sewolt aus den Gedanken. "Die Tiere müssen in die Ställe und wir sollten sämtliche Türen und Fenster verriegeln.
Danach treffen wir uns alle in der Kirche." Sofort machten sich die Mönche an die Arbeit. Sie brauchten gar nicht lange darüber nachzudenken, dass der Aufwand umsonst sein konnte. Es war offensichtlich, dass das Unwetter das Kloster und das Dorf mit voller Wucht treffen würde. Endres hoffte, dass die Dorfbewohner sich auch in Sicherheit brachten, und vor allem hoffte er, dass es Agnes gut ging.
Geras sah den Menschen zögerlich an, der ihm gegenüber stand. Dann schien er zu begreifen, dass Endres ihm nichts Böses wollte. Bruder Paulus hatte den Wolf in eine kleine Hütte gebracht, wo er sich in Ruhe erholen konnte. Endres hatte die Tür geöffnet und forderte Geras nun immer wieder mit Gesten dazu auf, zu laufen.
"Geras, ich weiß nicht, ob du mich verstehst", sprach Endres zu ihm, "aber die Wölfe brauchen dich. Wir schaffen das nicht ohne dich." Der Wolf legte den Kopf schief und sah ihn an. Er verstand nicht, wie Endres es sich gedacht hatte. "Bitte, Geras!", flehte Endres. Der Wolf würde sich nicht von ihm tragen lassen und in Wolfsgestalt konnte er ihn auch nicht überreden. Schließlich schien Geras zu begreifen und humpelte nach draußen.
Seine Vorderpfote belastete er noch nicht ganz, das Blut würde er sich auch noch einmal abwaschen müssen, aber dafür blieb jetzt keine Zeit mehr. Es ging ihm wieder besser und er konnte zu seinem Rudel zurück. Geras warf Endres noch einmal einen respektvollen Blick zu, dann lief er davon, als würde er den Weg genau kennen. Endres sah ihm nach. Ein Wolf mehr, der ihnen im Kampf zur Seite stehen würde. Würde es wirklich dazu kommen, dass sich der Kampf gegen sie wenden würde und Jonata noch einmal die Weise Wölfin geben musste, als ein weiterer Versuch, Nachtschatten zur Vernunft zu bringen.
Endres hoffte, dass es ihr gut ging und Benedictus auf sie aufpasste, obwohl er sich deswegen bestimmt keine Sorgen machen brauchte. Benedictus passte natürlich gut auf Jonata auf, da war er sich sicher. Endres lief los, um Bruder Paulus zu suchen. Er wollte sichergehen, dass die Mönche gut geschützt waren, dann würde er sich auf dem Weg zum Rudel machen. Sie würden ihn brauchen.
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