11- Das alte Unrecht
11- Das alte Unrecht
Agathe, Anthoni und Endres brachen sofort wieder auf, nachdem sie erzählt hatten, warum sie gekommen waren. Benedictus und vor allem Jonata würden jetzt noch einmal ausführlich von der Weisen Wölfin erzählen müssen. Die Bären warteten im Moment nur ungeduldig und jede Abwechslung war ihnen recht, bis sie sich endlich in den Kampf stürzen konnten. Jetzt waren sie schon fast am Lager angekommen, da blieb Agathe plötzlich wie angewurzelt stehen. „Riecht ihr das auch?", fragte sie. Anthoni und Endres schnupperten und Endres stieg sofort der ekelhafte Geruch von Nachtschatten in seine Nase.
„Die Bergwölfe sind hier!", knurrte Anthoni. „Haben wir nicht eine Waffenruhe vereinbart?", fragte Agathe. „Was wollen sie schon wieder hier?" Am meisten beunruhigte Endres es aber, dass Nachtschatten schon wieder im Lager des Rudels war, während er unterwegs war. Beschatteten die Bergwölfe sie etwa? Wussten sie doch mehr als Endres bisher angenommen hatte? „Wir können uns jetzt auf keinen Fall durch den Haupteingang des Lagers schleichen", erklärte Anthoni.
„Ich höre gar keinen Kampf", stellte Agathe fest. Auch Endres hörte weder Gejaule oder Knurren, nichts, was auf einen Kampf hinwies. Das beunruhigte ihn noch mehr. Warum war Nachtschatten hier, wenn er nicht auf einen Kampf aus war? „Wir nehmen den Hintereingang. So kommen wir ins Lager, ohne dass uns Nachtschatten am Haupteingang sieht", legte Anthoni fest.
Der Hintereingang wurde von den Wölfen nicht oft benutzt, aber jetzt war er sehr nützlich. Er lag bei Peternellas Höhle und wurde durch Gestrüpp verdeckt. Der Platz vor der Höhle der Heilerin war leer, somit fiel keinem auf, wie sich die drei Wölfe ins Lager schlichen. Endres warf vorsichtshalber einen Blick in Peternellas Höhle. Die kranken Wölfe lagen dort und sahen ihn beruhigt an, sagten jedoch keinen Ton. Stattdessen hörte Endres jetzt Nachtschattens Stimme. „Ich bin hier, um noch einmal mit euch zu reden", verkündete er. Bei dem überheblichen Ton stellten sich sofort Endres' Nackenhaare auf.
„Er scheint noch nicht lange hier zu sein", stellte Agathe fest. „Wir haben noch nichts verpasst und können notfalls eingreifen. Das ist gut." „Worüber willst du reden?", fragte Jylge. Endres schlich vorsichtig nach vorne und schaute um die Höhle herum. Am Lagereingang standen einige der Bergwölfe, Endres erkannte einige sogar wieder. Nachtschatten saß vor ihnen und sprach mit hocherhobenem Kopf zu Jylge, der nur zwei Wolfslängen von ihm stand. Es war unerhört, dass ein Anführer einem anderen keinen Respekt entgegenbrachte, aber von Nachtschatten brauchte man das nicht zu erwarten. Die anderen Wölfe hatten sich hier Jylge aufgebaut, sie würden ihren Anführer verteidigen, sollte es nötig sein.
„Ich möchte euch die Möglichkeit geben, diese Krise ohne einen blutigen Kampf zu überwinden", sprach Nachtschatten. „Wie stellst du dir das vor?", wollte Jylge wissen. „Hört mich an, Wölfe", rief Nachtschatten. Anscheinend war ihm gar nicht bewusst, dass der dem Anführer des Rudels gegenüberstand. „Ihr alle kennt die Geschichte", begann er. „Euch allen wurde sie als Welpe erzählt. Die Geschichte von früher, als hier das Rudel des Lichts, das Rudel der Dunkelheit, das Rudel des Winds, das Rudel des Wassers und das Rudel der Steine lebten. Obwohl es schon so lange her ist, verbindet uns alle." „Er tut so, als wäre er unser Freund", raunte Anthoni ihm zu. „Er hofft, dass wir darauf reinfallen."
„Dazu ist es zu spät", knurrte Endres leise. Aus der Schnauze des Wolfes dort klangen die Worte der Geschichte, die auch Endres schon gehört hatte, wie eine Verhöhnung. „Ihr alle wisst, was damals passiert ist", sprach Nachtschatten weiter und fing an, herumzulaufen. Er näherte sich Afra, die jedoch keinen Schritt zurückwich und trotzig den Kopf nach oben richtete. „Die Wölfe beneideten einander und fingen an, sich zu bekämpfen. Dann zogen unsere Vorfahren in die Berge, da das Rudel der Steine von dem Waldbrand verschont geblieben war. Dort hätten wir leben können, die Beute in den Bergen war ausreichend, man sollte es nicht meinen. Nur leider funktionierte das Zusammenleben nicht, das Rudel der Steine war nicht bereit, mit den anderen Wölfen zu teilen."
„Das ist doch total falsch. Die anderen Wölfe haben das Rudel der Steine ausgenutzt", wisperte Endres. Anthoni antwortete nicht. „Dann wurden die Wölfe von einem Steinschlag in einer Höhle eingesperrt, aus der sie nie wieder herauskamen." Nachtschatten lief weiter durch die Wölfe. Jylge ließ ihn dabei keinen Moment aus den Augen. „Das habt ihr bis heute gedacht. Nur wurden nicht alle Wölfe eingesperrt. Ein paar überlebten und zogen weiter in die Berge hinein, wo es grüne Täler gab, voller Beute, unberührt, wo sie ein gutes Leben führen konnten. Die Traditionen, die ihnen schon im Blut lagen, wurden ehrenvoll weitergeführt und an die nächste Generation weitergegeben. Lange Zeit lebte das Rudel des Himmels, wie wir uns nennen, an diesem Ort. Wir waren dem Himmel näher als hier auf der großen Ebene, aber irgendwann spürten wir, dass das nicht der Ort ist, an dem wir leben sollen. Doch nicht nur den Steinschlag hatten Wölfe überlebt, auch nach dem Waldbrand waren einige Wölfe dort zurückgeblieben. Es dauerte lange, bis sie wieder ein paar dürre Kaninchen jagen konnten, aber sie hielten aus. Irgendwann gründeten sie ein neues Rudel, das bis heute hier lebt. Eine schöne Geschichte, findet ihr nicht auch?"
„Er verachtet unsere Geschichte", knurrte Anthoni wütend. „Er ist krank im Kopf", stimmte Endres zu. „Nun, ihr seid die Nachfahren dieser Wölfe. Der Wald hat sich erholt, heute grünt und blüht hier wieder alles und die Beute ist reichlich. Ihr lebt ein schönes Leben, konntet euch die Territorien der alten Rudel einverleiben und nennt ein Reich euer Eigen, für das ihr mehrere Tage braucht, um es zu erlaufen. Ihr lebt hier auf Kosten der alten Rudel und missachtet sie. Ist euch das bewusst? Keine der alten Traditionen ist bis heute erhalten geblieben." „Das ist gut so, Nachtschatten", wagte Jylge ihn zu unterbrechen. „Nicht alles, was damals war, ist gut. Es hat seine Gründe, warum heute vieles anders ist."
„So, wie die Wölfe damals lebten, war es gut, weil sie schon unzählige Monde so lebten. Wäre es nicht gut gewesen, dann hätten die Wölfe niemals so lange überlebt", erwiderte Nachtschatten und die Wölfe bemerkten, wie er sich langsam in seine Wut hineinsteigerte. „Die Traditionen und Regeln hätten bis heute weitergelebt, wäre der Waldbrand nicht gewesen. Selbst danach hättet ihr wieder daran festhalten können, dann wäre es auch leichter gefallen, wieder Fuß zu fassen. Alles, was ihr gemacht habt, hat jedoch den alten Rudeln widersprochen. Ihr habt neue Regeln verfasst, neue Traditionen eingeführt. So lebt ihr bis heute, aber ist euch klar, dass ihr mit diesem Verhalten die Wölfe schändet, die bei dem Waldbrand und bei dem Steinschlag ums Leben gekommen sind? Ihr tretet ihre Leben in den Dreck, indem ihr alles übergeht, für was sie damals gelebt haben."
„Wir ehren die Toten von damals immer noch", erklärte Jylge bestimmt. „Es ist nicht so, dass wir vergessen haben, was damals passiert ist." „Ihr habt aber vergessen, was eure Traditionen und Regeln waren. Ihr habt vergessen, wer ihr wart", widersprach Nachtschatten grollend. „Ihr habt gelebt, wie es euch beliebte, ohne Sinn und Verstand. Eigentlich kann man es euch nicht verübeln. Nach dem Waldbrand war nichts mehr wie vorher, da ist klar, dass es für die Wölfe nicht einfach war. Doch auch das Rudel der Steine, was nicht vom Waldbrand getroffen gewesen war, verhielt sich komisch. Es war, als wäre der Brand damals nur rechtgekommen, um die alten Traditionen zu vergessen und fortan mit den Pfoten zu treten. Es war gut, dass sie umgekommen sind und nur die Wölfe, die es verdient haben, weiterleben konnten. Wir haben die alten Traditionen bewahrt und nicht vergessen, wer wir waren. Wir haben uns nie vergessen. Viele Monde hat es gedauert, bis das Rudel des Himmels groß genug war, um auf die Große Ebene zurückkehren zu können. Es gibt genug Wölfe, damit die alten Rudel wiederhergestellt werden können. Wir könnten so weitermachen wie damals. Das einzige, was daran stört, seid ihr."
Endres sah dem Leitwolf an, dass er Nachtschatten am liebsten an die Kehle springen wollte. „Ihr seid die Verräter. Ihr habt uns verraten mit euren neuen Gesetzen. Es ist an der Zeit, dass alles wieder wird wie vor dem Waldbrand. Die alten Traditionen und Gesetze mussten lange genug warten, bis sie wieder hierher, auf die Große Ebene, wo sie hingehören, zurückkehren können. Jetzt ist es soweit", verkündete Nachtschatten.
Seine Begleiter jaulten zustimmend, die anderen Wölfe konnten jedoch gerade so an sich halten, die Bergwölfe nicht anzugreifen. „Es ist verständlich, dass es für euch schwierig ist. Ihr habt lange Zeit die falschen Traditionen eurer Vorfahren gelebt, die sie euch anerzogen und an euch weitergegeben haben. Ihr wusstet es nicht besser, doch jetzt wird alles anders. Jetzt wird alles gut." Er seufzte und ließ den Blick über die anderen Wölfe schweifen. Von den feindseligen Blicken ließ er sich nicht beeindrucken.
„Ich möchte euch nicht mit einem Kamp dazu zwingen, eure falsche Identität abzulegen. Ihr sollt von selbst erkennen, dass es falsch war, wie ihr bisher gelebt habt. Ihr sollt selbst erkennen, dass ihr jetzt die Möglichkeit habt, all das auszugleichen, was eure Vorfahren verachtet haben. Ihr könnt jetzt alles richtigmachen und endlich das Leben führen, das den Wölfen der Großen Ebene gebührt. Auch, wenn eure Vorfahren immer weniger richtige Wölfe waren, ist es noch nicht zu spät. Ihr könnt immer noch richtige Wölfe werden." Noch einmal blickte er über die Wölfe. Die Feindseligkeit war schon fast zum Greifen. „Ihr habt zwei Tage Zeit, um euch zu entscheiden. Wir erwarten eure Nachricht, dass ihr euch entschieden habt, die alten Traditionen und Gesetze, die richtigen wieder anzunehmen, und eure falschen Traditionen und Gesetze hinter euch zu lassen. Ihr habt die Möglichkeit, das alte Unrecht, das zu lange Zeit hier geherrscht hat, rückgängig zu machen und endlich so zu leben, wie es das eure Ahnen und Vorfahren gewollt hätten. Sollten wir keine Nachricht von euch erhalten, werden wir euch mit Gewalt dazu zwingen. Wir werden nicht länger zulassen, dass das Unrecht noch weiter die Wölfe verdirbt und die Große Ebene schändet."
Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ das Lage, gefolgt von seinen Begleitern. Sofort brach im Rudel ein großer Tumult aus. Keiner konnte glauben, was Nachtschatten da gerade von sich gegeben hatte. „Wir haben zwei Tage. In dieser Zeit können wir einen Plan mit den Bären machen. Wir kennen uns hier besser aus als die Bergwölfe, auch wenn wir zu Unrecht hier leben." Den letzten Satz spuckte Anthoni verächtlich aus. Endres nickte nur, weil er gespannt wartete, wie der Leitwolf jetzt reagieren würde. Als Jylge sich sicher war, dass Nachtschatten und seine Begleiter verschwunden waren, drehte er sich zu seinem Rudel um.
„Egal, was passiert", rief er laut und sofort verstummten die Wölfe. „Wir werden nicht zulassen, dass Nachtschatten die Herrschaft über die Große Ebene an sich reißt. Der einzige, der hier im Unrecht ist, ist Nachtschatten! Wir werden die zwei Tage warten und ihn in dem Glauben lassen, er hätte uns davon überzeugt, dass unser Leben falsch ist. Aber das ist es nicht und das werden wir ihm auch beweisen. In zwei Tagen liefern wir Nachtschatten und allen anderen Bergwölfen eine Nachricht, die sie nie wieder vergessen werden!"
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