1- Beschränkte Welt

1. TEIL ZWIELICHT

1- Beschränkte Welt

Aufgeregtes Gemurmel erfüllte die Luft. Voller Erwartung blickten die Wölfe des Rudels zu dem Hügel, auf dem ihr Leitwolf mit seiner Gefährtin und drei weiteren Wölfen stand. Alle wussten, was jetzt geschehen würde, aber nicht alle hießen es gut. Sonst war die bevorstehende Zeremonie immer eine großgefeierte Angelegenheit, aber heute waren einige Wölfe eher bedrückt als gewilligt, neue Rudelmitglieder zu begrüßen. Das Gemurmel wurde plötzlich von der lauten, festen Stimme des Leitwolfes übertönt. Jylge wandte sich an sein Rudel, das sich vor ihm um den Teich herum versammelt hatte.

„An alle Wölfe und Wölfinnen dieses Rudels", sprach er. „Wir haben uns heute hier am Mondteich versammelt, um drei neue Rudelmitglieder zu begrüßen." Er ließ den Blick über sein Rudel schweifen und las in den Gesichtern, die ihm zugewendet waren. Einige warteten, was er als nächstes sagen würde, andere machten ein grimmiges Gesicht, aber viele Wölfe konnten ihre Freude nicht mehr verbergen. So wie Geras, Anthoni und Afra, die Mentoren der drei Wölfe, die neben ihm standen. Sie waren sichtlich stolz auf ihre Schüler, auch wenn die drei der gesamten Zeremonie in ihrem ursprünglichen Sinne einen Strich durch die Rechnung machten.

„Ich weiß, dass viele von euch nicht damit einverstanden sind, dass wir die Zeremonie heute so durchführen", sagte Jylge. „Dennoch habe ich mich dafür entschieden, es zu tun." Er wusste, dass es einige Wölfe in seinem Rudel gab, die jetzt am liebsten lauthals protestiert hätten. Die Gesetze besagten jedoch, dass bei einer Zeremonie am Mondteich nur der Leitwolf sprechen durfte und andere Wölfe nur zu Wort kamen, wenn es ihnen erlaubt wurde.

Jylge war froh, dass die Wölfe, die ihren Protest laut kundtun würden, jetzt still sein mussten. Er würde seinen Wölfen schon alles erklären. Es fiel ihm nur sehr schwer, die richtigen Worte zu finden. Die Zeit drängte. „Die Gesetze, die seit unzähligen Monden für die Wölfe der Großen Ebene gelten, besagen, dass ein Wolf, bevor er als vollwertiges Mitglied ins Rudel aufgenommen wird, das gesamte Territorium einmal umrunden muss. Das Rudel der Großen Ebene beansprucht sein Revier von den Bergen im Norden bis zum Finsterwald im Süden und vom Polterpfad im Westen bis zum Rand der Großen Ebene im Osten. Früher lebten in dieser Gegend mehrere Wolfsrudel, doch durch ein schreckliches Unglück wurden diese ausgelöscht. Die verbleibenden Wölfe haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Vergangenheit zu wahren. So muss jeder Wolf, der die Große Reise antritt, die ehemaligen Lager der alten Rudel aufsuchen und einen speziellen Gegenstand finden, den es nur um die Lager herum geben kann. Diese Gegenstände sind einmal der Beweis dafür, dass die Wölfe wirklich an den Orten waren, aber auch dafür, dass dieser Wolf die Ausdauer und die Klugheit hat, die ein Wolf braucht, um seinem Rudel so gut es geht zu dienen."

Wieder unterbrach er und überlegte, wie er die nächsten Sätze formulieren sollte. „Endres, Alba und Jonata haben die Große Reise vor dreiundzwanzig Mondaufgängen angetreten und sind nun wieder zurückgekehrt. Sie konnten mir und Peternella, unserer Heilerwölfin, keinen der zu suchenden Gegenstände vorlegen. Aus diesem Grund müsste ich sie erneut auf die Große Reise schicken, denn ohne die Gegenstände zurückzukehren, grenzt an einen Verrat an die Gesetze der Wölfe. Es gibt jedoch einen viel schwerwiegenderen Grund, warum ich das nicht tun werde. Auf ihrer Reise begegneten die drei Wölfe der Eule Sonnensplitter, die mir bezeugen konnte, dass sich das Erzählte wirklich so zugetragen hat. Ihr wisst noch nichts davon, aber vielleicht ändert ihr eure Meinung, wenn euch erklärt wird, was sich auf der Großen Reise zugetragen hat."

Die meisten Wölfe blickten jetzt angespannt und neugierig auf die jungen Wölfe, nur wenige hatten immer noch denselben grimmigen Blick drauf. Es waren die, die vor allem Endres das Leben schwermachten, weil er ein sehr spezieller Wolf war. Sie erwarteten sicherlich eine banale Kleinigkeit, mit der sich die Wölfe aufspielen wollten, doch auch sie würden es verstehen, wenn sie erst einmal zugehört hätten.

„Ich bitte nun Endres, Alba, Jonata und Sonnensplitter zu sprechen", gab er bekannt, bevor er sich in den Hintergrund zurückzog. Aus der Wolfsmenge flatterte eine Eule nach oben auf den Hügel. Die drei Wölfe blickten sie unsicher an. Die Eule bedeutete ihnen jedoch mit einer Flügelbewegung, dass sie zuerst sprechen sollten. „Unsere Große Reise hat eigentlich gut begonnen. Wir kamen schnell voran und fanden auch den ersten Gegenstand rasch. Als wir jedoch auf die Ebene des Hohen Gras gelangten, verloren wir uns durch einen unglücklichen Zufall", erklärte Endres.

„Ein unglücklicher Zufall", höhnte einer der Wölfe. „Marthes, ich darf dich daran erinnern, dass nur die Wölfe sprechen dürfen, denen ich es erlaubt habe. Ich kann mich nicht entsinnen, dir da Wort gegeben zu haben", knurrte Jylge aus dem Hintergrund. Marthes sagte nichts weiter, neigte jedoch aber auch nicht den Kopf, wie es eigentlich erwartet wurde, wenn der Leitwolf sprach. „Schließlich lernten wir Sonnensplitter kennen", fuhr Endres fort.

Alba nickte bestätigend. „Zusammen gingen wir weiter des Weges, der für die Große Reise vorgesehen war." Endres sah Alba an, dass dieser weitersprechen sollte. „Schließlich näherten wir uns den Bergen und lernten einen Wolf kennen, der uns sagte, dass sie eine verletzte Wölfin gefunden haben. Wir folgten ihm in die Berge, wo wir dann herausfanden, dass sich im alten Lager des Rudels der Steine ein neues Wolfsrudel angesiedelt hat."

Einige Wölfe jaulten entsetzt auf. Sonnensplitter unterbrach ihn. „Die Wölfe hatten Jonata gefunden und sie gepflegt. Dennoch dauerte es etliche Tage, bis sie wieder zu sich kam. In dieser Zeit lernten wir die Bergwölfe immer besser kennen. Sie hatten einen grausamen Anführer und eine strenge Rangordnung. Jeder Wolf hatte einen festen Platz im Rudel und wer gegen die Ordnung verstieß, wurde hart bestraft. Vor unseren Augen wurde ein Wolf von seinem Rudel umgebracht, weil er sich nicht an die Reihenfolge bei der Futterverteilung hielt."

Wieder gaben die Wölfe ein entsetztes Jaulen von sich. „Wir fanden heraus, dass damals nicht alle Wölfe, die in die Berge gezogen waren, auch vom Steinschlag vernichtet wurden. Einige überlebten und konnten weit weg von hier überleben. Es sind mindestens vier Mal so viele Wölfe wie in diesem Rudel und sie leben alle noch nach den Gesetzen von damals." Verunsichert sprachen die Wölfe miteinander. Was Sonnensplitter hier sagte, stellte ihre gesamte Vergangenheit auf den Kopf und das in Frage, was seit Generationen erzählt wurde.

„In den Geschichten, die ihr als Welpen hört und als Älteste weitergebt, wird nie erzählt, wie brutal diese Wölfe wirklich sind. Aber wir haben es mit eigenen Augen gesehen. Diese strenge, steife Ordnung macht sie verletzlich, müsste man meinen. Aber sie haben einen Wolf an ihrer Spitze, der zum Äußersten entschlossen ist. Sein Ziel ist es, die seit Monden herrschende ‚Unordnung', so wie er es nennt, zu beseitigen. Er möchte hier auf der Großen Ebene wieder die Zustände schaffen, wie sie damals, vor dem Waldbrand waren. Und das geschieht bald, denn seine Pläne stehen fest." Sonnensplitter trat zurück und bedeutete Jonata, dass sie jetzt erzählen sollte. „Ich lag mehrere Tage in einer Art Fiebertraum und war nicht Herrin meiner Sinne. Anscheinend muss ich immer wieder Worte vor mich hergesagt haben, die Nachtschatten, der grausame Anführer der Bergwölfe als Prophezeiung aufgefasst haben muss. Er fühlt sich in seinen Plänen bestärkt und ist sich sicher, dass er sein Ziel, die ‚alte Ordnung' auf der Großen Ebene, wiederherzustellen, erreichen wird." „Wusste er denn, dass ihr auch Wölfe der Großen Ebene seid?", rief eine Wölfin.

Diesmal wandte Jylge nichts ein. „Nein, zum Glück hat er das nicht erfahren", erkläret Sonnensplitter. „Wir haben so getan, als wären wir die Begleiter von Jonata, die eine Weise Wölfin sei, die in die Zukunft blicken könnte. So konnten wir solange dortbleiben, bis sich Jonata erholt hatte und wir weiterziehen konnten."

An dieser Stelle schaltete sich Jylge wieder ein. „Sie haben mir diese Erlebnisse genauso geschildert und ich muss sagen: ich finde sie beängstigend. Wir wissen nun, dass morgen schon die Bergwölfe vor unserem Lager stehen könnten und wir ihnen hoffnungslos unterlegen wären. Aber das darf nicht passieren. Die alte Ordnung darf nicht wiederhergestellt werden. Es wird nicht viel davon erzählt, aber das Leben der früheren Rudel war keineswegs so wie unseres heuet. Es war streng durchgeplant und voller Gesetze. Wenn man sich nicht daranhielt, wurde man streng bestraft. So wie es heute ist, ist es gut und wir müssen auf jeden Fall verhindern, dass wir uns den Bergwölfen ergeben müssen."

„Wer sagt denn, dass sich das wirklich so zugetragen hat?", wandte sich Marthes wieder ein. „Ehrlich, Jylge? Du glaubst einer Eule und drei jungen Wölfen, die nicht einmal in der Lage sind, ein paar Tannenzapfen und Steine einzusammeln? So tief bist du schon gesunken?" „So wagst du es nicht noch einmal, mit mir zu sprechen oder die Ordnung unseres Rudels in den Dreck zu ziehen", bellte Jylge wütend. Sonnensplitter breitete die Flügel aus und hob ab. Er landete genau vor Marthes. Die herumsitzenden Wölfe standen auf und wichen zurück, als würde die Eule Böses mit sich bringen.

„Du bist hier derjenige, der tiefgesunken ist, Marthes", sagte Sonnensplitter. „Wer tagein und tagaus nur dieselben Dinge macht, dieselben Dinge denkt und dieselben Dinge sagt, bei dem ist mir klar, dass er überfordert ist, wenn mal etwas passiert, was ihn aus seiner Routine herauswirft. Du bist tief gesunken, weil die nie etwas hinterfragst, aber auch keine anderen Dinge zulässt. Es zählt nur deine Meinung und diese wird auch nur abgetan, wenn es die von dir so geliebten Gesetze fordern. Du hältst die Erzählungen, die so soeben gehört hast, für dummes Geschwätz. Dabei bist du doch hier der Dumme. Was wir dir erzählen, übersteigt deinen Verstand, zwingt dich dazu, deine beschränkte, beschauliche Welt zu verlassen.

Du musst dich mit neuen Dingen anfreunden und sie akzeptieren, weil sie sich nicht aufhalten lassen. Aber dagegen sträubst du dich, weil du auf keinen Fall deine schöne, beschauliche, beschränkte Welt aus dem Gleichgewicht bringen willst. Solltest du wirklich noch einen Funken Verstand haben, dann hältst du fortan deine Schnauze, wenn es um solche wichtigen Angelegenheiten geht. Denn das, was uns bevorsteht, könnte nicht nur deine beschränkte Welt aus den Angeln heben, sondern die von uns allen." Jylge war sich sicher, dass die Eule geknurrt hätte, wenn sie in der Lage dazu gewesen wäre.

Es war eigentlich ein lustiges Bild, wie der große Marthes von einer kleinen Eule heruntergeputzt wurde. Jylge war froh, dass endlich jemand die Worte aussprach. Auch den anderen Wölfen schien so zu gehen. Schließlich senkte Marthes den Kopf und gab keinen Ton mehr von sich. Sonnensplitter flog wieder zurück auf den Hügel. „Ich denke nicht, dass der Aufnahmezeremonie noch etwas im Wege steht, Jylge", verkündete er.

***

Und damit hat Band 3 begonnen...

Wie gefällt euch das Kapitel? Ich kann euch sagen, dass in Band ziemlich viel passieren wird, also nehmt euch in Acht^^

Auf das nächste Kapitel müsst ihr jedoch etwas warten, da ich nächste Woche erstmal Prüfungen schreibe. Ich werde jedoch versuchen, zwei Mal im Monat zu updaten.

Viele Grüße

Hovi2010



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