9- Das Zeichen der Wolke

9- Das Zeichen der Wolke

Erschöpft schlich Endres über den Gang zu seiner Kammer. Er versuchte keinen Laut zu machen, doch die Holzdielen unter seinen Füßen knarrten und ächzten, als würden sie jeden Moment auseinander brechen. Doch Endres kam unbemerkt in seiner Kammer an. Seit Lorentz vor ein paar Tagen seine eigene Kammer bekommen hatte, war es seltsam leer in dem Zimmer.

Der Vollmond erhellte den Raum, sodass alles in ihm von einem bläulichen Schimmer überzogen war. Obwohl Endres müde war und sich am liebsten schlafen gelegt hätte, ging er zum Fenster. Er stütze sich auf dem Fensterbrett ab und starrte einfach nur den Mond an. Es war schon oft so gewesen, dass Endres einfach nur den Mond angeschaut hatte. Vielleicht lag es auch daran, dass er seit Kurzem ein Halbwolf war. Doch schon als Mensch hatte der Mond und die Sterne Endres fasziniert.

Sie waren fast jede Nacht da, gleichzeitig schienen sie so weit weg, so unerreichbar. Plötzlich verdunkelte sich das Zimmer. Wolken waren aufgezogen und schoben sich vor den Mond, bis sie ihn schließlich ganz verdeckten. Das Licht schien hinter der Wolke hervor und gab ihr einen geisterhaften Umriss. Endres zuckte zusammen.

Die Silhouette der Wolke sah aus, wie einer der Raubritter auf einem Pferd. Er bekam eine Gänsehaut. Nicht schon wieder, dachte er. Das kann kein weiteres Omen sein! Sollten die Raubritter vielleicht noch einmal kommen? Endres schüttelte sich, um die Bilder aus seinem Kopf zu verdrängen, die plötzlich wieder aufgetaucht waren. Die Pferde, die Schwerte, die schreienden Menschen, das Feuer...

Es war, als würde Endres mitten in der Schlacht stehen. Was würde er dafür geben, die Zeit zurück drehen zu können! Zu dem Moment, in dem die Raubritter kamen. Er hätte nicht einfach weglaufen dürfen wie ein kleiner Junge.

Er hätte Helena suchen müssen! Eine Träne lief Endres' Wange hinunter. Er vermisste seine Mutter. Vielleicht hatte sie sich retten können, vielleicht war sie auch tot. Das wäre, nein, das war seine Schuld, wenn sie tot war. Er hatte sie zurück gelassen, inmitten der Schlacht, bei der die Dorfbewohner nicht den Hauch einer Chance gehabt hatten. Seine Mutter war den Raubrittern ausgeliefert gewesen...

***

„Bruder Paulus?", fragte Endres. Bruder Paulus kniete mit dem Rücken zu Endres im Kräuterbeet, um Unkraut zu zupfen und Kräuter zu ernten. „Was gibt es?", fragte Bruder Paulus. „Darf ich dich was fragen?", erwiderte Endres. Der Mönch drehte sich zu ihm um. Er wirkte erschöpft, unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Wahrscheinlich hatte er in den letzten Tagen wenig geschlafen, da er jede freie Minute bei den Patienten verbracht hatte.

Sofort bekam Endres ein schlechtes Gewissen, mit seiner Bitte. „Sprich", forderte ihn Paulus auf. Endres wusste nicht, wie er Paulus erklären sollte, was er gesehen hatte. „Ich habe letzte Nacht etwas gesehen", sagte Endres schließlich. „Der Mond stand am Himmel, aber auf einmal zogen Wolken auf und verdeckten den Mond. Die Wolke sah aus, wie ein Raubritter." „Denkst du jetzt, dass ein weiterer Überfall bevorsteht?", vermutete Bruder Paulus. Endres nickte stumm. Vielleicht war es auch albern, was er hier erzählte.

Eine Wolke musste ja nicht gleich bedeuten, dass die Raubritter zurück kehren würden. Als er noch jünger war, hatte er oft mit Lorentz im Gras gelegen und die Wolken angeschaut. Lorentz hatte ihm immer gesagt, welche Form die Wolken hatten. Mal war es ein Pferd, ein Baum, ein Mensch, eine prächtige Burg... Endres hatte dann jedes Mal eine Geschichte daraus gemacht und sie seinem Bruder erzählt. Hielt ihn Paulus vielleicht jetzt für verrückt? Wegen einer Wolke?

„Ich kann dich verstehen", sagte Paulus und legte Endres eine Hand auf die Schulter. „Ich mach' mir immer noch Vorwürfe", murmelte Endres. „Wegen meiner Mutter." Er holte Luft. „Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist." Paulus und er schwiegen. „Wenn du willst, können wir noch einmal zum Dorf gehen", sagte Bruder Paulus schließlich. Endres sah ihn erstaunt an. „Vielleicht hilft es dir, endlich darüber hinweg zu kommen."

„Das würdest du echt tun?", fragte Endres erstaunt. Bruder Paulus nickte. „Weißt du", setzte er an. „Seit Lorentz und du bei uns seid, hat sich hier im Kloster einiges verändert. Lorentz bringt immer alle zum Lachen mit seinen Witzen und Missgeschicken und du bist uns eine große Hilfe. Wir können uns nicht vorstellen, dass ihr uns irgendwann wieder verlasst."

Er seufzte. „Sogar Vallentin mag euch, obwohl er von Lorentz manchmal ein bisschen genervt ist, weil er am liebsten bei ihm ist und in der Küche oder Brauerei hilft. Zum Glück war Lorentz bisher noch nicht betrunken", fuhr er fort. „Aber da ist noch etwas." „Das wäre?", fragte Endres. „Ich werde nicht mit dir ins Dorf gehen können", erklärte Bruder Paulus. „Du weißt, dass ich hier nicht weg kann, bis nicht alle Kranken über den Berg und wieder gesund sind." Endres nickte. „Ich werde fragen, ob jemand mit dir ins Dorf gehen kann", versprach Bruder Paulus. „Danke", sagte Endres erleichtert.

***

„Wo geht ihr hin?", rief Lorentz. „Könnt ihr mich nicht mitnehmen?" Er lief zu Endres. „Das verraten wir nicht", antwortete er. „Und nein, wir können dich auch nicht mitnehmen." „Das ist doof!", sagte Lorentz und schmollte gleich. Endres umarmte seinen kleinen Bruder noch einmal. „Du bleibst hier im Kloster", sagte Bruder Caspar. „Komm, du kannst mir helfen, die Ziegen zu melken." Lorentz ließ Endres los. „Na gut", meinte er. „Dann wollen wir mal", sagte Bruder Vallentin und stieg auf die Kutsche.

Endres kletterte zu ihm auf die Sitzbank. Der dicke Mönch nahm ziemlich viel Platz ein und fast hätte er angeboten, auf der Ladefläche der Kutsche mitzufahren. Er winkte Lorentz und den anderen Mönchen noch einmal zu, Bruder Vallentin schnalzte mit der Zunge und das Pferd setzte sich in Bewegung. Endres wendete den Blick wieder nach vorne. Schweigend fuhren er und Vallentin aus dem Kloster hinaus. Es war, wie in den letzten Tagen auch, angenehm warm. Endres lehnte sich zurück.

Er war froh, dass er noch einmal das Dorf sehen konnte. Trotzdem war er jetzt schon aufgeregt. Bruder Paulus hatte am Abend die Mönche gefragt, ob einer von ihnen bereit wäre, mit Endres noch einmal ins Dorf zu fahren. Bruder Vallentin hatte sich freiwillig gemeldet.

Wahrscheinlich war er froh, Lorentz mal eine Zeit lang nicht um sich zu haben und ihn davor zu warnen, nicht das Mehl umzustoßen oder das Brot nicht verbrennen zu lassen. Gleich am Morgen danach hatte Vallentin das Pferd vor die Kutsche gespannt und Proviant eingepackt. Eine Nacht würden sie mindestens außerhalb des Klosters verbringen müssen.

Sie fuhren an den Feldern des Klosters vorbei, die etwas außerhalb lagen. Der Weizen, der Hafer und die Gerste waren fast reif, wenn sie wieder da waren, würde die Ernte bestimmt beginnen. An den Bäumen hingen die ersten Früchte. Zwar hatte jeder Mönch im Kloster eine feste Aufgabe, aber um die Feder kümmerten sich alle. Endres war trotzdem noch nicht oft hier gewesen, da er Paulus meist im Kräutergarten geholfen hatte.

***

Bald ließen sie die Felder und Plantagen hinter sich. Soweit Endres sehen konnte, erstreckte sich der staubige Weg vor ihnen. Links lag der Wald, das Revier des Wolfrudels. Heute Nacht würde er nicht zu ihnen gehen können. Was würde Geras wohl dazusagen, wenn er nicht zum Trainieren kommen würde?

Seine erste Übungsstunde war nicht gerade glorreich verlaufen. Endres hatte nur einen Ast jagen müssen, den Geras über den Boden zog. Der Ast sollte ein Kaninchen darstellen. Wieder und wieder hatte Geras ihm die Abläufe erklärt. Endres hatte es auch sehr schnell begriffen, was er theoretisch machen musste, aber praktisch wollte es ihm nicht gelingen.

Er hatte sich noch nicht ganz an seine Pfoten gewöhnt und sprang meistens neben den Ast, was Geras vor Verzweiflung manchmal laut aufjaulen ließ. Ein bisschen beneidete er Alba und Jonata schon. Sie konnten schon jagen und wurden jetzt im Kämpfen unterrichtet. Endres tröstete sich jedoch damit, dass die beiden schon viel länger als er beim Rudel waren. Geras hatte ihm gesagt, dass er zwar noch viel üben müsse, es in naher Zukunft aber hinkriegen würde.

Es wunderte ihn, dass noch keiner der Wölfe Verdacht geschöpft hatte, weil Endres jede Nacht außerhalb des Lagers verbrachte. Die gleichmäßigen Schritte des Pferdes machten Endres müde, doch er traute sich nicht einzuschlafen. Nicht, dass er von der Bank fiel und vom Wagen überfahren wurde. Bruder Vallentin und er hatten bisher noch kein Wort miteinander gesprochen. „Bist du aufgeregt?", fragte Vallentin schließlich. Endres nickte.

„Sehr", antwortete er. „Es muss sehr schlimm gewesen sein, was euch dort geschehen ist", sagte Vallentin. Wieder nickte Endres. „Anscheinend hat Lorentz den Überfall besser verkraftet als du. So kommt es mir jedenfalls vor", fuhr der Mönch fort. „Er hat nicht viel darüber gesprochen."

„Er hat viel geweint, als ich mich mit ihm versteckt habe", meinte Endres. „Wahrscheinlich hat er gar nicht richtig verstanden, was genau passiert ist." „Vermisst er denn seine Mutter nicht?", fragte Vallentin erstaunt. „Ich weiß es nicht", antwortete Endres. „Bestimmt vermisst er sie. Genau wie ich." Vallentin nickte. „Willst du auch mal?", wechselte er das Thema. „Was?", erwiderte Endres verständnislos.

Zur Antwort hielt ihm der Mönch die Zügel hin. „Ich? Den Wagen lenken?", fragte Endres. „Ich habe das noch nie gemacht." „Dann lernst du es jetzt eben", erklärte Vallentin. „Ho!" Das Pferd blieb stehen und Endres und der Mönch tauschten die Plätze. Mit zitternden Händen nahm Endres die Zügel in die Hand. „Nicht so locker anfassen", mahnte ihn Vallentin.

Sofort umfasste Endres die Zügel fester. „Schnalz' mit der Zunge", forderte ihn Vallentin auf. Endres probierte es, doch bei dem Pferd kam es nicht an. „Noch mal", sagte Vallentin. „Wir probieren das jetzt so lange, bis du es kannst – und wenn wir heute Abend noch hier stehen!" Endres probierte es noch einmal und plötzlich setzte sich das Pferd in Bewegung. Vallentin gab Endres immer wieder Anweisungen, was er zu tun hatte.

Endres war über sich selbst erstaunt. Hätte ihm gestern noch jemand erzählt, dass er einmal ein Pferd steuern würde, hätte er ihn für verrückt erklärt. So schwer war es gar nicht, wie er schließlich feststelle. Nur ein oder zwei Mal musste Vallentin eingreifen, sonst wäre das Pferd in die falsche Richtung gelaufen. Sonst unterhielten sie sich über alles Mögliche. Über das Kloster, über die bevorstehende Ernte, über die Stadt, die nur ein paar Stunden vom Kloster entfernt lag und schließlich über Bruder Sewolt.

Endres hatte sich schon immer gefragt, warum der Mönch den ganzen Tag in der Kirche verbrachte, auch wenn es keine Zeit zum Beten war. Er tat immer sehr geheimnisvoll. „Ich hoffe, du verrätst mich nicht", sagte Vallentin leise zu Endres.

„Natürlich nicht", versprach er. Bruder Vallentin sah sich nach allen Seiten um, als ob er vermutete, dass hinter dem nächsten Baum jemand stehen würde und sie belauschte. „Unser Kloster besteht schon sehr lange", begann Vallentin zu erzählen. „Aus Angst vor Raubrittern, müssen die Mönche, die das Kloster gegründet haben, den ganzen Schmuck und das Gold aus der Kirche versteckt. Sie legten eine Schatzkarte an und versteckten diese auch gut. So gut, dass sie in Vergessenheit geriet. Vor etwa einem Jahr haben wir sie dann gefunden. Etwa hundert Jahre muss sie in der Zwischendecke zwischen Stall und Heuboden versteckt gewesen sein."

„Wie habt ihr sie dann gefunden?", wollte Endres wissen. Bruder Vallentin räusperte sich. Endres sah, wie er rot wurde, was aber auch von der Sonne kommen konnte. „Ich... ich bin eingebrochen", sagte er schließlich und schluckte. „Seitdem habe ich schon viel abgenommen. So etwas sollte mir nicht noch einmal passieren." Endres musste es sich verkneifen, los zu prusten. „Lache du nur", meinte Vallentin eingeschnappt. „Verzeihung", erwiderte Endres. „War nicht so gemeint. Vielleicht hättet ihr auf diese Weise noch ganz andere Dinge gefunden. Wie ging es dann weiter?"

„Bruder Paulus, Bruder Sewolt und ich haben die Karte, wie bereits gesagt, gefunden. Wir haben beschlossen, den anderen Mönchen nichts davon zu erzählen", fuhr Bruder Vallentin fort. „Laut der Karte sollte sich die Truhe mit den Kostbarkeiten unter der Kirche befinden. Seitdem sucht Bruder Sewolt und hat schon einen Tunnel angelegt. Wir haben gesagt, er solle vorsichtig sein, damit die Kirche nicht einstürzt. Doch er gräbt immer weiter und hat dennoch nichts gefunden."

„Und warum tut er dann so geheimnisvoll?", fragte Endres. „Das ist eine lange Geschichte", antwortete Bruder Vallentin ausweichend. „Wir haben ja jetzt Zeit", meinte Endres. „Ich... wir aus dem Kloster... wir reden nicht gerne darüber", sagte Bruder Vallentin leise. „Von mir aus lenk den Wagen an die Seite. Wir müssen Pause machen, mein Magen hat sich schon zu Wort gemeldet."


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