5- Die Welt der Wölfe
5-Die Welt der Wölfe
„Seit langer Zeit ist hier unser Lager. Die Höhlen wurden vor Jahrtausenden vom Fluss aus dem Fels gewaschen. Damals war es noch ein reißender Fluss gewesen, der viel breiter war. Doch heute ist es nur noch ein kleiner Bach, den ein ausgewachsener Wolf leicht überqueren kann. Auch sonst hat sich viel verändert. Als der Fluss weg war, sind hier die Wälder gewachsen, die uns ernähren. Doch mit ihm sind auch andere Tiere hierher gekommen und nicht alle sind so klein, dass wir mit ihnen fertig werden. Es gibt Wildschweine und Bären. Seit ein paar Monden herrscht Frieden, aber wer weiß was die sich noch alles ausdenken. Meine Schwester ist bei einem Überfall der Bären gestorben." Endres Augen weiteten sich vor Schreck. Es war ihm schon unheimlich, dass er jetzt plötzlich ein Wolf war, aber hier in direkter Nachbarschaft zu Bären zu leben? "Doch wir haben uns seitdem besser organisiert", erzähle Jylge weiter.
"Wir haben mit den Bären verhandelt, obwohl es bei denen nicht weit her ist mit dem Denken, und haben den Wald in drei Gebiete aufgeteilt. Ein großer Teil gehört uns, den Wölfen. Es reicht im Norden von den ersten Hügeln der großen Ebene bis in den Süden, wo der Wald endet. Im Westen ist das Schwarze Dorf unsere Grenze, das ist nicht weit von hier, bis die ersten großen Berge anfangen erstreckt sich unser Revier. Das ist so groß, dass es nicht möglich ist, es an einem Tag zu durchqueren."
"Und was ist mit dem Revier der Bären?", wollte Endres wissen. "Das ist auf der anderen Seite des Polterwegs", antwortete Jylge. "Deshalb haben wir uns auch aufgeteilt. Es gibt Wölfe, die jagen, während andere hier im Lager die Stellung halten und wieder andere, die unsere Grenzen kontrollieren, die in direkter Nachbarschaft mit den Bären liegen." "Was habt ihr mit dem dritten Gebiet gemacht", fragte Endres.
"Dieses kleine Territorium nennen wir Düsterwald. Durch die dichten Nadelbäume dringt kaum ein Sonnenstrahl auf den Erdboden und außer ein paar Käfern leben dort keine Tiere. Deshalb wollten weder die Wölfe noch die Bären es haben und somit gehört es niemandem", erklärte Jylge. Plötzlich wechselte er das Thema. „Wirst du nun bei uns bleiben oder willst du uns wieder verlassen, um bei den Menschen zu bleiben?"
Endres wusste nicht, was er antworten sollte. Die Frage war unerwartet. So unwirklich es war, auf einmal ein Wolf zu sein, wollte er doch mehr erfahren über ihre Welt. Es hatte etwas Faszinierendes an sich. Im Kloster wäre er auch gerne geblieben. Die Mönche waren sehr nett und in Paulus hatte er bereits einen Freund gefunden. Außerdem war dort sein Bruder. Endres sah aus der Höhle hinaus in den Sternenhimmel und hoffte, das dort die Antwort stehen würde.
„Es fällt dir schwer, dich zu entscheiden, nicht?", fragte Jylge. „Das kann ich verstehen." Seine Stimme verriet, dass er die Antwort bereits wusste, doch sie nicht preisgeben wollte. „Du weißt etwas, was du mir aber nicht verraten willst", stellte Endres fest. „In der Tat, so ist es", meinte Jylge gleichgültig. „Wenn du willst, führe ich dich im Lager herum."
Endres stimmte zu. Die beiden Wölfe traten wieder hinaus in das Lager. Nickles, Pawll und Ottin kehrten wieder zurück. Sie hatten drei Kaninchen und mehrere Mäuse gefangen. „Wollen wir etwas essen?", fragte Jylge. Endres hatte vorher noch nie Maus gegessen. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein kleines Nagetier mit Haut und Fell schmecken konnte.
„Du hast als Mensch noch nie etwas Derartiges gegessen", stellte Jylge belustigt fest. „Aber keine Sorge, es wird dir schmecken." Er schob ihm eine von den Mäusen hin. „Probier schon", drängte er Endres. Endres nahm allen Mut zusammen und biss in die Maus hinein. Im ersten Moment schüttelte er sich und kaute sehr langsam, bevor er die Maus herunterschluckte und sich noch einmal schüttelte.
Jylge bellte und Endres stellte fest, dass er sich vor Lachen schüttelte. „Ich habe noch nie einen Wolf gesehen, der sich so überwinden muss, eine Maus zu fressen", japste er. Endres wusste, dass er sich blöd angestellt hatte. Tapfer versuchte er den zweiten Bissen. Es schmeckte nicht so schlecht und als die ganze Maus verputzt war, musste er feststellen, dass es doch genießbar war.
Jylge hatte seine Maus mit wenigen Bissen verschlungen. „Wollten wir uns nicht das Lager ansehen?", erinnerte ihn Endres. „Du willst nur schnell vom Essen wegkommen", schmunzelte Jylge. „Aber los. Falls es dich beruhigt: bei uns gibt es nicht nur Mäuse und Kaninchen."
Als erstes besichtigten sie den Bau der anderen Wölfe. Er war am geräumigsten, aber zu dieser Zeit fast leer. Nur zwei Wölfe kauerten in ihren Nestern und schliefen. „Das ist die Höhle der Jungwölfe", erklärte er. „Aber ich habe gedacht, von euren Welpen hat noch nie einer überlebt", sagte Endres. „Das stimmt", antwortete Jylge. „Die beiden sind vor mehreren Monden zu uns gekommen. Vorher haben sie in einem Rudel weit weg von hier gelebt. Doch sie sind von dort verstoßen wurden, weil sie nicht die Welpen der Leitwölfe waren." Endres sah Jylge erstaunt an. „
Sie kamen völlig abgemagert zu uns", sagte er. „Alba bekam Fieber und murmelte immer davon, dass der Leitwolf die beiden hat verfolgen lassen, um sie umzubringen. Zum Glück hat er sich davon erholt und nun lebt er mit seiner Schwester Jonata hier bei uns." Jonata hob den Kopf. „Jylge?", fragte sie verschlafen. „Ja, ich bin's", antwortete der Leitwolf. „Wen hast du da mitgebracht?", wollte Alba wissen. Plötzlich knurrte er. „Der Fremde riecht nach Mensch!"
„Das liegt daran, dass er von Menschen gefangen genommen wurde. Er konnte sich jedoch befreien und ist nun zu uns gekommen", beruhigte Jylge ihn. „Wenn Endres bleibt, wird er mit euch trainieren und mit euch die Große Reise machen." „Was ist die Große Reise?", fragte Endres. „Alles zu seiner Zeit", antwortete Jylge. „So, ihr beiden. Ich glaube es ist Zeit für euer Training", sagte er. „Affra und Anthoni werden heute mit euch üben." Die beiden Wölfe standen auf und gingen nach draußen. „Man sieht sich", sagte Alba. Das war wohl eher an Endres als an Jylge gerichtet.
Die beiden gingen weiter, zur Höhle von Peternella. „Ah, ihr seid es", sagte die Heilwölfin. „Braucht ihr etwas?" „Nein, ich zeige Endres nur gerade unser Lager", antwortete Jylge. „Sortierst du gerade Kräuter?", wollte Endres wissen. Peternella nickte. „Das ist Beinwell, oder? Und das daneben ist Kamille", sagte Endres. Peternella sah ihn erstaunt an. „Da hast du Recht", sagte sie erstaunt. „Woher kennst du diese Pflanzen?"
„Ich... äh", stotterte Endres. Er konnte doch nicht verraten, dass er das von den Menschen gelernt hatte und vielleicht mehr wusste, als Peternella selber. „Meine Mutter hat mir das beigebracht", meinte Endres, was ja auch stimmte. Nur, dass seine Mutter ein Mensch war. Peternella nickte nur. „Falls einer von den Welpen etwas braucht, musst du mich rufen", wechselte sie das Thema. „Und wenn ihr jetzt weitergeht, könnt ihr das mit zu Georig und Fronicka nehmen. Die beiden haben über Gelenkschmerzen geklagt."
Endres nickte und nahm die Blätter, die Peternella zu ihm schob. Auf dem Weg zur Höhle der Ältesten stellte Endres eine Frage, die er schon seit einiger Zeit stellen wollte. Eigentlich schon seit dem Moment, als er die vielen Wölfe am See erblickt hatte. „Warum ist das Rudel so groß?", fragte er. „Ich meine, das können doch nicht alles Nachkommen der Leitwölfe sein, oder?"
„Nein", antwortete Jylge. „Dann müssten alle Wölfe meine Brüder und Schwestern sein und das geht gar nicht." „Was sollen deine Brüder und Schwestern sein?", krächzte eine Stimme aus der Höhle der Ältesten. „Endres möchte nur wissen, warum das Rudel so groß ist. Er kennt unsere Geschichte noch nicht", erklärte Jylge. Fronicka nickte. Endres legte die Blätter ab. „Peternella sagt, ihr sollte das nehmen. Es hilft gegen eure Gelenkschmerzen", sagte er. „Nicht schon wieder das eklige Zeug", murrte Georig. „Da fühlt man sich ja noch schlechter."
„Ihr müsst es aber einnehmen, sonst werden eure Gelenkschmerzen schlimmer", erwiderte Endres und traf dabei genau den Ton, in dem Helena immer zu manch widerspenstigen Patienten gesprochen hatte, wenn er oder sie nicht die Medizin einnehmen wollte. Georig und Fronicka stutzen. „Na, wenn du meinst", murmelte Fronicka und schluckte das erste Blatt hinunter. „Sieh einer an", flüsterte Jylge anscheinend zu sich selbst. „Peternella muss Volksreden halten, damit die beiden ihre Medizin einnehmen und dieser junge Wolf schlägt einen schärferen Ton an, schon tanzen die beiden nach seiner Pfeife."
„Zurück zu Endres' Frage", meinte Georig kauend. Er schluckte das letzte Blatt hinunter und schüttelte sich kurz. Endres wunderte sich, warum die beiden nicht fragten, woher er kommt und warum er beim Rudel war. Schließlich konnte er sich nicht daran erinnern, die beiden am See gesehen zu haben. Jylge erklärte kurz, was Endres wissen wollte. Fronicka lachte. „Das erinnert mich an die Geschichte, die mir die Ältesten immer erzählt haben und jetzt erzähle ich sie als Älteste weiter." „Kannst du sie erzählen?", fragte Endres.
Jylge hatte einen flüchtigen Blick nach draußen geworfen. Eine kleine Linie Licht zeigte sich über dem Horizont, so dünn, dass sie eigentlich kaum sichtbar war. „Ein anderes Mal", sagte er schnell. „Endres, komm mit." Eilig lief der Leitwolf hinaus, Endres folgte ihm. Fronicka und Georig sahen sich an und schüttelten die Köpfe. „Die Jugend von heute soll einer verstehen", meinte Fronicka. Jylge und Endres liefen zum Ausgang des Lagers.
„Du musst jetzt gehen", meinte Jylge. „Warum?", erwiderte Endres. „Ich würde so gerne noch bleiben." Jylge seufzte. „Es gibt etwas, was ich dir vorhin nicht gesagt habe", meinte er. „Wenn die Sonne über den Horizont steigt, wirst du wieder zum Menschen. Aber jede Nacht, nachdem die Sonne untergegangen ist, kommst du zu uns, als Wolf. Deshalb möchte ich nicht, dass die anderen dich in Menschengestakt sehen. Okay?"
„Ja, ich habe verstanden", sagte Endres. „Also komme ich heute Abend wieder." Jylge nickte. Endres neigte den Kopf und ging aus dem Lager. Langsam trottete er den Pfad entlang und hoffte, dass dieser ihn zurück auf die große Ebene führen würde. „Wo geht er hin?", fragte Alba, der eben mit Affra zurück gekommen war. Jylge antwortete nicht. „Kommt Endres wieder?", wollte Jonata wissen. „Er wird wiederkommen", versprach Jylge.
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